Der Mythos der "Weightless Economy"

in (16.02.2001)

In der Ökonomie wie auch auf anderen Gebieten scheint sich ein Konsens herauszubilden, dass etwas ganz und gar Neues geschieht: dass die uns bekannte Welt gänzlich entmaterialisiert wird ...

"Aufhebung der Entfernung" (death of distance), "schwerelose Welt" (weightless world), "vernetzte Wirtschaft", "wissensbasierte Ökonomie", "virtuelle Organisation" -- all diese Formeln sind den Titeln von Büchern entnommen, die in den sechs Monaten vor Abfassung dieses Aufsatzes (im Frühjahr 1998) erschienen sind.1 Man hätte sie vielfältig multiplizieren können: Adjektive oder Präfixe wie "virtuell", "Cyber-", "Tele-", "vernetzt" oder einfach "E-" lassen sich offenbar austauschbar einer nahezu unendlichen Reihe abstrakter Substantive voranstellen. Man probiere es mit "Unternehmen", "Arbeit", "Banking", "Handel" oder "Geschäft", und muss dabei nicht einmal das Gebiet des Wirtschaftslebens verlassen (obwohl es auf anderen Gebieten genauso gut funktioniert, zum Beispiel mit "Kultur", "Politik", "Sex", "Demokratie", "Beziehung", "Drama", "Community", "Kunst", "Gesellschaft" oder "Verbrechen").

In der Ökonomie wie auch auf anderen Gebieten scheint sich ein Konsens herauszubilden, dass etwas ganz und gar Neues geschieht: dass die uns bekannte Welt gänzlich entmaterialisiert wird (oder, wie Marx es ausdrückt, "alles Stehende und Ständische verdampft") und dadurch gewissermaßen alle Begriffe in Frage gestellt werden, mit denen wir uns die alte materielle Welt verständlich machen. Wir bekommen ein paradoxes Universum dargeboten: enträumlichte Geographie, entzeitlichte Geschichte, gewichtslose Werte und bargeldlosen Zahlungsverkehr. Eine Ökonomie, wie sie bestens in den Rahmen baudrillardscher Philosophie passt, wo die gesamte Realität zum Simulakrum geworden und menschliches Handeln, so man noch davon sprechen kann, auf das Hantieren mit Abstraktionen reduziert ist. Doch waren diese Bücher nicht als Beiträge zur postmodernen Kulturtheorie gedacht; das liegt ihnen völlig fern. Auf dem leuchtend blauen Schutzumschlag von Frances Cairncross' Death of Distance prangt eine glühende Empfehlung von Rupert Murdoch, und Diane Coyles Weightless World und trägt auf der hinteren Umschlagseite das Plazet von Mervyn King, dem Vorstandschef der Bank von England. Es sind keine akademischen Untersuchungen über das Wesen der Dinge, sondern praxisbezogene Handbücher für Manager und Politiker. Es bildet sich eine neue Orthodoxie heraus, eine Lehre, nach der es selbstverständlich wird, dass "Wissen" die einzige Quelle des Werts ist, Arbeit kontingent und verschiebbar, die Globalisierung unaufhaltsam, jeder Widerstand infolgedessen zwecklos und das Festhalten an den Bedürfnissen des menschlichen Körper im Hier-und-Jetzt hoffnungslos altmodisch. Die Konsequenzen des damit sich herausbildenden common sense sind ungeheuer. Diese Begriffe, in denen sich so verschiedene Themen wie Steuern, Arbeitsgesetze, Sozialausgaben, Privatrecht und Umweltpolitik modellieren lassen, dienen dazu, eine neue politische Tagesordnung zu legitimieren und die Voraussetzungen für eine neue Phase der Kapitalakkumulation zu schaffen.

