Sozialismus des 21. Jahrhunderts?

Gedanken zum Buch von Heinz Dieterich "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus", das seit seinem Erscheinen große Beachtung findet

Das Anliegen
Das Erscheinen des Buches von Heinz Dieterich "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus"1 hat in der kurzen Zeitspanne seit seinem Erscheinen große Beachtung gefunden und teilweise euphorische Einschätzungen sehr verschiedener Persönlichkeiten ausgelöst.

Nach dem Scheitern des ersten großen Versuchs der Schaffung einer von Marx ausgehenden alternativen sozialistischen Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung in Europa und der Sowjetunion sind die Kräfte und Strömungen, die eine solche, zur vorherrschenden marktwirtschaftlichen Ordnung alternative Entwicklung anstreben, über Ziel und Wege dahin zutiefst verunsichert und zersplittert. Es herrscht eine weit verbreitete Orientierungslosigkeit. Die Wege Chinas, Vietnams und Kubas werden häufig als nicht alternativ-sozialistisch eingeschätzt; eher als eine Entwicklung, die ebenso scheitern müsse, wie das sowjetische Modell oder sie würden sich in die marktwirtschaftlich-kapitalistische Ordnung einordnen. Mit dem Buch von Dieterich liegt der Versuch vor, die Grundzüge, Struktur und Charakteristika einer neuen alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung heraus zu arbeiten. Er baut dabei auf Ideen und einem Konzept von Arno Peters, einem ausgewiesenen Historiker, und Konrad Zuse, dem Erfinder der ersten betriebsfähigen, vollautomatischen Rechenanlage auf, die in dem im Jahre 2000 veröffentlichten Buch "Computer-Sozialismus" dargelegt sind und entwickelt sie weiter.

Die Konzeption von Dieterich geht in Übereinstimmung mit Peters von drei grundlegenden Annahmen aus.

Erstens: Die bürgerliche Gesellschaft und mit ihr die marktwirtschaftlich- kapitalistische Wirtschaftsordnung ist in ihrer Endphase angekommen. Er schreibt: "Die Menschheit hat sich seit ihrer Entstehung bis vor etwa 5000 Jahren unter den Prinzipien der bedarfsdeckenden Lokalwirtschaft, des intuitiv äquivalenten Produktenaustausches und der Solidargemeinschaft reproduziert und organisiert. Dann brach die durch privates Bereicherungsstreben gekennzeichnete Marktwirtschaft in die zivilisatorische Entwicklung ein und zerstörte die Prinzipien solidarischer Bande, wertgleichen Güteraustausches und gebrauchswertorientierter Arbeit und Produktion. Seitdem lebt die Gattung unter der privaten Tyrannei der Produktionsmitteleigner und ihrer repressiven Staatsapparate in hierarchischen und antidemokratischen Klassengesellschaften."2 Es wird der Begriff des "historischen Projektes" eingeführt und als die treibende Kraft der Geschichte bezeichnet. Dieterich knüpft, gestützt auf Peters umfangreiche historische Arbeiten, an die Analyse des bestehenden kapitalistischen Systems durch Marx an und begründet anhand der seit dieser Zeit gesammelten Erfahrungen und wirksam gewordenen neuen Entwicklungen politischen, ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Charakters anhand vieler Fakten eindrucksvoll die Notwendigkeit der Ablösung dieses Systems, wenn der Absturz der Menschheit in die Barbarei verhindert werden soll.
Als Kern des historischen Projektes der marktbestimmten, später kapitalistischen Gesellschaft wird der "nichtäquivalente Austausch" hervorgehoben als die entscheidende Quelle der bestehenden ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeit, der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen, der bedrohlichen Vernutzung der ökologischen Ressourcen dieser Erde und damit der menschlichen Existenz.

Zweitens: Diese Situation erfordert nach Peters und Dieterich den Übergang zu einem neuen, postkapitalistischen Projekt: Der nichtäquivalente Austausch müsse durch das Prinzip der Äquivalenz ersetzt werden. Dieses Konzept geht davon aus, dass die Äquivalenz für die Wirtschaft die Gleichwertigkeit jener Güter und Leistungen bedeutet, die in der arbeitsteiligen Welt ausgetauscht werden, also die vollkommene Entsprechung von Leistung und Gegenleistung, von Wert und Preis. Peters beruft sich in diesem Zusammenhang auf Ricardo, der feststellte: "Schon in der frühen Wirtschaftsgeschichte ist also der Wert eines Gutes nicht durch seinen Gebrauchswert bestimmt, sondern allein durch die in ihm enthaltene Arbeitsmenge." Marx und Engels hätten als wissenschaftliche Revolutionäre oder revolutionäre Wissenschaftler Zeit ihres Lebens nicht nur die Logik allgemeinen gesellschaftlichen Handelns wissenschaftlich entschlüsselt und in ihren entfremdeten Manifestationen politisch bekämpft, sondern auch die Systemlogik privatkapitalistischer Marktwirtschaft in der Kritik der politischen Ökonomie mit außerordentlichem Erfolg analysiert. "Diese ungeheure Forschungsleistung, verbunden mit revolutionärer politischer Tätigkeit, Exil und außerordentlichen persönlichen Entsagungen, beanspruchte ihre gesamte Energie. Für die Ausarbeitung eines konkreten Vorschlags zum Wirtschaftssystem des zukünftigen Sozialismus, dem neuen Staatsgebilde sowie der Organisation der sie tragenden Massen blieb daher keine Zeit mehr. Für die revolutionäre Übergangsphase zum Kommunismus gibt es daher wichtige Hinweise in ihren Arbeiten, ... doch hätten konkrete strategische Planungen auf der Basis nationaler Entwicklungsbedingungen erst unter Lenin und den Bolschewiki realisiert werden können."3

