Rot-grüne Studienfinanzierungsreform
Ob mehr soziale Gerechtigkeit beim Hochschulzugang und beim Studium selbst geschaffen wird, entscheidet sich vor allem schlicht am Geld. Sabine Kiel fragt, was sich unter Rot-Grün dazu getan hat.
Die sozialdemokratische Bilanz "Rot ist besser! Daten und Fakten"1 verweist auf folgende bildungspolitische Erfolge:
- Seit 1998 stieg die Zahl der StudienanfängerInnen um 10 Prozentpunkte auf 38 % eines Jahresganges. Insgesamt wuchs die Zahl der Studierenden um 12 Prozentpunkte (2004: 2.019.465; 1998: 1.796.252).
- 2004 erhielt jede/r vierte Studierende (26%) in der Regelstudienzeit BAföG, während es 1998 nur jede/r fünfte (21 %) war. Die BAföG-Mittel wurden um 1,1 Mrd. fast verdoppelt (2005: 2,29 Mrd. Euro; 1998: 1,19 Mrd. Euro).
Dass dieses Resümee nur Positives darstellt, verwundert nicht wirklich. Dennoch gab es schwerwiegende politische Versäumnisse seitens der rot-grünen Bundesregierung in Sachen Studienfinanzierung bzw. BAföG, die nicht unerwähnt bleiben sollen: letztlich haben sie dazu beigetragen, dass unverändert nur jede/r sechste Studierende aus einer bildungsfernen bzw. einkommensschwachen Schicht ein Studium aufnimmt.2
Kanzlerstopp für Studienfinanzierungsreform
Obwohl die rot-grüne Bundesregierung im Koalitionsvertrag 1998 und etlichen Regierungserklärungen eine umfassende Reform der staatlichen Studienfinanzierung versprochen hatte, beendete Bundeskanzler Schröder diese Pläne im Januar 2000 überraschend für die Öffentlichkeit und Regierungsfraktionen. Finanzierungsprobleme unter dem Eichelschen Haushaltsdiktat der Ausgabenneutralität und rechtliche Konstruktionsmängel ließen das von Bundesbildungsministerin Bulmahn präferierte "Sockelmodell" scheitern. Das Modell sah vor, allen Studierenden einheitlich 400 Mark "Ausbildungsgeld" als Sockel auszuzahlen, das vor allem durch die Zusammenfassung von Kindergeld und Kinderfreibetrag finanziert werden sollte. Darüber hinaus beinhaltete es eine "Ausbildungshilfe" für Studierende aus weniger bemittelten Elternhäusern, die teils als Darlehen, teils als Zuschuss vorgesehen war.
Bereits in früheren Diskussionen über eine Reform der Studienfinanzierung hatte es immer wieder erhebliche juristische und finanzielle Bedenken gegen das Sockelmodell gegeben. Daher erstaunte es, dass sich das Ministerium ausgerechnet auf ein Modell konzentrierte, das die Mehrheit der zu den Anhörungen des Bildungsausschusses geladenen ExpertInnen bereits in der 13. Legislaturperiode wegen juristischer Mängel abgelehnt hatte - was der damaligen Ausschussvorsitzenden Bulmahn bekannt gewesen sein dürfte. Ebenso lag ein skeptisches Gutachten eines führenden Steuerrechtlers vor, das der frühere Zukunftsminister Rüttgers hatte erstellen lassen. Nahezu identische Einwände wurden 1998 auch innerhalb des SPD-NRW-Finanzministeriums gegenüber einem Referentenentwurf aus dem Hause der seinerzeitigen Bildungsministerin Brunn erhoben. Und auf mindestens zwei Treffen zwischen sozialdemokratischen Bildungspolitikern und einer Reihe FachwissenschaftlerInnen wurden diese Einwände nochmals präzisiert. Ebenso lagen die Einwände von Justiz- und FinanzministerInnen der Länder in der Bund-Länder-AG zur BAföG-Strukturreform während der 13. Legislaturperiode auf dem Tisch.
Vor diesem Hintergrund war klar, dass die in Wahlkampf und Koalitionsvertrag vollmundig versprochene grundsätzliche Reform der Studienfinanzierung nicht erfolgen würde. Das Kanzlermachtwort half, die Debatte um eine grundlegende Reform bei den Regierungsfraktionen und -parteien mehr oder weniger "leise" zu beenden. Nicht vergessen werden sollte, dass es innerhalb der SPD und auch der FachministerInnen etliche Stimmen gegen eine umfassende Studienfinanzierungsreform und für Studiengebühren gab (etwas die des damaligen niedersächsischen SPD-Wissenschaftsministers Oppermann). Happy hingegen war natürlich das Centrum für Hochschulentwicklung; es relaunchte schnell seine Modelle. Seither wird mehr über Studiengebühren geredet als über eine grundsätzliche Reform der Studienfinanzierung mit den Zielen Elternunabhängigkeit und Bedarfsdeckung.