Mir geht es in diesem Aufsatz darum, den Cyberspace wieder mit Fleisch und Blut zu versehen: Um den Versuch, die materiellen Bestandteile dieser virtuellen Welt sichtbar zu machen. Dabei befinde ich mich in einer recht seltsamen Position. Nachdem ich zwei Jahrzehnte lang dafür plädiert habe, den Bürotätigkeiten und der größeren Mobilität, die Informations- und Kommunikationstechnologien auf diesem Sektor mit sich gebracht haben, in der Wirtschafts- und Gesellschaftsanalyse größere Bedeutung beizumessen, scheint es, gelinde gesagt, abwegig, das neue Interesse an diesem Thema damit zu beantworten, dass ich frage: "Sind es tatsächlich so große Veränderungen? Wie >entmaterialisiertWissen

Wenn man solche Fragen angeht, muss man eine Gratwanderung vornehmen. Einerseits ist es notwendig, die Behauptungen der "New Economy"-Propagandisten empirisch zu überprüfen. Man muss, anders gesagt, vor dem Ausschütten des Bades auf Kinder achten. Anderseits gilt es die entgegengesetzte Gefahr zu vermeiden, dass man nämlich annimmt, es hätte sich gar nichts geändert: Etwas würde also überhaupt nicht existieren, nur weil es mit dem vorhandenen Instrumentarium nicht exakt auszumachen ist.2 In der Literatur der Weightless-Economy-School tauchen drei verschiedene Themen auf: die Entmaterialisierung-These, das "Produktivitäts-Paradox" und die Globalisierung. Sie gilt es im Folgenden zu diskutieren.

I.

Zu den führenden Propagandisten der Entmaterialisierungs-These gehört Dennis Quah (E-Mail-Adresse: weightlesseconomy.com), ein in Harvard ausgebildeter Ökonometrie-Professor, der an der London School of Economics lehrt. Seine zentrale These ist, dass sich die Wirtschaft zunehmend entmaterialisiert, indem immaterielle Dienstleistungen als Hauptquellen des Werts an die Stelle materieller Güter treten. Er unterscheidet zwei Aspekte der Entmaterialisierung, die für ihn makroökonomische Bedeutung haben: "Der erste ist einfach die zunehmende Schwerelosigkeit durch das Anwachsen der Dienstleistungen -- im Gegensatz etwa zur Fertigung oder zur Industrie generell. Der zweite ist die Entmaterialisierung aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Informationstechnologien." (Quah 1997a, 49)

Betrachten wir zunächst das Anwachsen der Dienstleistungen. Spätestens seit Daniel Bell (1973) den Begriff der "nachindustriellen Gesellschaft" geprägt hat, war es in der entsprechenden Literatur größtenteils ein Glaubenssatz, dass der Anstieg der Dienstleistungen auf Kosten von Landwirtschaft und Industrie eine -- wenn nicht die -- Haupttendenz des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Gemessen wird dieser Anstieg üblicherweise an der Anzahl der Beschäftigten, und er lässt sich leicht an Schaubildern illustrieren, deren Daten für gewöhnlich aus Volkszählungen stammen und in denen die Beschäftigungskurve im Dienstleistungssektor von Anfang bis Ende des Jahrhunderts steil nach oben geht, während die Beschäftigung in Landwirtschaft und Industrie dramatisch absinkt. Bevor wir auf die Beschäftigung im Dienstleistungsgewerbe näher eingehen, sollten wir einige Probleme festhalten, die diese Darstellung aufwirft.