Drittens: Mit der Mikroelektronik und Erfindung der modernen Rechenanlagen sei eine neue Stufe in der Erfassung und Steuerung der komplexen und zugleich hoch differenzierten Faktoren der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung erreicht, ohne den Umweg über die blinden Gesetze des Marktes und den damit verbundenen nichtäquivalenten Austausch gehen zu müssen. In einem Vortrag am 7. Mai 1995 in Palermo führte Peters aus: "Das Ineinandergreifen von Produktion, Verteilung, Konsum und Dienstleistungen kann vom Computer gesichert werden: Die weltweite Entwicklung des Bedarfs (einschließlich der Rangordnung dieser Bedürfnisse), die Lenkung der Produktion (einschließlich der Errichtung neuer Produktionsstätten) und die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen wäre vom Computer bereits heute zu bewältigen. Computer-Sozialismus nannte der Erfinder des Computers, Konrad Zuse, diese Wirtschaftsordnung, wenn sie das Äquivalenzprinzip mit der Arbeitswertlehre verbindet. Damit war die ökonomische Dimension des Computer-Sozialismus bestimmt."4 Dieterich ergänzt, dass Veränderungen in den Preis-Kosten- bzw. Wertrelationen bereits mit der aktuellen Informationslogistik auf nationalem Niveau stündlich erfasst und an die Betriebseinheiten weitergegeben werden könnten, so dass die Flexibilität und Reaktionsmöglichkeiten auf wirtschaftliche Parameter-Veränderungen unvergleichlich viel schneller (effizienter) durchgeführt werden können als es der kontemporäre "Markt" kann. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten der Engländer Cockshott und Cotrell und die Tatsache, dass bereits 1993 Supercomputer in der Lage waren, eine demokratisch definierte Planungsaufgabe für eine große Volkswirtschaft mit etwa 12 Mio. Produkttypen innerhalb von zehn Minuten zu lösen.5

Die Konzeption Dieterichs, gestützt auf Peters und Zuse, besteht darin, in einem "entscheidenden Schritt für den Übergang zum Sozialismus, den für die Bourgeoisie lebenswichtigen privatwirtschaftlichen Planungsmechanismus des Marktes zu ersetzen durch die demokratische koordinierte kybernetische Regulation der unmittelbaren Produzenten. Der Markt und sein Preiskalkül als fünftausendjähriger obsoleter Modus der Ressourcenverteilung, ersetzt durch Mehrheitendemokratie und wertökonomisch operierendes, elektronisch gesteuertes gesellschaftliches Produktiveigentum, das wäre das geschichtliche Ende der bürgerlichen Klasse ..."6 Zuse hat seinen Standpunkt dazu in einem Vortrag am 4. Oktober 1993 im Deutschen Museum in München wie folgt dargelegt: " ... dass der Computer letzten Endes dazu dient, die Belange der Gesellschaft zu lösen. ... Mir schwebt so etwas vor wie eine Art Computersozialismus ... was die Idealisten in den sozialistischen Ländern im Osten dachten, was ihnen dann aber leider nicht ganz gelungen ist".

Bemerkenswert und in mancher Hinsicht neu sind in diesem Zusammenhang Einschätzungen zu den "eigentlichen Ursachen" des Scheiterns des sowjetischen Modells einer alternativen Gesellschaft in Europa und der Sowjetunion: Weder die wissenschaftliche Erkenntnis, noch der Fortschritt der Produktivkräfte seien auf dem Entwicklungsstand angekommen gewesen, den die Formulierung eines Programms sozialistischer Ökonomie oder wirklicher Mehrheitendemokratie erfordert hätte. Dieterich formuliert seine Sicht dieser Zusammenhänge und ihrer Rolle beim Scheitern dieses ersten großen Sozialismusversuchs folgendermaßen: "Die Werttheorie, die die Essenz der politischen Ökonomie von Marx und Engels darstellt, hatte, Ricardo folgend, den objektiven Wert des Produktes korrekt über die gesellschaftlich notwendige durchschnittliche Menge abstrakter Arbeit bestimmt, die in die Produktion einer Ware investiert wird. Aber es gab weder Computer, noch Datenübertragungsnetze, noch die fortgeschrittene Mathematik, welche für die Wertkalkulation eines Produktes in der Praxis notwendig sind. Die für die Gestaltung einer - im Verhältnis zur kapitalistischen Chrematistik qualitativ unterschiedlichen sozialistisch-demokratischen Ökonomie vitalen Theoreme der Wertbildung ... konnten daher nicht zur operativen Basis einer realen Ökonomie werden. Aus diesem Grunde basierten die Volkswirtschaften der sozialistischen Staaten auf Kosten-Preis-Berechnungen in monetären Einheiten, die im allgemeinen an den Weltmarktpreisen orientiert waren oder an soziopolitischen Direktiven der Regierung, und nicht an den Mengeneinheiten abstrakter Arbeit. Demzufolge konnte sich der Austausch von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitskraft auch nicht in gleichen Wertgrößen vollziehen, als Äquivalententausch, sondern wie Arno Peters herausgearbeitet hat, nur in gleichen Preisgrößen, will sagen als äquipretiärer (nicht wertgleicher) Tausch. ... Die objektive Unmöglichkeit, die Ökonomie der neuen Gesellschaft auf einer der nationalen Chrematistik qualitativ anderen Basis zu konstruieren - in welcher als gesellschaftliche Verrechnungseinheit nützlicher Arbeit computerisierte Arbeitszeiten anstelle monetärer Kosten Preis-Kalkulationen verwendet und unternehmerische Autokratie durch mehrheitsdemokratische Planung ersetzt würden -, machte den Quantensprung des Systems aus dem realen Sozialismus in den wirklichen Sozialismus unmöglich".7 Und Dieterich stellt in diesem Zusammenhang fest: Dies sei in der Tat die tiefliegendste, auf der Ebene der Produktivkräfte angesiedelte gesellschaftliche Ursache des inneren Zusammenbruchs der Sowjetunion und der übrigen sozialistischen Länder. Tragischerweise sei die Sowjetunion gerade in dem historischen Augenblick implodiert, in dem die objektiven Barrieren des Übergangs zum wirklichen Sozialismus von Wissenschaft und Technik überwunden werden. "Tragisch deshalb, weil bei Lenin die subjektiven Voraussetzungen antibürgerlichen Triumphes vorlagen, nicht so die objektiven, während bei Gorbatschow die objektiven Bedingungen reif wurden, aber die subjektiven fehlten."

