(Dieses Interview ist erschienen in: marx21, Heft 6, Juni 2008)
marx21: Apo, dass chinesische Arbeiter ausgebeutet werden,
ist bekannt, dass sie sich dagegen wehren weniger. Hast du Zahlen über
Streiks und Proteste?
Apo Leong: Die Regierung und der Geheimdienst wissen die Zahlen,
rücken sie aber nicht raus. Die Streikstatistiken gelten als
„vertraulich". Da es laut der Kommunistischen Partei China keine
Klassenspaltung gibt, darf es auch keinen Klassenkampf geben. Doch
wo Ausbeutung ist, ist natürlich auch Klassenkampf. Die chinesische
Regierung redet von 80.000 „Zwischenfällen" im letzten Jahr -
überwiegend im stark industrialisierten Perlflussdelta. Die Mehrzahl
davon sind Arbeiter- und Bauernproteste: Streiks, Straßenblockaden,
Demonstrationen. Die Zahl der Arbeitskämpfe wächst mit rund 30 Prozent
pro Jahr dreimal so schnell wie die Wirtschaft insgesamt. Das
reflektiert zum einen, dass die Zahl der Arbeiter insgesamt steigt,
aber auch die Bereitschaft, die Bedingungen nicht länger hinzunehmen.
Wer wehrt sich und warum?
Unterschiedliche Gruppen von Arbeitern haben unterschiedliche Gründe zu
protestieren. Eine große Gruppe steht gar nicht mehr im Arbeitsprozess,
nämlich die Arbeiter der ehemaligen Staatsindustrien. Im Laufe der
Öffnung und der Privatisierungen der 90er Jahre wurden zahlreiche große
Staatsbetriebe dichtgemacht und die Belegschaften entlassen. Die
Regierung geht von 30 Millionen Entlassenen aus. Oftmals wurde den
Arbeitern eine Kompensation versprochen, entweder Geld oder ein neuer
Job. Doch oftmals kam dann nichts. Wir reden hier von Arbeitern, denen es im Vergleich zur Landbevölkerung
in den 70ern und 80ern gut ging und die jetzt vor dem Nichts stehen.
Deshalb gibt es aus dieser Gruppe heraus, die auch eine Tradition von
gemeinsamer Arbeit hat, jetzt auch gemeinsamen Protest. Die wesentliche
Forderung ist höhere Abfindungen in Form von Arbeitslosengeld.
Die zweite große Gruppe sind die 150 Millionen Wanderarbeiter, die
unter extremen Bedingungen ausgebeutet werden. Wesentliche Gründe für
ihren Protest sind zu niedrige Löhne - die Inflation steht bei acht
Prozent. Ein anderes großes Thema sind ausstehende Löhne. Das Problem ist
besonders gravierend in der Bauindustrie, wo bei einer Befragung Ende
2007 72,2 Prozent der Arbeiter angegeben haben, dass Löhne verspätet
oder gar nicht gezahlt wurden. Das ist besonders hart, weil die
Wanderarbeiter normalerweise mit dem Lohn ihre Familie auf dem Land
unterstützen.
Kurz von dem chinesischen Neujahrsfest steigt die Zahl der Proteste
steil an, weil die Arbeiter zum Feiern zurück in ihre Heimatorte reisen
und natürlich eine volle Lohntüte mitnehmen wollen. Oft entzünden sich Proteste auch an ganz elementaren Fragen wie Respekt
und Menschenwürde - Arbeiter begehren gegen Misshandlungen in den
Betrieben auf. Die Misshandlungen sind manchmal indirekt: Fehlender
Arbeitsschutz oder die gängige Praxis, die Arbeiter in überfüllten
Wohnheimen einzusperren, hinter Mauern und Stacheldraht. Aber auch
direkte Misshandlungen, Beleidigungen und Schläge durch Management,
Vorarbeiter und betrieblichen Sicherheitsdienst sind weit verbreitet.
Wie sieht es auf dem Land mit dem Potential für Protest aus?
Es gibt zahlreiche Bauernproteste. 325 Millionen Chinesen sind Bauern, die Mehrheit lebt auf dem Land. Die Landfrage ist zentral in China. Die großen Umsiedlungen von
Millionen Menschen anlässlich des Baus des Dreischluchtenstaudamms sind
bekannt. Viele Bauern warten heute noch darauf, ein neues, nicht
überflutetes Stück Land zugewiesen zu bekommen.
Dazu kommt eine große Enteignungswelle, die vor allem Kleinbauern
trifft. Der Staat weist Ackerland als Industriefläche oder auch
Golfplätze für Neureiche aus, um Investoren anzulocken. Den Bauern wird
eine Entschädigung versprochen, die dann aber nicht kommt. Von
1997-2004 gingen so 6,6 Mio. Hektar Anbaufläche verloren, wovon 40 Mio.