Zunächst einmal kann das gängige wirtschaftsstatistische Einteilungsschema, nach dem die Arbeiter den einzelnen Sektoren zugeordnet werden, den bedeutsamen Veränderungen nicht Rechnung tragen, die mit dem technologischen Wandel und der Neustrukturierung wirtschaftlicher Aktivität organisatorisch wie auch hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse einhergehen. So lässt sich der "Rückgang" der Beschäftigung in der Landwirtschaft -- ersichtlich aus der Anzahl derjenigen, die tatsächlich auf dem Land arbeiten -- nur demonstrieren, wenn die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Vermarktung der Nahrungsmittelproduktion nicht ins Bild kommt. Würde man beispielsweise all jene, die mit der Herstellung von Traktoren, Düngemitteln und Pestiziden beschäftigt sind, und all jene, die Nahrungsmittel verpacken, zubereiten und mit ihrer Distribution in Supermärkten beschäftigt sind, zu den landwirtschaftlichen Arbeitskräften hinzurechnen, ginge die Kurve viel weniger steil nach oben. Desgleichen wird der Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Fertigungsindustrie üblicherweise auf nationaler Ebene oder anhand einer bestimmten Staatengruppe (zum Beispiel der OECD-, NAFTA- oder EU-Länder) demonstriert. Damit lässt sich aber derjenigen Industriearbeit nicht Rechnung tragen, die einfach auf andere Teile des Globus verlagert wurde (obwohl sie möglicherweise von denselben Firmen vergeben wird, die in denselben Ländern residieren und dort ihre Dienstleistungen unterhalten). Und schließlich lässt sich das Wachstum der Dienstleistungen nur dadurch überzeugend demonstrieren, dass man die Hausangestellten weglässt, deren Anzahl beständig abgenommen hat, während die Beschäftigung in anderen Dienstleistungsformen zunahm. So entfielen im Jahre 1901 in Großbritannien 40 Prozent aller weiblichen Beschäftigungsverhältnisse auf häusliche Dienstleistungen, während es 1971 nur noch 5,2 Prozent waren (Lee 1979).

Daneben gibt es grundlegendere Schwierigkeiten. Jede Untersuchung, die sich auf Datensammlungen über "Dienstleistungstätigkeiten" stützt, ob sie nun aus Beschäftigungsstatistiken, Output-Daten oder anderen Quellen stammen, wirft ganz unterschiedliche Typen von wirtschaftlicher Aktivität in einen Topf, darunter auch gegensätzliche oder widersprüchliche Tendenzen. Man mag zwar in einigen Fällen eine Entmaterialisierung ausmachen können, aber ich behaupte, dass in anderen Fällen genau die entgegengesetzte Tendenz auftritt, und dass die Verwandlung von Dienstleistungen in materielle Produkte im Kapitalismus auf lange Sicht die vorherrschende Tendenz ist.

Der Sammelbegriff der "Dienstleistungen", den Quah und andere ihren Berechnungen zugrundelegen, lässt sich in drei Typen von Tätigkeiten zerlegen. Der erste besteht wesentlich aus der Sozialisierung all jener Arbeiten, die zu Hause oder unter Nachbarn auch unbezahlt verrichtet werden. Dazu gehört die Gesundheitsvorsorge, die Kinderbetreuung, soziale Arbeit, Putzen, Gastronomie und eine Reihe von persönlichen Dienstleistungen wie Haareschneiden. Dazu gehört auch das, was man "öffentliche Haushaltsführung" nennen könnte, wie die Straßenreinigung, Müllabfuhr oder die Pflege von Grünanlagen. Sogar die Unterhaltungs- und Sexindustrie lässt sich dieser Kategorie zurechnen.

Ob die Resultate dieser Aktivitäten oder der Beschäftigung in diesen Sektoren in der Wirtschaftsstatistik auftauchen, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, so von der demographischen Struktur, vom politischen Willen zur Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, vom Anteil der Frauenarbeit und, mit einem Begriff von Esping-Andersson (1990), von der Marktunabhängigkeit (de-commodification), nämlich davon, "inwieweit Einzelpersonen oder Familien unabhängig vom Markt einen gesellschaftlich annehmbaren Lebensstandard aufrechterhalten können". Diese Tätigkeiten tauchen in den öffentlichen Statistiken auf, sobald sie sozialisiert werden und in die Geldwirtschaft eingehen: wenn man beispielsweise ins Konzert gehen kann statt am häuslichen Klavier zu singen, ein Baby ins Krankenhaus bringt oder sich im Schönheitssalon pediküren lässt. Umgekehrt werden sie wieder unsichtbar, wenn sie nicht am Markt verfügbar sind. Würde beispielsweise politisch entschieden, die staatliche Schulspeisung zu streichen, dann würde die Anzahl der Beschäftigten in den Schulkantinen zurückgehen, womit aber die Arbeit der Zubereitung solcher Mahlzeiten nicht notwendigerweise verschwindet; sie würde aller Wahrscheinlichkeit nach wieder der Sphäre der unbezahlten Hausarbeit anheimfallen.

Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, dass hier nicht bloß die Grenze zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit durchlässig und beweglich wird; diese Art von "Dienstleistung" tendiert auch dazu, die Form dinglicher Waren anzunehmen (vgl. Huws 1982, 1985, 1988, 1991). So geht der historische Fortschritt vom häuslichen Wäschewaschen als einer entweder unbezahlten oder von Dienstboten verrichteten Tätigkeit über die Einrichtung gewerbsmäßiger Wäschereien (mit entsprechenden "Dienstleistungs"-Arbeitern) wieder nach Hause zurück, wo diese Tätigkeit erneut unbezahlt ausgeübt wird, doch nun unter Einsatz einer proliferierenden Vielzahl von neuen Waren wie Waschmaschinen, Waschmitteln, Trockenautomaten, Weichspülern und Dampfbügeleisen. Diese unbestreitbar materiellen Güter werden in Fabriken hergestellt und von dort durch verschiedene Mittel und Wege in immer mehr Haushalte überall auf der Welt transportiert. Das Bedürfnis, sie zu kaufen, ist einer der vielen Stricke, mit denen die "unterentwickelten" Teile jener Welt immer fester in den Cash-Nexus eingebunden werden.

Das Wäschewaschen ist natürlich nicht die einzige Tätigkeit, die auf diese Weise vermarktet wurde. Man könnte ebenso gut auf die Nahrungsmittel- oder Drogerieartikel-Industrie als Beispiele warenförmig gewordener Hausarbeit verweisen. Eine Zufallslektüre der in meinem Arbeitszimmer vorfindlichen Werbebotschaften ergibt "individuelle Frischkäseportionen mit Fruchtgeschmack im Lunchbox-Format" (in Tuben!), "elastische Slip-Einlagen", eine "Feuchtigkeitscreme" für die Augenpartie und eine "Universal-Fernbedienung". Nicht nur, dass jede dieser Waren leicht auf ihre Ursprünge in nicht-sozialisierter Tätigkeit zurückzuverfolgen ist; man muss auch zugeben, dass keine von ihnen, vielleicht mit Ausnahme der Feuchtigkeitscreme, noch vor einer Generation überhaupt vorstellbar gewesen wäre. Die Fähigkeit des Kapitalismus, neue Waren zu erzeugen, mag fast als magisch erscheinen, so als seien sie in perfekter Umkehrung der "Entmaterialisierungs"-Hypothese aus der Luft gezaubert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ihre Rohstoffe irdischer Natur sind und dass die einzige Magie, die dabei im Spiel ist, menschliche Arbeit und Erfindungsgabe ist.

Ein paar statistische Angaben zum Verbrauch dieser Rohstoffe machen es deutlich: so hat sich der Eisenverbrauch in Großbritannien seit 1900 verzwanzigfacht; so ist die Aluminiumproduktion weltweit von 1,5 Mio. Tonnen im Jahre 1950 auf 20 Mio. Tonnen gestiegen (Jackson 1996). In dem Zehnjahreszeitraum 1984-1995 (in dem die Effekte der Weightless Economy, glaubt man ihren Theoretikern, zutagegetreten sein sollen), stieg der Aluminiumverbrauch im Vereinigten Königreich von 497.000 auf 636 000 Tonnen, der Stahlverbrauch von 14 330 000 auf 15 090 000 Tonnen und der Papierkonsum hat sich mit einem Anstieg von 41 auf 93 Mio. Tonnen mehr als verdoppelt.3