Peters, Zuse und Dieterich halten eine Planwirtschaft für unabdingbar bei der Gestaltung menschlicher Gesellschaften, die auf Arbeitsteilung und Kooperation beruhen. Sie setzen dem neoliberalen mainstream der Vergötterung der blinden Kräfte des Marktes die ordnende und organisierende Rolle einer demokratischen Planwirtschaft entgegen als die für die menschliche Entwicklung einzig bestehende Alternative. "Und als vor 6 000 Jahren die Menschen in den Flusstälern des Nil, des Euphrat und Tigris, des Indus und des Hoangho durch Anlage von Dämmen, Staubecken und Kanälen die Ströme bändigten, war das schon Wirtschaftsplanung, die ganze Völker in Gemeinschaftsarbeit verband. Ägyptens Pyramiden und die Chinesische Mauer wären ohne zentrale, planende Ordnung nicht zu vollbringen gewesen."8 Sie weisen darauf hin, dass "dieses sich gegenseitig ergänzende und fördernde, aber auch konkurrierende Nebeneinander von zentraler Wirtschaftslenkung und privater Gewinnplanung während der ganzen Dauer des Bestehens der Marktwirtschaft erhalten" hat. Peters weist darauf hin, dass die Bedeutung der staatlichen Wirtschaftsplanung in dem Maße wächst, wie der über Steuern und Abgaben durch die Hand des Staates laufende Anteil am Sozialprodukt zunimmt. Es habe also seit Entstehung der Marktwirtschaft stets einen Planungsdualismus gegeben, der die Interessen einer sich verselbständigenden Wirtschaft in Einklang brachte, ohne die eigentliche Aufgabe der Wirtschaft, nämlich die Versorgung aller Menschen, zu seiner Zielstellung zu machen anstatt des maximalen Gewinns und Profits der Kapitaleigner. Seit 1917 seien Staaten aufgebaut worden, in denen dieser Planungsdualismus einer dominierenden zentralen Planung Platz gemacht hat.

So unwirklich es klingt, so zutreffend ist es im Kern doch, wenn festgestellt wird, dass damit anstelle der Regulierung durch Angebot und Nachfrage (Marktwirtschaft) eine Art Bedarfsdeckungswirtschaft (Planwirtschaft) getreten ist. Ob die Planwirtschaft eine optimale Bedarfsdeckungswirtschaft sein kann, "ist abhängig von der technischen Entwicklungsstufe des betreffenden Landes sowie von der laufenden Ermittlung des allgemeinen Bedarfs und seiner direkten Umsetzung in Gütererzeugung, vom Stand der Dienstleistungen und der Güterverteilung, wie sie mithilfe des Computers möglich geworden ist. Aber das sei auch noch von einer zweiten Prämisse abhängig: von einer gerechten Verteilung der erzeugten Güter und erbrachten Dienstleistungen. Planwirtschaft sei also noch kein Sozialismus. Damit aus der Planwirtschaft Sozialismus werde, müsse auch dessen zweites Merkmal verwirklicht sein: das von Marx begründete Prinzip Jedem nach seiner Leistung.Dieses Ziel könne nur verwirklicht werden durch eine Verteilung der erzeugten Güter und erbrachten Leistungen nach dem I>Äquivalenzprinzip.9

Die Problematik
Wie dargelegt, besteht die zentrale Idee des Konzeptes "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in der Postulierung des Übergangs vom "nichtäquivalenten Austausch" als dem entscheidenden Charakteristikum der Warengesellschaft zur Verwirklichung des Prinzips des "äquivalenten Austausches" als der ökonomischen Grundlage einer neuen postkapitalistischen Ordnung, eines neuen historischen Projektes.

Dieses Wertmaß gefunden und definiert zu haben, sei die große Leistung der klassischen Ökonomie. Die Arbeitswertlehre von Smith habe noch kein praktisch anwendbares Wertmaß entwickelt. Ricardo habe dann versucht, aus der Arbeit das Maß abzuleiten, das "Wertmessungen mit der gleichen Verbindlichkeit erlaubt wie das Urmeter in Paris Längenmessungen". Er habe die Arbeit nicht nur als Wertursache, sondern auch als Wertmaß betrachtet. Peters konstatiert: Dadurch wurde die Zurückführung des Wertes jedes einzelnen Gutes auf die in ihm enthaltene Arbeitsmenge, besonders im Hinblick auf die ständige Veränderung dieser Faktoren, zu einer rechnerisch kaum zu bewältigenden Aufgabe. Ohne deren Lösung wäre jedoch das Äquivalenzprinzip nicht zu verwirklichen. Erst durch die Erfindung des Computers, der diese Aufgabe lösen kann, ist neben der die allgemeine Bedarfsdeckung sichernden Planwirtschaft auch die zweite Grundlage des Sozialismus praktisch zu verwirklichen: Der Austausch von Gütern und Leistungen zu ihrem Wert."10

Die Leistung von Marx beschreibt Peters wie folgt: Er (Marx)ging davon aus, dass die menschliche Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft zur Ware geworden sei, die mit ihrem jeweiligen Marktpreis (=Lohn) voll bezahlt ist. Peters zitiert Marx: "Daß der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer." Und er versicherte sogar, es würden bei diesem Kauf die Gesetze des Warenaustausches in keiner Weise verletzt. Äquivalent werde gegen Äquivalent ausgetauscht.

Während bis zu diesem Punkt die Logik der Gedanken von Peters und Dieterich - unabhängig davon, ob man ihnen im Einzelnen zustimmt oder nicht - nachzuvollziehen ist, erweist sich als das entscheidende Problem, das letzten Endes über die Tauglichkeit des "neuen historischen Projektes" zur bestehenden kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung entscheidet, die Frage, auf welchem computerisierten Wege es möglich ist, die konkrete Arbeit auf das einheitliche Maß "durchschnittlich gesellschaftlich notwendige abstrakte Arbeit" zu transformieren. Dieterich formuliert das Problem so: "Im Unterschied zum subjektiven Charakter der von der bürgerlichen Ökonomie verwendeten Konzepte Preis und Wert ist das Konzept des Wertes als die in einem Produkt oder einer Dienstleistung real enthaltene direkte und indirekte Arbeitszeit abstrakte Arbeit eine objektive Größe".11

Wie stellen sich Dieterich und Peters in ihrem Projekt des Äquivalenzaustausches die Lösung dieses Problems vor? Dieterich führt aus, dass "der Präzisionsgrad, mit dem jeder einzelne Produktionsfaktor als Zeit bestimmt werden kann, davon abhängt, ob es sich um lebendige oder verdinglichte Arbeit handelt. Die Zeiten (Werte) lebendiger Arbeit ... könnten mit einer Präzision von annähernd 100% berechnet werden, da alle Produktionsprozesse der modernen Ökonomie auf dem Vektor ›Zeit‹ basieren.