Bauern mitsamt ihrer Familien betroffen waren.
Für Unmut sorgen auch die Umweltverschmutzung und die gängige Praxis,
dass lokale Parteisekretäre Sondersteuern für die Bauern erfinden, die
im wesentlichen ihre eigenen Taschen füllen. Die Arten und Weisen, gegen diese Missstände zu protestieren, sind
vielfältig. In einem Dorf wurden beim traditionellen Drachentanz die
alten Verse durch Slogans gegen ungerechte Besteuerung ersetzt. Weniger
subtil war der Protest von Bauern in Huaxi 2005: Nachdem die Behörden
über Monate die Beschwerden der Bauern über Umweltschäden durch eine
neue Fabrik ignoriert hatten, sammelten sich über 20.000 Bauern im
Dorf. Der Protest verwandelte sich nach Übergriffen der Polizei zum
Aufstand - mit Angriffen auf die Polizei und lokale Funktionäre. Dieser
Aufstand machte sogar international Schlagzeilen - ich vermute aber,
dass vieles mehr geschieht, ohne dass wir davon erfahren.
Welche Rolle spielt die offizielle Staatsgewerkschaft „All-Chinesische
Gewerkschaftsbund" (ACCGB). Vertritt sie die Interessen der Arbeiter?
Nein, das tut sie leider nicht - obwohl sie organisatorisch stark
aufgestellt ist. Der ACCGB organisiert 193 Millionen Arbeiter, davon 60
Millionen Wanderarbeiter. Der Organisationsgrad in den Betrieben liegt
bei durchschnittlich 70 Prozent. Der ACCGB beschäftigt eine halbe
Million Gewerkschaftssekretäre. Der ACCGB ist also eine Macht - nur nützt das den Arbeitern nichts.
Denn die Staatsgewerkschaft ist de facto der Arm der Kommunistischen
Partei in die Betriebe hinein. Offizielles Ziel der Gewerkschaft ist
laut Gewerkschaftsgesetz, die betriebliche Produktivität und damit die
ökonomische Entwicklung Chinas zu fördern. Das geht normalerweise zu
Lasten der Arbeiter.
Das Problem macht sich schon in der Person des für den Betrieb
zuständigen Gewerkschaftssekretärs fest - der ist meist auch
stellvertretender Geschäftsführer und zuständiger Parteisekretär. Der Arbeiterbegriff ist im chinesischen Gesetz eh sehr weit gefasst,
weil er nämlich Belegschaften und Management umfasst. Skurrilerweise
wurden auch schon Manager für Verdienste für die Gewerkschaft
ausgezeichnet - soll heißen, Dienste für die Partei. Der Ehrentitel
„Held der Arbeit" wurde an vier Unternehmer vergeben und 17 Unternehmer
wurden als „vorbildliche Arbeitnehmer" geehrt.
Das Gewerkschaftsgesetz sieht kein Streikrecht vor. Dieses Recht wurde
1982 aus der chinesischen Verfassung gestrichen mit der Begründung, das
politische System habe „Probleme zwischen dem Proletariat und den
Unternehmenseignern beseitigt". Da in der wirklichen Welt aber
permanent die Interessengegensätze von Managern und Arbeitern
aufeinanderprallten, wurde 2001 ein Gesetz erlassen, welches
Verhandlungen auf betrieblicher Ebene zulässt. Die gibt es auch, wobei
die Staatsgewerkschaft nicht versucht, die Belegschaften zu
mobilisieren, sondern den Konflikt zu moderieren und zu schlichten,
damit es gar nicht erst zu Streiks kommt. Bei sehr kampfbereiten
Belegschaften wird der Druck auf die Gewerkschaftsfunktionäre so groß,
dass bei den betrieblichen Vereinbarungen tatsächlich etwas für die
Arbeiter rausspringt. Das reflektiert aber eher das gestiegene
Selbstbewusstsein der Belegschaften als einen Kurswechsel der
Gewerkschaft.
Gibt es von der Staatsgewerkschaft unabhängige Gewerkschaften in China?
Nein. Der Aufbau von Gewerkschaften neben der Staatsgewerkschaft ist
verboten und wird auch mit allen Mitteln bekämpft. Betriebliche
Aktivisten, die unabhängige gewerkschaftliche Strukturen aufbauen
wollen, haben gleich mir drei Kräften zu kämpfen: Dem Management, der
Staatsgewerkschaft und dem Staat in Form von Polizei und Geheimdienst. Das ist gefährlich, manchmal lebensgefährlich. Huang Qingnan, ein
Arbeiteraktivist mit dem wir seit längerem zusammenarbeiten, wurde am
20 November letzten Jahres angegriffen, als er das Zentrum für
Wanderarbeiter in Dagongzhe verließ. Die Angreifer stachen mehrfach auf
ihn, sein Bein ist dauerhaft geschädigt. Schon vorher waren die
Mitarbeiter des Zentrums, die sich für die Rechte der Wanderarbeiter
einsetzen, mehrfach bedroht worden. Oft heuern die staatlichen Organe
oder das Management zur Einschüchterung von Aktivisten Schlägerbanden
an.
