12 Jahre Turbo-Abi in NRW?

Die LandesschülerInnenvertretung NW lehnt die jüngsten Reformvorschläge aus dem MSWF als sozial ungerecht und pädagogisch bedenklich ab.

Anstatt eine Debatte zu führen, wie der kleinen Gruppe der Hochbegabten diesen Landes geholfen werden könnte, sollte stattdessen eine Debatte geführt werden, wie Lernschwache innerhalb des bestehenden Systems integriert und gefördert werden können.

Die optionale Verkürzung des Abiturs auf 12 Jahre durch neu einzurichtende "Profilklassen" oder spezielle Vorbereitungsgruppen hätte die Konsequenz, dass die AbiturientInnen mit 13 Schuljahren einen klaren Nachteil auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt hätten, da ihr Abitur nur noch eins "zweiter Klasse" darstellen würde. Vor die Frage gestellt, eine Abiturientin nach 12 oder nach 13 Schuljahren einzustellen, werden sich wohl nur die wenigsten Ausbildungsbetriebe für jene mit längerer Schulzeit entscheiden. SchülerInnen, die erst nach der Klasse 10 von anderen Schulformen in die gymnasiale Oberstufe wechseln, haben damit kaum noch Chancen auf bessere Ausbildungsstellen.

Auch innerhalb der Schule ist diese Elitenbildung, die durch Profilklassen auch eine äußerliche Absetzung erhalten würde, höchst bedenklich. Neben der Tatsache, dass so wahrscheinlich Neider geschürt würde, ist es fraglich, ob sich die Herausbildung einer solchen Elite positiv auf den Schulalltag auswirken würde. Vielmehr ist anzunehmen, dass diese Klassen in Zeiten knapper Lehrkräfte und Lernmittel bevorzugt behandelt würden. Und da nur einige Schulen in NRW diese Angebote nach einem Bewerbungsverfahren zugesprochen bekommen sollen, würde eine solche Differenzierung und 2-Klassenbildung auch innerhalb der Schulen mit gymnasialer Oberstufe stattfinden.

Zudem würde einige Trends, die schon im heutigen Schulsystem existieren, verstärkt. Da Profilklassen in der Jahrgangsstufe 7 (bzw. Klasse 9) eingerichtet werden sollen, ist kaum anzunehmen, dass die einzelnen SchülerInnen die Entscheidung, ob sie in die Profilklasse (oder die Vorbereitungskurse) wechseln, kaum selbst treffen, sondern vielmehr deren Eltern. Und da es wie oben gezeigt für die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen nicht unwichtig ist, ob sie mit 12 oder 13 Schuljahren Abitur machen, werden Eltern ihre Kinder in die Profilklassen drängen. Bereits jetzt ist die Bedeutung des Elternhauses für die schulischen Leistungen erwiesen (siehe auch die BIJU-Studie); durch diese Reform würde sie jedoch verstärkt. Alleinerziehende oder Arbeitslose werden sich wesentlich seltener als Selbständige oder Beamte leisten können, ihre Kinder durch bezahlte Nachhilfe und elterliche Bibliothek zum schnellen Abitur zu tragen. So wird die Bedeutung des Elternhauses für das erreichbare Bildungsniveau verstärkt, obwohl die gegenteilige Entwicklung notwendig wäre.

Angesichts der Tatsache, dass das Hochdruck-Abi lediglich den Stoff von dreizehn Schuljahren in einer vergleichbaren Stundenzahl aber eben in nur zwölf Schuljahren absolvieren, ergeben sich mehrere Probleme und Fragestellungen: So kann zum einen kaum von einer qualitativen Verbesserung gesprochen werden, wenn einfach nur die Schuljahre verkürzt werden, anstatt tiefgreifende didaktische Veränderungen vorzunehmen. Zum anderen führt die erhöhte Stundenzahl zu einer Unvereinbarkeit oder zumindest sehr schwierigen Vereinbarkeit von einem Nebenjob oder sozialem Engagement, geschweige denn beidem zugleich. So wird wiederum systematisch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ausgegrenzt.

Auch die Auswirkungen der Reform auf die Kindheit bzw. die Jugendphase der SchülerInnen ist überaus kritisch zu sehen: Schülerinnen und Schüler sind noch keine Erwachsenen, die nur den "Ernst des Lebens" erdulden müssen, sondern sie haben durchaus einen Anspruch auf eine jugendgemäße Schule, die weitgehend frei sit von Konkurrenzdruck und Stress. Genau dem steht eine Förderung des Konkurrenzdrucks durch Bildung von Elite-Kursen (durch Profilklassen und Vorbereitungsgruppen) entgegen, denn auch auf die SchülerInnen, die diese Kurse nicht besuchen, wird der Leistungsdruck (durch die Eltern) wachsen.

Eltern - vor die Wahl gestellt - wollen ihrem Kind möglichst gute Zukunftschancen eröffnen. D.h. von der Berufs- und Ausbildungsperspektive ausgehend, dass ihre Kinder nach Möglichkeit auch zu der Elite mit dem Hochdruck-Abi gehören sollen. Deshalb werden mehr und mehr Eltern (Kinder haben in der sechsten Klasse nur selten den Willen sich gegen ihre Eltern durchzusetzen) ihre Kinder zur Schulzeitverkürzung drängen. Doch was ist mit jenen, die mit schlechteren Startchancen starten, was ist mit Spätzündern? In der vierten Klasse wird die Entscheidung über die spätere Schullaufbahn getroffen. Zwar rühmt sich NRW der Offenheit seines Schulsystems, aber bereits heute ist es äußerst schwierig, als AbsolventIn einer Haupt-, Real- oder Sonderschule, das Abitur zu machen. Chancen für diese Gruppe, das Hochdruck-Abi zu machen, bestehen kaum.

Nicht zuletzt stellt diese Selektierung in Hochbegabte mit Hochdruck-Abi und solche mit 13-Jahres-Abitur eine Absage an das Konzept von integrierten Schulen geschweige denn wenigstens integrierten Lerngruppen dar. Werden Lernschwache mit Schnelllernenden gemeinsam unterrichtet, wirkt sich dies nicht zuletzt positiv auf sowohl Fach- als auch Sozialkompetenz beider aus. So vertiefen z.B. jene mit Wissensvorsprung ihr Verständnis für einen Themenbereich, indem sie ihre Kenntnisse an Schwächere weitergeben .

Aus den oben genannten Gründen, lehnen wird die individuelle Schulzeitverkürzung als unsozial und pädagogisch unsinnig ab. Alternativ ist über eine sinnvollere Nutzung von 13 Schuljahren hinsichtlich der Erziehung zu politisch und sozial verantwortlichen und mündigen BürgerInnen sowie einer wirkliche Förderung von Lernschwachen und Benachteiligten nachzudenken. Breitensport vor Spitzensport.

Und bei all den Diskussionen sollte nicht vergessen werden, dass es bereits heute die Möglichkeit gibt, bis zu zwei Schuljahre individuell zu überspringen.