Die Berechnung der Werte an verdinglichter Arbeit (Maschinen, Werkzeuge, Räumlichkeiten etc.), die anteilmäßig in das Produkt eingehen, sei komplexer und erfordere Approximationsmethoden, die ähnlich der Berechnungsgrundlage der zur Zeit gebräuchlichen Wertminderungstabellen (Abschreibungen) hinreichend akzeptable Annäherungswerte ergeben. ... In der ersten Etappe des Neuen historischen Projektes wäre der Prozess der Messung, Operationalisierung und Instrumentalisierung des objektiven Wertes demzufolge eine Kombination von präzisen Messungen und begründeten, nicht willkürlichen Schätzungen."12 Bereits hier ist anzumerken, dass der Anteil der verdinglichten Arbeit am Wert eines Produktes oder einer Leistung aufgrund der wissenschaftlich-technischen Entwicklung ständig wächst und deshalb auch der Anteil der geschätzten Wertbestandteile beträchtlich ist und sich ständig weiter erhöht.

Peters lässt als Arbeitswertmaß ausschließlich die Arbeitszeit gelten. Eine Bewertung der unterschiedlichen Inhalte der konkreten Arbeiten ist bei ihm nicht vorgesehen und nicht Bestandteil seines Äquivalenzprinzips. Damit geht er zwar den Schwierigkeiten der Reduktion der komplizierteren konkreten Arbeiten auf das einheitliche Maß der durchschnittlich gesellschaftlich notwendigen Arbeit aus dem Weg; allerdings fehlt so dem Petersschen Projekt der Äquivalenzökonomie damit der Faktor der Motivation zur Erbringung der notwendigen komplizierteren Arbeiten wie auch eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung des ökonomischen Prinzips: Jedem nach seiner Leistung.

Das entscheidende Problem besteht darin, dass mit dem Vektor "Zeit" z. B. einer Arbeitsstunde, noch nicht der unterschiedliche Inhalt einer Arbeitsstunde konkreter Arbeit, d. h. die Differenzierung in der Wertschöpfung erfasst und auf das Einheitsmaß abstrakte Arbeit transformiert ist. Das hat Dieterich in folgender Formulierung zum Ausdruck gebracht: "Das von Arno Peters stipulierte Prinzip rigoroser Äquivalenz oder absoluter Gleichheit in der Entlohnung einfacher und komplizierter Arbeit kann in der gemischten Ökonomie des Übergangs realistischerweise nicht aufrechterhalten werden, da es der Konditionierung des menschlichen Charakters im Kapitalismus - möglicherweise auch seiner anthropologischen Natur - nicht genügend Rechnung trägt, wie etwa der Bedeutung materieller Anreize, dem Machtstreben und Machtmissbrauch, dem Neid, den Tendenzen zur Korruption, dem Narzissmus, Autoritarismus und Konsumismus".13 Er verweist in diesem Zusammenhang auf die in dieser Hinsicht in der DDR und auch in der Sowjetunion gesammelten Erfahrungen. Dieterich macht dieses grundlegende Problem auch an folgendem Zusammenhang deutlich: "Einer der wichtigsten, aber auch komplexesten Aspekte dieser Problematik ist die Beziehung zwischen der Produktivität einer Arbeitskraft und ihrer materiellen Vergütung, also die Frage, wann eine höhere individuelle Produktivität des Beschäftigten A gegenüber dem Beschäftigten B, bei gleicher Anzahl geleisteter Arbeitsstunden, eine höhere Gratifikation für A erlaubt?" Dieterich lässt die Frage offen, ob eine höhere Gratifikation erlaubt ist, wenn die höhere Produktivität durch sein Interesse, seine professionelle Ausbildung, formale Erziehung, Sorgfalt, Disziplin, Wille usw. begründet ist. Auf die Frage, wie zu verfahren ist, wenn die höhere Produktivität nicht seinem eigenen oder persönlichen Verdienst entspricht - z. B. in einem physisch leistungsfähigeren Alter zu sein, über eine bessere Produktionstechnologie zu verfügen, einer ethnisch und geographisch privilegierten Gruppe oder einem privilegierten Geschlecht anzugehören -, gibt er zur Antwort, es wäre keine bessere Vergütung als der Basislohn zu rechtfertigen. Außerdem müssten Arbeitsbedingungen in Rechnung gestellt werden, die extrem schwer oder gesundheitsgefährdend sind.

Aus den Darlegungen von Dieterich wird deutlich, dass es in diesen Fragen zwischen ihm und Peters unterschiedliche Standpunkte gibt. Das Argument von Peters, dass die Berechnung solcher Vergütungen - über den objektiven Wert hinaus - notwendigerweise subjektiv ist, sei zweifellos korrekt; da es keinen Modus gibt, aufzuzeigen, dass ein Ingenieur zweimal mehr anstelle von 1,8 oder 2,2 Mal mehr zu verdienen hat als ein Mechaniker. Dieterich stellt fest: "Dieser Multiplikator des Basiswertes ist unvermeidlich subjektiv und insofern ein möglicher Gefahrenpunkt von Korruption und Ungerechtigkeiten." Trotzdem hält er auch in dieser Frage das Konzept des Äquivalenzaustausches für besser als das des "brain drain", das aus dem kapitalistischen Einkommensgefälle zwischen niedrig- und hochtechnifizierten Gesellschaften entspringt. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen der DDR ist Dieterich unbedingt zuzustimmen, wenn er feststellt, dass es wenig realistisch wäre zu versuchen, vom kapitalistischen homo oeconomicus ohne Übergang zum ethischen Menschen der zukünftigen Demokratie zu gelangen. Das gilt aber offensichtlich nicht nur für den Übergang. Bei Marx und Engels sei das Problem mit dem Konzept der Reduktion von komplizierter Arbeit auf einfache gesellschaftlich notwendige Arbeit gelöst. Hier ist festzustellen, dass das nur insofern zutrifft, als Marx im Rahmen der Werttheorie dazu einen gedanklichen Ansatz vorgeschlagen hat, auf das Problem der praktischen Realisierung jedoch nicht eingegangen ist. Wenn es in einer solchen Grundfrage zwischen den Hauptvertretern der Äquivalenztheorie grundlegend verschiedene Auffassungen gibt, kann man diesem Konzept nicht als ausgereift und für in sich schlüssig betrachten.