Dieser unerschöpfliche Drang zur Hervorbringung neuer Waren ist vielleicht die zentrale Tendenz in der Geschichte des Kapitalismus, ist doch die Produktion materieller Güter der einfachste Weg, um aus lebendiger Arbeit Wert zu schöpfen. Natürlich ist es nicht der einzige Weg. Man kann beispielsweise Profite machen, indem man private Kinderheime oder Putzkolonnen betreibt, Computer repariert, Tagungen oder Rockkonzerte organisiert. Es ist aber -- teils wegen der begrenzten Möglichkeiten, menschliche Produktivität in diesen Bereichen durch Automation zu steigern und wegen der daraus resultierenden Abhängigkeit von ortsgebundener und speziell qualifizierter Arbeitskraft -- leichter und auf lange Sicht profitabler, beliebig reproduzierbare materielle Waren herzustellen oder zu vertreiben.

Eine zweite Kategorie von Dienstleistungstätigkeit lässt sich der Rubrik Entwicklung des Humankapitals zuordnen -- der Reproduktion der Wissens-Arbeitskraft. Darunter fallen Erziehung und Ausbildung und einige Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten. Dieser Sektor ist vor der Vermarktung durchaus nicht gefeit -- das bezeugt die Normierung von Kursen und die Entwicklung von Produkten wie interaktiven Lernprogrammen auf CD-ROM (vgl. Noble 1997).

Der Inhalt dieser neuen Waren ist in dem Sinne abstrakt, als er von den auf diesem Sektor beschäftigten Dozenten, Forschern und Graduierten abstrahiert worden ist. Anders als bei früheren Formen vermarkteter Gelehrsamkeit wie etwa Lehrbüchern wird bei diesen neueren Abstraktionsmöglichkeiten das Besitzrecht des Autors kaum durch Tantiemen anerkannt. Doch unterscheiden sie sich nicht grundlegend von dem Prozess, durch den ein Teppichmuster von einem geschickten Weber abstrahiert und in einen automatischen Webstuhl einprogrammiert wird. Man muss vor allem im Auge behalten, dass die Arbeitskraft nicht etwa verschwunden ist. Selbst wenn die originelleren und kreativeren (und damit vielleicht auch unbequemeren) Köpfe alles Wissen, das ihren Arbeitgebern nützlich erscheint, hergegeben haben und hinausgeworfen sind, wären immer noch Arbeitskräfte -- darunter originelle und kreative -- nötig, um den intellektuellen Kapitalbestand zu vervollständigen, neue Bildungswaren zu produzieren und der nächsten Studentengeneration die neuen Standardkurse in der vorgeschriebenen Standarddosis zu verabreichen.

Die Systematisierung der Bildung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, weist starke Ähnlichkeit mit der Systematisierung anderer Formen von nicht-manueller Arbeit auf. So ist der Vorgang, in dem etwa die Bewertung von Studienleistungen von einem mystifiziert-subjektiven Prozess der individuellen Ausübung professioneller Urteilskraft zum Ankreuzen von Kästchen auf einem Standardfomular wird, dem Vorgang nicht unähnlich, in dem die Überprüfung der Kreditwürdigkeit eines Kunden durch einen Bankmanager zunehmend zum Ausfüllen eines Standardfragebogens nach vorgegebenen Kriterien wird, wobei dann das Software-Programm die tatsächliche Entscheidung trifft.

So ist dies ein Sektor, auf dem in Verbindung mit der Einführung neuer Informationstechnologien gewaltige Veränderungen im Arbeitsprozess (und damit im Prozess der Kapitalakkumulation) stattfinden. Er scheint jedoch keine neuen Probleme aufzuwerfen, die nicht im Rahmen der "alten" Ökonomie lösbar sind.