Verstärkte Selektivität und Elternabhängigkeit
Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) zeigt, dass die wichtigste Finanzierungsquelle der Studierenden noch immer die Eltern sind. So erhalten 89% der Studierenden finanzielle Unterstützung von ihren Eltern; 68% arbeiten neben dem Studium; rund die Hälfte davon gibt an, sich nur so das Studium überhaupt leisten zu können. Zwar erhält ein Viertel aller Studierenden BAföG, doch ausschließlich finanziert sich nur ein Prozent von ihnen aus dieser Quelle. Stipendien und Studienkredite werden nur von Wenigen in Anspruch genommen.
Diese soziale Ungleichheit im Studium wird durch die staatliche Studienfinanzierung (BAföG) bzw. Stipendien nur sehr begrenzt kompensiert, auch wenn, insgesamt betrachtet, von der rot-grünen BAföG-Reform alle sozialen Herkunftsgruppen profitiert haben - wobei zu berücksichtigen ist, dass mit steigender sozialer Herkunft die Ausschöpfungsquote sinkt, bezogen auf den Anteil der Förderberechtigten. Da sich die soziale Zusammensetzung der Studierenden in den letzten Jahren deutlich zu den höheren Herkunftsgruppen hin verschoben hat, ist unter den Geförderten der Anteil aus der oberen Herkunftsgruppe am stärksten gestiegen, während sich die Anteile der übrigen Herkunftsgruppen leicht verringert haben.
Die Hochschulen für junge Menschen aus einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten zu öffnen, war das Ziel der sozialliberalen Regierung in den 1970er Jahren. Diese "soziale Öffnung" gelang anfänglich auch: So verdoppelte sich bis Anfang der 1980er Jahre der Anteil von Studierenden aus unteren Herkunftsgruppen von 10 auf 23%. Die schlagartige Umstellung des BAföGs vom Zuschussprinzip auf Volldarlehensbasis durch die 1983 neu ins Amt gekommene Kohl- Regierung sorgten in Verbindung mit der radikalen Fast-Streichung des SchülerInnen-BAföG für einen massiven Rückgang der Bildungsbeteiligung, vor allem aus den bildungsfernen Schichten (1982: 23%, 1997: 14%). Auch wenn die rot-grüne Bundesregierung einige der eklatanten Verschlechterungen rückgängig gemacht hat und die massive Verschärfung der sozialen Selektivität gestoppt wurde, kommen unverändert nur 12% der Studierenden aus bildungsfernen Schichten. Von einer Trendwende kann also keine Rede sein. Diese müsste aber eintreten, wenn - wie zumindest alle Parteien verkündigen - der Studierendenanteil pro Altersjahrgang perspektivisch auf mindestens 50% angehoben werden soll. Dies läge immer noch knapp unterhalb des OECD-Durchschnitts.
Gerade unter denjenigen, die keinen Anspruch auf BAföG haben, weil das Einkommen ihrer Eltern nur knapp über der festgelegten Grenze liegt, ist die Studierendenquote stark rückläufig. Der Anteil der Studierenden aus reichen Elternhäusern steigt währenddessen weiter an. Insgesamt hat sich die soziale Ungleichheit vergrößert, wie dies in den PISA- und OECD-Studien, vor allem aber durch die Studie Eurostudent - eine Art europäische Sozialerhebung - dokumentiert wird. So finden im europäischen Vergleich in Deutschland ArbeiterInnenkinder am schwersten den Weg in die Hochschulen.3 Am besten schneidet Irland ab, wo Studiengebühren 1997 abgeschafft wurden, während auf dem zweiten Platz in Sachen Förderung von Kindern aus bildungsfernen Schichten Spanien liegt, dicht gefolgt von Finnland und den Niederlanden. Klaus Schnitzer, Autor von Eurostudent, führt die geringe Zahl von Studierenden aus bildungsfernen Schichten an deutschen Hochschulen unter anderem auf die Länderpolitik zurück. D.h., es gelingt den Schulen nicht, mehr Unterschichtenkinder zur Hochschulreife zu führen. Nach der jüngsten Erhebung des Deutschen Studentenwerkes (DSW) haben Oberschichtenkinder eine 7,4-fach größere Chance auf ein Studium als die aus ärmeren Schichten.4
Verschuldung oder soziale Studienförderung?