In diese Problematik ist eingeschlossen die Schwierigkeit, die sog. mittlere Produktivität zu ermitteln. In der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft tendiert das ökonomische Subjekt, dessen Produktivität unterhalb des nationalen oder internationalen Durchschnitts liegt, dazu eliminiert zu werden, vor allem in Krisenzeiten. Das bedeute, so Dieterich, dass die heutigen Produktionskosten im Prinzip eine realistische Richtschnur hinsichtlich des erreichten Produktivitätsstandes zu jedem Zeitpunkt und in jedem Winkel der globalen Ökonomie darstelle, wenn auch die praktischen Berechnungsprobleme, die aus Währungsverhältnissen, Subsidien, manipulierten Statistiken usw. resultierten, nicht unterschätzt werden sollten. "Für die demokratisch geplante Ökonomie wird ein ähnlicher Standard benötigt - eine mittlere Produktivität - der es erlaubt, die Effizienz jeder ökonomischen Einheit, vor allem der Unternehmen, mit einer gewissen Objektivität zu bewerten, um keine knappen Ressourcen zu verschwenden. Diese durchschnittliche Produktivität würde, demokra- tisch vermittelt, als eines der Leitprinzipien der Äquivalenzwirtschaft das ersetzen, was Marx das Wertgesetz der kapitalistischen Ökonomie genannt hat."14

Daraus ergibt sich, dass die Äquivalenzkonzeption diesen entscheidenden Baustein des Gesamtkonzeptes nicht eigenständig ermitteln kann, sondern den erreichten Stand der gegenwärtigen Ausbeutungsgesellschaft übernehmen muss. Es entsteht hier eine ähnliche Situation wie bei der Ermittlung der Realität angenäherter Preise, respektive Werte für die Ökonomie des sog. sozialistischen Weltmarktes. Man musste auf die Weltmarktpreise der kapitalistischen Welt zurückgreifen, hatte also keine eigene, autonome Wertbasis, die die Funktion eines Marktes voraussetzt.

Es handelt sich bei dieser Problematik nicht nur um eine zentrale Frage, die für die Tauglichkeit des "neuen historischen Projektes" von grundlegender Bedeutung ist, sondern generell für jedes Projekt, das auf die Steuerung der Wirtschaft durch den marktwirtschaftlichen Regulierungsmechanismus verzichten will.

Was findet sich bei Marx zu dieser komplexen und komplizierten Problematik? Im ersten Kapitel des Kapital führt er aus: "Ursprünglich erschien uns die Ware als ein Zwieschlächtiges, Gebrauchswert und Tauschwert. Später zeigte sich, daß auch die Arbeit, soweit sie in Wert ausgedrückt ist, nicht mehr dieselben Merkmale besitzt, die ihr als Erzeugerin von Gebrauchswerten zukommen. Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden. Da dieser Punkt der Springpunkt ist, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht, soll es hier näher beleuchtet werden."15

"Der Wert der Ware aber stellt menschliche Arbeit schlechthin dar ... Sie ist Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt. Die einfache Durchschnittsarbeit selbst wechselt zwar in verschiednen Ländern und Kulturepochen ihren Charakter, ist aber in einer vorhandnen Gesellschaft gegeben. Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit. ... Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten Arbeit sein, ihr Wert setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar."16

In einem bestimmten Umfang kommt Marx dazu in seiner "Kritik des Gothaer Programms, Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei" 1875 zurück. In Bezug auf die erste Phase seiner Vision einer kommunistischen Gesellschaft, einer Phase mit Übergangscharakter wie er hervorhebt, die gemeinhin als sozialistische Gesellschaft oder Sozialismus bezeichnet wird, schreibt er: "Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. ... Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. ... Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt ... Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein."17

Marx legt nicht dar, wie dieser Vorgang ohne das Vorhandensein eines funktionierenden Marktes praktisch verwirklicht werden kann. Offenbar ist aber die Lösung dieses Problems eine generelle Voraussetzung für die Gestaltung der Ökonomie einer sozialistischen Gesellschaft im Wortverstand von Marx und auch des neuen historischen Projektes von Peters und Dieterich. Die Formulierung "... der Ausdehnung oder der Intensität nach ..." lässt Fragen offen. Offensichtlich muss es heißen "der Ausdehnung und der Intensität nach", weil sonst das ökonomische Grundprinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" nicht realisierbar ist. Marx formulierte seine Gedanken zu einem Zeitpunkt, da die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft noch weit in der Ferne lag. Dieses Problem der Erfassung der unterschiedlichen Intensität der Arbeit erhält aber zudem ständig wachsendes Gewicht, weil der Anteil der wissenschaftlichtechnischen, d. h. der höher qualifizierten Arbeit, fortlaufend zunimmt und die Berücksichtigung dieses Umstandes für die materielle Interessiertheit der Produzenten grundlegende Bedeutung besitzt. In diesem Punkt muss Marx offensichtlich weitergedacht werden.

Peters und Dieterich halten, wie dargelegt, dieses Grundproblem bei Nutzung der modernen Rechentechnik und moderner mathematischer Verfahren ohne Inanspruchnahme der blinden Gesetze des Marktes für lösbar. Die Erfahrung lehrt, dass allgemeine gedankliche Vorstellungen auf dem Gebiete der Ökonomie nur erste Schritte für die Erfassung und Beherrschung der vielfältigen realökonomischen Vorgänge darstellen und allzu leicht bereits für die volle Lösung gehalten werden. Aber gerade daran kann das ganze Projekt scheitern.

Eine entscheidende Rolle wird von Dieterich dabei der Peters- Rose, einer Grafik zur Erfassung der in Produkten und Leistungen enthaltenen Arbeit, zugemessen. Wegen der zentralen Bedeutung dieser Frage für die Verwirklichung der Konzeption von Peters/Dieterich soll auf die Entstehung und die Möglichkeiten der Peters-Rose detaillierter eingegangen werden.