Die dritte Kategorie von Dienstleistungstätigkeiten ist diejenige, die Quah und die anderen Ökonomen der Weightless-Economy-Schule am meisten beschäftigt. Es handelt sich um die "Wissensarbeit", die entweder direkt in die Produktion leibhaftiger Waren oder aber in die Produktion neuer, schwereloser Waren eingeht. Ein oft angeführtes Beispiel ist im Falle der Ersteren der modische Schuh, dessen Preis nur zum Teil auf das Material und die reinen Herstellungs- und Transportkosten zurückführbar ist. Der Hauptwert, so die Argumentation, ergibt sich aus seinen "immateriellen" Eigenschaften, aus dem Design, dem Marken-Image, der Art seiner Vermarktung usw. "Die Käuferin zahlt für das, was sie für ihr Image tun, und nicht für ein Paar Fußschützer." (Coyle 1998) Ungeachtet der zusätzlichen Ausgaben, die ein Käufer für ein Statusprodukt zu tätigen bereit ist: am Ende ist es doch immer noch ein materieller Gegenstand, der gekauft wird und aus dem die Hersteller ihren Profit ziehen. Der Snobwert eines Nike-Laufschuhs in den neunziger Jahren unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem eines der begehrten Pariser Hüte im 19. Jahrhundert; der Hauptunterschied liegt darin, dass jener ein Massenprodukt ist und dieser individuell gefertigt wurde.

Das Aufkommen des spezialisierten Wissensarbeiters ist also ein Produkt der zunehmend spezialisierten Teilung der Fertigungsarbeit.4 Während der Produktionsablauf durch Automation immer kapitalintensiver wird, werden die manuellen Montagearbeiten immer mechanischer, sodass die nötige Arbeit immer billiger werden kann. Im Falle der Sportschuhe geschieht dies oft durch den Einsatz von extrem niedrig bezahlter Arbeit in Entwicklungsländern. So wurde 1995 berichtet, dass die zwölftausend Frauen, die in Indonesien Nike-Schuhe herstellen, meist weniger als den von der Regierung festgesetzten Mindestlohn von 1,80 US-Dollar täglich verdienen. Man hat geschätzt, dass bei Anhebung ihrer Löhne auf täglich 3,50 Dollar der Anteil der Arbeitskosten bei einem Paar Schuhe immer noch unter einem Dollar liegen würde. Dagegen erhielt allein Michael Jordan 1993 von Nike über 20 Millionen Dollar für die Erlaubnis, seinen Namen und sein Image (also seine sportlichen Leistungen) mit dem Produkt in Verbindung zu bringen -- mehr als die gesamten Arbeitskosten für sämtliche 19 Millionen Paar Nike-Schuhe, die in Indonesien gefertigt wurden.5 Die traditionelle Ökonomie lässt uns den sehr geringen Anteil der auf Arbeit zurückführbaren Kosten des am Ende produzierten Schuhs als Super-Ausbeutung einer verwundbaren Gruppe von Arbeitern begreifen; die "New" Economy macht diese einfach unsichtbar. Es ist allerdings schwierig, die Arbeitsteilung im Produktionsprozess als etwas in sich Neues zu betrachten; sie lässt sich als Fortsetzung eines Prozesses ansehen, der sich zumindest während der letzten anderthalb Jahrhunderte entwickelt hat.6 Michael Jordan mag erheblich mehr verdienen, doch ist sein Beitrag zum Wert des Endprodukts durchaus mit dem der kleinen Mädchen vergleichbar, die um die Jahrhundertwende für die Pears-Seifenwerbung posierten,7 oder mit dem der Royal Family, die Marmeladentöpfe mit ihrem offiziellen Segen und ihrem Familienwappen ausstattet.

