Der Mythos von den Leistungseliten

Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft

Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Campus Verlag GmbH Frankfurt/Main 2002, 208 S. (19,90 EUR)

Der Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, ist über den puren Subsistenzdruck hinaus ein wichtiger Leistungsansporn in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Leistung muß sich lohnen! Jeder ist seines Glückes Schmied!, wer kennt nicht diese Sprüche, die unablässig durch die Medien transportiert werden. Wer sich anstrengt und Fleiß aufbietet, bringt es zu etwas, lautet die Verheißung der "Leistungsgesellschaft". An diesem ideologischen Fundament wagt Michael Hartmann, Soziologie-Professor an der TU Darmstadt, zu rütteln. Schon in der Einleitung stellt Hartmann seinen Scharfsinn und seine aufklärerische Intention unter Beweis. Süffisant macht er auf die "Doppelbödigkeit und ungewollte Ironie" (S. 16) aufmerksam, die Friedrich von Bohlen mit einem Aufsatz für den Internetauftritt der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erregt (www.chancenfueralle.de). Bohlen fordert darin mehr Eigeninitiative in Deutschland, mehr "Lust auf Selbständigkeit", mehr Mut zum Scheitern und gibt sein Credo preis: "Nur wer etwas wagt, kann gewinnen!". Damit werbe, so Hartmanns feinsinniges Urteil, "ausgerechnet der wohlhabende Spross einer der ältesten Industriellenfamilien Deutschlands, der Lieblingsneffe von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, für das Motto ›Chancen für alle‹".

Die Stärke des Buches liegt in dem so originellen wie simplen Ansatz, mit dem Hartmann die gesellschaftlichen Erfolgsmechanismen unter die wissenschaftliche Lupe nimmt. In einer akribischen Vollerhebung untersucht er die Lebensläufe von 6 500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985. Hartmann und seine Mitarbeiter ermittelten über den Beruf des Vaters die soziale Herkunft der Promovierten und recherchierten anhand der einschlägigen Who-is-Who- Nachschlagewerke ihren weiteren beruflichen Werdegang. Die Ergebnisse der Analyse lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig.

Seit langem ist wissenschaftlich belegt, daß der Hochschulzugang und in noch stärkerem Ausmaß eine Promotion hochgradig sozial selektiv sind (vgl. S. 53 ff.). Die Schule kann das unterschiedlich verteilte physische und kulturelle Kapital des familiären Hintergrundes nicht ausgleichen, wie die PISA-Studie einmal mehr bestätigt hat. Die Studie Hartmanns fördert darüber hinausgehend die deprimierende Tatsache zutage, daß selbst wenn die Kinder aus der Arbeiterklasse und den Mittelschichten die Hürde einer Promotion überwunden haben, die soziale Herkunft letztendlich den entscheidenden Ausschlag für die berufliche Karriere gibt. Die Kinder aus dem gehobenen Bürgertum haben gegenüber diesen eine um 46 % höhere, die des Großbürgertums eine doppelt so hohe Chance, nach einer Promotion in wirtschaftliche Führungspositionen aufzusteigen (vgl. S. 79). Genauer gesagt sind es die Söhne, die avancieren. Promovierte Frauen haben immer noch eine um 90 % geringere Chance, in der Wirtschaft Karriere zu machen (vgl. S. 77).

Für Hartmann liegen die Ursachen dafür klar auf der Hand. Es sind die "feinen Unterschiede " (Bourdieu), der Habitus, der einem den Weg in die Chefetagen der großen deutschen Unternehmen ebnet. Besonders "die Vertrautheit mit den in den Vorstandsetagen gültigen Dress- und Verhaltenscodes, eine breite bildungsbürgerlich ausgerichtete Allgemeinbildung, eine ausgeprägte unternehmerische Einstellung ... und als wichtigstes Element persönliche Souveränität und Selbstsicherheit " (S. 122) müssen bei dem Bewerber vorhanden sein. Die Einstellungen zu den Top-Positionen der deutschen Wirtschaft folgen offensichtlich dem Muster: Gleich und gleich einstellt sich gern. Die soziale Öffnung der Universitäten hat also keine Öffnung der Laufbahnen für alle gesellschaftlichen Schichten mit sich gebracht. Hartmann konstatiert vielmehr, daß "statt einer sozialen Öffnung ... hier sogar eine weitere Schließung zu beobachten (ist)" (S. 79) und erteilt auf der Grundlage seiner Ergebnisse soziologischen Weichwascher- Konzepten einer angeblichen "Wahlbiographie " (Beck) eine klare Absage.

Bei Karrieren in der Justiz, der Politik und öffentlichen Unternehmen sieht das Bild ein wenig anders aus. Dort haben Kinder aus der Arbeiterklasse und Mittelschichten bessere Aufstiegschancen. Hartmann schreibt dies den formalisierteren Bewerbungsverfahren und dem größeren Einfluß der großen Volksparteien auf die Stellenbesetzung zu. Angesichts schlechterer Karrierechancen in der Wirtschaft selbst für Kinder aus dem Großbürgertum prognostiziert Hartmann, daß diese zunehmend die Kinder niederer sozialer Herkunft in diesen Bereichen verdrängen werden.

Wer mit der bildungspolitischen Entwicklung in der BRD vertraut ist und Tabellen zu lesen vermag, der kann auf den etwas trockenen Mittelteil (Kapitel 2 bis 4) getrost verzichten, der sich weitgehend in der Verbalisierung der erstellten Tabellen und erläuternden Hintergrundinformationen erschöpft. Die Leser sollten sich dafür mehr Zeit für die locker geschriebene Einleitung und die lohnenswerten Schlüsse des Autors nehmen, dem es mit seinem Ansatz gelingt, das bürgerliche Leistungsideal als ideologisches Blendwerk der Herrschenden zu entlarven. Der real existierende Kapitalismus sieht eben anders aus als die glanzpapierne Theorie einer klassenlosen Leistungsgesellschaft, die um ihn gebaut wird. Denn der Tellerwäscher, der Tellerwäscher geblieben ist, ist den bürgerlichen Medien keine story wert und doch die traurige Regel.

in: UTOPIE kreativ, H. 150 (April 2003)