Die Peters-Rose
Dieterich schreibt: "Kurz vor seinem Tod (2003) hat Arno Peters in bedeutender Weise das didaktische Problem des Verständnisses des Wertkalküls vorangebracht. Neben den ursprünglich von Wassily Leontieff entwickelten Input-Output-Matrizen, die es gestatten, komplexe wechselseitige Abhängigkeiten und Verflechtungen quantitativ zu kalkulieren ... gelang es dem Wissenschaftler im Januar 2002 eine Matrix zu entwickeln, die die Berechnung des Wertes eines beliebigen Produktes erlaubt. Dieses Paradigma, das Peters selbst als ›Peters-Rose‹ bezeichnete, verdeutlicht die für die Wertberechnungen der Äquivalenzökonomie notwendigen Einsatzfaktoren der Produktion, die den Gesamtwert des Produktes ergeben. Die Matrix von Peters (Peterssche Rose) ist eine deutlich didaktischere Form, das theoretische Problem der Berechnung des objektiven Wertes darzustellen, als die Input-Output- Tabellen (IOT) von Wassily Leontieff. ... Die Matrix erlaubt es, anschaulich alle Produktionsverfahren auf zwei zurückzuführen, in Übereinstimmung mit der klassischen Ökonomie und ihrem Postulat, dass ausschließlich die Arbeit in lebendiger und verdinglichter Form Wert schafft bzw. transferieren kann. ... Die Peters-Rose zeigt auf, dass der Präzisionsgrad, mit dem jeder einzelne Produktionsfaktor als Zeit bestimmt werden kann, davon abhängt, ob es sich um lebendige oder verdinglichte Arbeit handelt."

Damit werden von Dieterich Lösungen postuliert, die mit der Peters-Rose nicht erreichbar sind. Das ist einmal die Transformation der einzelnen konkreten Arbeiten auf das Einheitsmaß abstrakte Arbeit, und das ist zum anderen die Approximation (Näherungsschätzungen) der vergegenständlichten Arbeit, die als Produktionsverbrauch in das neue Produkt eingeht. Außerdem muss die Frage weiter geprüft werden, ob die ungeheure Vielzahl ökonomisch gesellschaftlicher Prozesse, die sich im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen nur als eine Tangente aus dem Wirken millionenfacher unabhängiger Willen und Verhaltensweisen äußern, computerisiert brauchbar erfassen lassen.

Eine grundlegende Fehlorientierung besteht offensichtlich in der Auffassung, dass in der auf dem Äquivalenzprinzip beruhenden Gesellschaft dem Arbeitnehmer der volle oder unverkürzte Arbeitsertrag auszuzahlen sei und man ihm als Ausdruck höchster Produzentendemokratie selbst entscheiden lassen solle, auf welche Teile davon er für gesamtgesellschaftliche Aufgaben verzichtet. Mit dieser utopischen Lassallschen Idee hat sich Marx in der Kritik des Gothaer Programms prinzipiell auseinander gesetzt und nachgewiesen, dass vom gesellschaftlichen Arbeitsertrag in einer entwickelten Gesellschaft "Abzüge vom unverkürzten Arbeitsertrag" eine ökonomische Notwendigkeit sind; z. B. zum Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, für die Ausdehnung der Produktion, für Reserve- und Assekuranzfonds, für Bildung, Gesundheitswesen, Fonds für Arbeitsunfähige.

Für das Verständnis dieser Probleme erscheint es nützlich, kurz auf die Entstehungsgeschichte der Peters-Rose einzugehen.

In einem Brief vom 2. März 2002 schrieb Peters an den Autor dieses Beitrags 18: "Deshalb sende ich Ihnen anbei die heute fertig gestellte Version V meiner ›Rose‹, von der ich hoffe, dass sie helfen kann, die Arbeitszeit aller einzelnen Produkte zu errechnen ... um dann die zweite Phase, eben die Errechnung des Wertes (= der Arbeitszeit) zu beginnen. Meiner Rose liegt ein binäres System zugrunde, der erste Ring um den Mittelkreis (›Produkt‹) teilt die in diesem Produkt (etwa einer Tasse) enthaltene Gesamtarbeitszeit, die für das Produkt notwendig war, in lebendige und verdinglichte Arbeit. An dieser Zweiteilung des ersten Ringes möchte ich gerne festhalten (bin aber auch da noch offen - nur zeigt die Rose sogleich beim ersten Blick, dass es nur um die im Produkt enthaltene Arbeit geht - was ich gut finde.) Bei den weiteren drei Ringen finden Sie immer eine Zweiteilung, die zum Schluss 16 Kategorien bringt; und in jedem, dem Produkt näheren, doppelt so breiten Segment ist immer die Summe der beiden weiter außen stehenden Segmente enthalten.

Diese und andere Fragen wurden während eines zweitägigen intensiven Meinungsaustausches in Bremen eingehend erörtert. Im Verlaufe dieser Diskussion entstand eine weitere Version der Peters- Rose als Manuskript.

Das Problem besteht darin: Die Ausfüllung und Modellierung der Peters-Rose zunächst für ein Produkt - wie es die Rose vorsieht - setzt voraus, dass alle Segmente, die in den Wert dieses Produktes eingehen, ebenfalls ausgedrückt in Arbeitsstunden, vorliegen müssen. Das wird im Allgemeinen eine beträchtliche Zahl anderer Produkte und Leistungen sein, die vorher in Arbeitsstunden erfasst sein müssen. Es entsteht ein Problem der Gleichzeitigkeit und das Problem, dass es keinen einfachen Anfang geben kann. Ob dies mit Hilfe der modernsten Rechentechnik möglich ist, muss weiter untersucht werden. Es ist zu berücksichtigen, dass bereits bei einer Glühbirne mehrere Dutzend solcher bereits transformierter Inputs erfasst werden müssen, darunter auch solche schwer abgrenzbare Leistungen wie anteilige Kosten für wissenschaftlich-technische Leistungen, Grundstücks- und Gebäudekosten, Arbeitsorganisation, Ausbildungskosten u. a. Das heißt bei jedem einzelnen Input für die Glühbirne müssten vorher deren Inputs erfasst werden, wodurch sich eine sich ständig erweiternde Kette über mehrere Etagen ergibt.