Neu ist vielleicht die großangelegte Einführung neuer Technologien nicht nur in den Produktionsprozess, sondern auch in den Vertrieb der Waren. So gibt es mittlerweile Web-Sites, in denen man seine Maße eingeben kann, um ein Paar individuell angefertigter Blue Jeans zu bestellen (sofern man bereit ist, aus der Standard-Konfektion eines einzigen Herstellers auszuwählen). Die Computerisierung von Teilen des Produktionsprozesses wurde mit dem Einsatz neuer Kommunikationstechnologien kombiniert, um eine interaktive Direktverbindung zwischen dem Kunden und dem Produzenten herzustellen. Dies hat auch den Effekt, verschiedene Vermittlungsagenten (wie Groß- und Einzelhändler) auszuschalten und das Risiko des Herstellers, zuviel oder das falsche Produkt zu produzieren, beinahe auf Null zu reduzieren: nur was der Kunde schon bestellt hat, muss überhaupt produziert werden. Doch gibt es in diesem Fall noch immer eine materielle Ware, die hergestellt, verpackt und über reale Entfernungen hinweg zum Kunden gebracht werden muss.

Schwieriger liegen die Dinge bei jener Art von Wissensarbeit, die kein wie auch immer materielles Endprodukt hervorbringt -- sondern etwa Algorithmen (wie bei einem Software-Programm), Finanzdienstleistungen (einer Lebensversicherungs-Police), kreative Werke (einem Drehbuch) oder Spekulationen (einer Kapitalanlage). Wiederum ist keine dieser Tätigkeiten als solche neu: Eine Musikpartitur, eine perforierte Papierrolle mit den "Anweisungen" für ein Pianola, eine chemische Formel, der Konstruktionsplan für eine Maschine oder sogar ein Rezeptbuch stellen im Wesentlichen dieselbe Art von Algorithmus dar wie beispielsweise ein Computerprogramm. Und verschiedene Formen von Glücksspiel, Wucher und Versicherung dürften schon so lange existieren wie das Geld. Im 17. Jahrundert diente eine der frühesten Verwendungen offizieller Statistiken -- hier der Londoner Bills of Mortality, mittels derer der Kaufmann John Graunt Lebenserwartungstabellen erstellte -- zur Berechnung von Leibrenten (Shaw/Miles 1981, 30). Danny Quah meint, dass immaterielle Produkte die traditionellen Gesetze der Ökonomie aushebeln, weil sie gleichzeitig endlos ausdehnbar, unteilbar und unbesitzbar sind. Anders gesagt, eine neue Idee kann nur einmal entdeckt werden; ist sie einmal entdeckt, kann sie nur immer und immer wieder verwendet werden, ohne "verbraucht" zu werden, und selbst bei formellen Restriktionen in Form von Patenten oder Copyright kann sie auf diese Weise praktisch frei reproduziert werden (Quah 1998). Es ist auch gewiss richtig, dass die neuen Kommunikations- und Reproduktionstechniken die rasche Ausbreitung von Ideen erleichtert haben, doch erscheint dies wiederum nicht als ein neues Phänomen. Hat es die genannten Merkmale bei neuen Entdeckungen (wie dem Gebrauch von Penicillin, der Gravitationstheorie oder der Entdeckung der Elektrizität) nicht immer gegeben? Und das Abkupfern von Ideen ist schließlich so alt wie die Geschichte der Mode.

Alles in allem können wir jedoch feststellen, dass die Teilung der Arbeit in den neunziger Jahren einen Punkt erreicht hat, an dem ein wesentlicher Teil der Arbeitskraft auf "nicht-manuelle" Arbeit verwendet wird, anders gesagt: auf die Hervorbringung und Verbreitung von "Information" (auch wenn diese Arbeit nichtsdestoweniger körperliche Tätigkeiten wie etwa das Einhämmern auf eine Tastatur beinhaltet, die sich auf das körperliche Wohlbefinden auswirken können). Die Computertechnik hat es möglich gemacht, diese Information, von David und Foray8 als "kodifiziertes Wissen" begriffen, zu digitalisieren und gewisse Aspekte ihrer Verarbeitung zu automatisieren, und dank der Telekommunikationstechnik lässt sich diese digitale Information mit großer Schnelligkeit und sehr niedrigen Kosten von Ort zu Ort übermitteln. Zusammen haben es diese Technologien ermöglicht, viele dieser Prozesse zu normieren, wodurch es wiederum möglich geworden ist, die Arbeiter anhand ihrer Resultate zu beaufsichtigen und die Aufgabe an jeden beliebigen Ort auf dem Globus zu verlagern, wo die richtige Infrastruktur mit geeigneten Arbeitskräften verfügbar ist.