Die Pläne der CDU für Studiengebühren und Abschaffung des BAföGs lösten im Frühjahr 2005 heftigen Streit aus. Bei einem Wahlsieg will die Union die bisherige staatliche BAföG-Studienförderung in einen Mix von BAföG, Bildungssparen und Bildungsdarlehen in ein eltern- und einkommensunabhängiges, kreditfinanziertes Darlehenssystem umwandeln - obwohl sie hierzu in ihrem Wahlprogramm nunmehr schweigt.
Der Unionsvorschlag, Studierende ohne zahlende Eltern könnten sich ersatzweise über Kredite finanzieren, führt bildungs- und sozialpolitisch in eine Sackgasse. Hier sei darauf verwiesen, dass zwei Drittel der BAföG-EmpfängerInnen angeben, ohne BAföG-Förderung hätten sie ein Studium nicht aufgenommen. Während drei Viertel der Studierenden aus einkommensstarken Familien (74 %) der Meinung sind, die Finanzierung ihres Lebensunterhalts sei sichergestellt, liegt dieser Anteil bei Studierenden aus einkommensschwachen Haushalten nur bei 46 %. Nicht umsonst begrenzte Rot-Grün deshalb die Verschuldungsobergrenze beim BAföG im Zuge der 21. BAföG-Reform auf 10.000 Euro.
Mehr Mut zum herkunftsunabhängigen Bildungssystem!
Es reicht nicht aus, lediglich die formalen Hürden beim Hochschulzugang und innerhalb des Studiums zu beseitigen. Ebenso muss verhindert werden, dass Menschen aus finanziellen Gründen von der Aufnahme oder dem Abschluss des Studiums abgehalten werden. So sank in Deutschland 2004 die Studierbereitschaft um drei Prozentpunkte auf 70%. Als Hinderungsgründe für die Aufnahme eines Studiums nannten Studienberechtigte, die 2004 auf ein Hochschulstudium verzichteten, die bevorstehende Einführung von Studiengebühren (22% der Befragten), die fehlenden finanziellen Voraussetzungen (21%) oder drohende BAföG-Schulden (15%).5 Zu dieser Entwicklung hat die Einführung von sog. Studienkontenmodellen in einigen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen), vor allem aber die Einführung von Langzeitgebühren in fast allen Bundesländern beigetragen. An diesen politischen Entscheidungen waren SozialdemokratInnen und teilweise auch die Grünen nicht unbeteiligt.
Anstatt Studienzeitbeschränkungen, Auswahlrechte der Hochschulen und finanzielle Beteiligungen durch Studiengebühren im Hochschulbereich einzuführen, sollte vielmehr über eine staatliche Studienfinanzierung nachgedacht werden, um dem Ziel eines herkunftsunabhängigen Bildungssystems näher zu kommen. Dazu ist eine angemessene und elternunabhängige Ausbildungsförderung notwendig, die Menschen unabhängig vom elterlichen Einkommen oder ihrem Lebensalter fördert. Diese öffentliche Ausbildungsförderung darf sich nicht nur auf den Hochschulbereich beschränken, sondern muss auch die Schule und alle Aus- und Weiterbildungen ohne Ausbildungsvergütungen umfassen. Eine Umstellung des BAföG auf ein Darlehensmodell führt zu einer massiven Verschuldung der Studierenden und hätte eine starke Benachteiligung von Studierenden aus einkommensschwachen Familien zur Folge.
Um mehr Chancengleichheit im Bildungssystem zu erreichen, sind konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die den sozialgruppenspezifischen Selektionsprozessen im Bildungsverlauf entgegenwirken und damit die verschiedenen Bildungsschwellen auf dem Weg zur Hochschulbildung überwinden helfen. Vorbild für eine Weiterentwicklung der staatlichen Studienfinanzierung könnten die skandinavischen Länder sein, die wegen ihrer Studienfinanzierungssysteme nicht nur eine höhere Studierendenquote, sondern auch einen sozial ausgeglichenen Hochschulzugang vorweisen.
Anmerkungen
1) Juli 2005
2) Vgl. BMBF 2004: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003. 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn/Berlin 2004, oder http://www.sozialerhebung.de .
3) vgl. Eurostudent Report 2005, Hannover 2005, oder http://www.his.de/eurostudent/report-2005.pdf.
4) Vgl. BMBF 2004, a.a.O.
5) vgl. HIS-Kurzinformation: Studienberechtigte 2004: Erste Schritte in Studium und Berufsausbildung. Vorauswertung der Befragung der Studienberechtigten 2004 ein halbes Jahr nach Schulabgang im Zeitvergleich, Hannover, A 10/2005, S. 13, oder http://www.his.de.HIS-Kurzinformation.
Sabine Kiel ist Mitglied des Bundesvorstandes des BdWi.
Aus: Forum Wissenschaft 3/2005