Das bedeutet, dass auch mit der Peters-Rose das Problem der Transformation der einzelnen konkreten Arbeiten auf das Einheitsmaß abstrakte Arbeit nicht gelöst ist Damit fehlt ein entscheidender Baustein für die Verwirklichung einer Äquivalenzökonomie, aber auch für jedes andere alternative Konzept, das dem Prinzip folgt: Jedem nach seiner Leistung.

Alternative Überlegungen
Angesichts dieser Sachlage ergibt sich die Schlussfolgerung, in dieser ersten Phase einer grundlegend alternativen Gesellschaft den in der sechstausendjährigen Geschichte der Warenwirtschaft ausgebildeten marktwirtschaftlichen Regulationsmechanismus neben der makroökonomischen Planung als ein Hauptsteuerungsinstrument der wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen. Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Nutzung des Wertgesetzes in der nächsten überschaubaren Zukunft für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft - zumindest so lange das Prinzip gilt Â… jedem nach seiner Leistung - ein objektives Erfordernis der Entwicklung moderner Produktivkräfte ist. Offensichtlich kann es in seiner Grundstruktur in diesem Zeitraum durch nichts anderes ersetzt werden. Die Logik dieses Gedankens führt allerdings auch zu weiteren Schlussfolgerungen, die umstritten aber notwendig sind. Wenn anerkannt wird, dass die Gesetze der Warenwirtschaft und das Wertgesetz objektive Gesetze der sozialistischen Gesellschaftsformation sind, dann setzt das die Existenz eines Marktes voraus. Das erfordert aber zugleich die Anerkennung der Wirkung von Angebot und Nachfrage sowie der Konkurrenz bzw. des Wettbewerbs zwischen ökonomisch und rechtlich selbständigen Akteuren im Rahmen demokratisch bestimmter und gesellschaftlich zu gewährleistender Ordnungsprinzipien.

Das ist keine Abwendung von Marx, sondern das Weiterdenken seiner fundamentalen Ideen unter Berücksichtigung der seither in einhundertfünfzig Jahren gesammelten Erfahrungen. Offensichtlich sind neue Überlegungen erforderlich, die auch die Überprüfung bisher gültiger Grundsätze und nicht mehr die Realität entsprechender Dogmen erforderlich machen.

Was spricht gegen eine solche Schlussfolgerung? Es kann eingewandt werden, dass der gegenwärtig bestehende und sich noch verstärkende neoliberale mainstream und die bestehenden gesellschaftlichen Macht- und Manipulierungsverhältnisse eine solche Entwicklung nicht zulassen. Die Vertreter dieser Auffassung müssen sich fragen lassen, auf welch anderem Weg die bestehende Ordnung geändert werden soll; wenn nicht durch die Gewinnung parlamentarischer Mehrheiten, dann bleibt nur der gewaltsame Umsturz der bestehenden Ordnung. Wo aber sind die dafür erforderlichen gesellschaftlichen Kräfte? Bedeutet das nicht, die Veränderung der bestehenden Verhältnisse auf eine ferne Zukunft zu verschieben, unter dem Motto, es geht den Menschen noch nicht schlecht genug? Das Argument, dass solche Mehrheiten nicht denkbar seien, wird bereits heute durch die aktuelle Entwicklung z. B. angesichts der Ereignisse auf dem südamerikanischen Kontinent oder die Ablehnung des Entwurfs einer europäischen Verfassung in Frankreich und Holland zunehmend widerlegt. Selbst die Bundestagswahl 2005 hat sichtbar gemacht, dass auf demokratischem Wege politische und ökonomische Kurskorrekturen kleineren und auch größeren Ausmaßes erzwingbar sind. Das demokratische Potenzial innerhalb der SPD, der Linkspartei sowie der Grünen wäre bereits gegenwärtig, wenn ihre Bündelung gelänge, ausreichend, um solche Rahmenbedingungen schrittweise zu schaffen. Auch im bürgerlichen Lager finden sich Kräfte, die für eine solche Entwicklung gewonnen werden könnten. Auch die Installierung eines mehr oder weniger sozialstaatlichen Konzepts in der alten BRD nach dem Zweiten Weltkrieg kann als Beispiel hierfür angeführt werden.

Was spricht für eine solche Schlussfolgerung?
Es ist nach dem Scheitern des ersten Versuchs zur Schaffung einer alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gegenwärtig außer dem demokratisch kontrollierten marktwirtschaftlichen Regulationsmechanismus kein Konzept sichtbar, das im Rahmen zumindest einer längeren Übergangsphase brauchbare ökonomische Steuerungsinstrumente beinhaltet.

China, Vietnam und in bestimmtem Maße Kuba, die vor der Frage standen, Schlussfolgerungen aus der bisherigen Entwicklung sozialistischer Alternativen zu ziehen, haben sich für die Nutzung der marktwirtschaftlichen Regulationsinstrumente in mehr oder weniger großem Ausmaß entschieden. In China ist der Begriff "sozialistische Marktwirtschaft" in das Parteiprogramm und die Verfassung aufgenommen und Privateigentum an Produktionsmitteln in breitem Rahmen bei zentraler makroökonomischer Steuerung zugelassen worden. Von verschiedenen Seiten wird diese Entwicklung als Verrat am Marxismus eingeschätzt und heftig kritisiert; darunter von Leuten aus Europa einschließlich solcher aus dem Gebiet der früheren UdSSR, die keinen Ausweg aus der Krise des sowjetisch geprägten Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells gefunden haben. Auch Dieterich schreibt: "Die durch Deng Xiao Peng angestoßene "Installation eines marktwirtschaftlichen bestimmten Modernisierungsweges" ließe "China unweigerlich im Kapitalismus des XXI. Jahrhunderts enden". Es erhebt sich die Frage, ob eine solche Einschätzung nicht Ausdruck einer sehr vereinfachten, undifferenzierten Betrachtungsweise und Ausdruck von unzulässiger Überheblichkeit ist. China hat im Verfolg dieses Weges eine fast unglaubliche ökonomische und technische Entwicklung verwirklicht. China ist heute einer der Hauptgläubiger der USA und einer der Hauptfaktoren der währungspolitischen und ökonomischen Stabilität im südostasiatisch-pazifischen Raum. Dabei dürfen selbstverständlich die damit verbundenen großen Probleme der sozialen und regionalen Entwicklung nicht unterschätzt werden. Dem wird gegenwärtig durch makroökonomische Steuerung bei Nutzung des marktwirtschaftlichen Regulationsmechanismus entgegen gewirkt. Unbestritten ist, dass dieser Weg eine Gratwanderung darstellt, deren Ausgang ungewiss ist.