Anmerkungen

1 Vgl. die Buchtitel von Cairncross (1997), Coyle (1997), Meyer und Davis (1998), Tapscott (1998 u. 1995), Neef (1998), Norton und Smith (1998).

2 Überaus hilfreich waren mir dabei die Diskussionen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Henry Neuburger, der diese Fragen wie kein anderer mit analytischer Schärfe versehen hat. Für eventuelle Unstimmigkeiten in meinen Ausführungen, die allein auf meine Kappe gehen, ist er natürlich nicht verantwortlich.

3 Britisches Umweltministerium, Digest of Environmental Statistics (nach Angaben von Friends of the Earth).

4 Die klassische Darstellung dieses Prozesses ist immer noch das Buch von Braverman (1974).

5 >There is No Finish Line - Running Shoes: the Follow-UpMiss Pearsr zweiten Gruppe den Aufstieg zur ersten erschweren. /p pDie geographische Verteilung der geistigen Arbeit (die Bewegung der Jobs zu den Menschen) ist natürlich nur ein Aspekt der Globalisierung. Analysiert man die zum Ende des Jahrhunderts vorherrschenden Formen der Kapitalakkumulation, muss man auch die weltweite Arbeitsteilung hinsichtlich der Arbeitsmigration (der Bewegung der Menschen zu den Jobs) und der Entwicklung globaler Märkte für Massenprodukte in Betracht ziehen. Doch bedarf es dazu keiner neuen Ökonomie des Immateriellen. Im Gegenteil: Wir müssen die Menschen in ihrer trägen, unsauberen, verletzlichen Materialität -- und die Vielschichtigkeit ihrer antagonistischen Sozialverhältnisse -- wieder ins Zentrum unserer Analyse stellen./p pAus dem Englischen von Thomas Laugstien/p pbAnmerkungen/b/p pa NAME="P67_26299"/a 9 Luc Soete unterscheidet drei Formen, in denen Wissen in eine Ware eingeht (oder, in seiner Sprache, >zum Wachstum beiträgtleicht zu übermittelndes kodifizierbares Wissennicht kodifizierbares Wissen, auch als implizites Wissen bekannt (Fertigkeiten)kodifiziertes Wissen

10 So wird es jedenfalls im Londoner Bezirk Southall praktiziert, wo ein großer Bevölkerungsteil vom indischen Subkontinent stammt und die Zubereitung von Curry-Gerichten und anderen indischen Spezialitäten für britische Supermarktketten ein bedeutendes Gewerbe ist (vgl. Huws 1992).

11 Die ausgezeichnete Zweimonatszeitschrift GenEthic News registriert in jeder Ausgabe neue Beispiele.

12 Dokumentiert in The Journalist, dem monatlichen Magazin der National Union of Journalists.

13 Henry Neuburger, >Thoughts on the Productivity Paradox

14 Zur ausführlicheren Diskussion dieser Literatur vgl. Huws (1996a, b).

15 Ich arbeite gegenwärtig in Verbindung mit dem Technologie-Institut der United Nations University an der Entwicklung und Durchführung einer Studie, die (zusammen mit einer in Bombay durchgeführten Zwillingsstudie) erstmals verlässliches empirisches Material über den Anteil von Telearbeit und -handel im Dienstleistungsbereich in Malaysia liefern wird.

16 Ich habe diese und andere damit verbundene Faktoren in einer Reihe von Veröffentlichungen aufgelistet (vgl. z.B. Huws 1996a).

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