In Vietnam vollzieht sich gegenwärtig eine ähnliche Entwicklung. Vietnam wird deshalb auch als einer der südost-asiatischen Tigerstaaten bezeichnet. Offenbar handelt es sich sowohl bei China als auch bei Vietnam unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus dem Scheitern der realsozialistischen Variante in Europa um den Versuch, Wege zur Herausbildung einer postkapitalistischen Gesellschaft zu finden, die den Bedingungen der Existenz eines mächtigen kapitalistisch- imperialistischen Weltsystems und dessen offenem und versteckten Druck Rechnung trägt und die den unvermeidlichen ökonomischen und politischen Auseinandersetzungen gewachsen sind.

Sind gegenwärtig in diesen Staaten realistischerweise andere Modelle für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hin zur Schaffung einer alternativen postkapitalistischen Entwicklung vorstellbar?

Die Konzeption der Nutzung des marktwirtschaftlichen Regulationsmechanismus für den Aufbau einer alternativen Gesellschaft geht von der marxistischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft aus. Er steht in Übereinstimmung mit dem von Marx besonders in der Kritik des Gothaer Programms entwickelten Grundgedanken zur Schaffung einer alternativen, sozialistischen Gesellschaft, der das Prinzip zugrunde liegt "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung". Marx und Engels sprechen mehrfach von der Notwendigkeit einer ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft als einer Übergangsgesellschaft. aber allein die Tatsache, dass sie zwei verschiedene ökonomische Grundprinzipien für diese unterschiedlichen Phasen der kommunistischen Gesellschaft formulierten, macht deutlich, dass auch die erste, die sozialistische Phase, nicht als ein kurzfristiger Zeitabschnitt, sondern für längere Zeit als eine eigenständige, stabile Gesellschaftsformation eingeschätzt wurde.

Diese Konzeption ist auch mit folgenden Aspekten verbunden, deren Rolle nicht unterschätzt werden sollte. Bei einem solchen Weg muss nicht die Frage einer abrupten, grundlegenden Veränderung der ökonomischen Beziehungen, der Steuerungsinstrumente und der in Jahrhunderten gewachsenen Alltagskultur gestellt werden. Die gesellschaftliche Entwicklung könnte sich in einem Umfeld vollziehen, das den Menschen vertraut ist; dadurch könnten auch die Ängste einer Bevölkerungsmehrheit in den entwickelten Ländern abgebaut und ihre Gewinnung für eine demokratische Veränderung des Bestehenden in Richtung einer solidarischen, ökologisch fundierten Gesellschaftsentwicklung wesentlich erleichtert werden. Es spricht viel für die ebenso zielgerichtete wie sensible Fortführung des in Jahrhunderten Gewachsenen.

Siegfried Wenzel - Jg. 1929, Diplomökonom, studierte Volks- und Betriebswirtschaft an der Universität Leipzig, arbeitete in der Leitung der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft sowie der Staatlichen Plankommission der DDR, zuletzt als Stellvertreter des Vorsitzenden verantwortlich für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, war Mitglied der Regierungsdelegation zur Vorbereitung der Währungsunion BRD - DDR, publizierte vor allem zur Wirtschaftsgeschichte der DDR, u. a. "Was war die DDR wert?" und "Was kostet die Wiedervereinigung? " (2003). Zuletzt in UTOPIE kreativ: Erfahrungen aus dem ersten Sozialismusversuch in Europa, Heft 133, (November 2001).

1 Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, Kai Homilius Verlag Berlin 2006.

2 Ebenda, S. 21.

3 Ebenda, S. 78.

4 Arno Peters: Computer-Sozialismus, Verlag Neues Leben Berlin 2000, S. 12.

5 Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, a. a. O., S. 95.

6 Ebenda, S. 79.

7 Ebenda, S. 78

8 Arno Peters ebenda, S. 32.

9 Ebenda, S. 38/39.

10 Ebenda, S. 43.

11 Heinz Dietrich ebenda, S. 145 f.

12 Ebenda, S. 149.

13 Ebenda, S. 151.

14 Ebenda, 153.

15 Karl Marx: Das Kapital, in: MEW Bd. 23, S. 56.

16 Ebenda, S. 59

17 Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, in: MEW Bd. 19, S. 20 f.

18 Der Brief vom 2. 3. 2002 befindet sich im Privatarchiv des Autors.


in: UTOPIE kreativ, H. 191 (September 2006), S. 811-822

 

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay ANDREAS HEYER: Stationen einer Enttäuschung. Kleists Briefe aus Paris (1801); Spanischer Bürgerkrieg 1936-1939 WALTHER L. BERNECKER: Spanischer Bürgerkrieg und Vergangenheitsbewältigung. Geschichtspolitik und Erinnerungsansprüche in der Demokratie 1975-2005; MIRCO BEER: Bericht über die Kommandierung nach Spanien vom 10. Oktober 1936 bis 3. Juni 1939; Gesellschaft - Analyse & Alternativen SIEGFRIED WENZEL: Sozialismus des 21. Jahrhunderts? HORST DIETZEL: "Neue Herausforderungen" in der Programmatik der Linken; MICHAEL FABER, JONAS BENS: Für eine moderne und bunte Linke! Die soziale Frage umfasst mehr als Hartz IV und Vermögenssteuer und sie braucht Antworten!; DIRK JÖRKE: Von den Grünen lernen heißt verlieren lernen; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Horst Ehmke: Im Schatten der Gewalt (HARALD LANGE); Patrice Bollon: Cioran. Der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold (KAI AGTHE); Christine Hatzky: Julio Antonio Mella (1903 - 1929). Eine Biographie (REINER TOSSTORFF); Volker Freystedt, Eric Bihl: Equilibrismus - Neue Konzepte statt Reformen für eine Welt im Gleichgewicht (JÜRGEN MEIER); Hansjörg Herr, Kurt Hübner: Währung und Unsicherheit in der globalen Ökonomie; Michael Heine, Hansjörg Herr: Die Europäische Zentralbank (ULRICH BUSCH) Summaries