Auch eine regionale oder gar nationale Vernetzung von Protesten gibt es
nicht. Von so etwas wie der Gründung und dem Erfolg der Solidarnosc in
Polen Anfang der 80er sind wir weit entfernt. Die Situation der Arbeiterbewegung in China ähnelt eher der in England
im 19. Jahrhundert als der im heutigen Westeuropa: Eine schnelle
Industrialisierung saugt Millionen Menschen vom Land in die Betriebe.
Diese Menschen haben keine Tradition von Kampf und Organisation, sind
aber mit sehr harten Bedingungen konfrontiert. So entstehen spontane
Ad-hoc Proteste, Einer steht auf und sagt „Ich nehme das nicht mehr
hin, ich bin ein Mensch und werde behandelt wie ein Tier". Andere
folgen, und plötzlich wird das Management von aufgebrachten
Belegschaften in Verhandlungen gezwungen, Zugeständnisse werden
durchgesetzt. So kommt Erfahrung zu Erfahrung, eine Tradition und auch
Selbstbewusstsein bildet sich. Daraus kann sich in einem langen
Erfahrungsprozess das Fundament einer unabhängigen Arbeiterbewegung
bilden. Nichts anderes ist ja auch der Gründung zum Beispiel der
westeuropäischen Gewerkschaften vorausgegangen. Zu diesem Prozess
versuchen wir vom Asian Monitor Resource Center einen Beitrag zu
leisten, indem wir Erfahrungen von Protesten weiterverbreiten und
Aktivisten vor Ort Analysen und Infos über ihre Rechte zur Verfügung
stellen.
2009 jährt sich die Niederschlagung der Demokratiebewegung zum 20ten
mal. Gibt es Kontinuitäten zwischen der Bewegung von damals und der
Arbeiterbewegung heute?
Ja und nein. Zuerst mal ist wichtig zu wissen, dass an der
„Studentenbewegung 1989" sehr viele Arbeiter teilgenommen haben. Die
Bewegung startete als politische Bewegung gegen Korruption und für
politische Öffnung. Die Besetzung des Platzes des Himmlischen Friedens
durch die Studenten Mitte Mai war ein Einschnitt. Ab diesem Moment
breitete sich die Bewegung in der Arbeiterschaft aus. Am 18. Mai 1989
demonstrierten mehr als eine Million Menschen in Solidarität mit den
Studenten - darunter zahlreiche Arbeiter unter dem Banner ihrer
Fabriken.
Arbeiter fingen an, sich außerhalb der Kontrolle der Parteiführung zu
organisieren und unabhängige Gewerkschaften zu gründen. In zahlreichen
Fabriken entstanden autonome Arbeiterkomitees. Die größte und
bedeutendste dieser unabhängigen Gewerkschaften war der am 17. Mai
gegründete Autonome Arbeiterverband Peking, der Anfang Juni bereits
20.000 registrierte Mitglieder zählte. Diese Ausweitung in die Arbeiterschaft war der wesentliche Grund, warum
die Parteiführung die Bewegung niederschlagen ließ. Auch bei der
Repression gilt: Sie traf nicht nur die Führer der Studenten, auch in
den Betrieben wurde jeder Ansatz von Selbstorganisation wieder
ausgemerzt. Leider ist durch die Abwicklung der Staatsindustrie auch
viel der Erfahrung des Aufbruchs von 1989 verloren gegangen - die
Aktivisten von damals sind die Arbeitslosen von heute.
Der Protest damals hatte einen politischen Auslöser - Korruption und
enttäuschte Reformhoffnungen. Dadurch kam es sofort zur Konfrontation
mit Staat und Partei. Diese Konfrontation hat die Bewegung verloren. Die Proteste heute gehe einen anderen Weg: Sie starten als ökonomische
Proteste, Thema sind niedrige und ausbleibende Löhne, Arbeitszeiten und
-bedingungen. Die meisten Arbeiter vermeiden politische Slogans, um die
Partei nicht direkt herauszufordern. Aber durch die enge Verzahnung von
Management, Gewerkschaft und Partei wird jeder ökonomische Kampf
politisch aufgeladen. Die bloße Existenz von Streiks und Protesten
stellt ja schon die KP-Ideologie der „Klassenharmonie" in Frage.
Deshalb denke ich, dass der Kampf für Arbeiterrechte und der Kampf für
mehr Demokratie ein Kampf sind.
Apo, was sind deine Erwartungen an die internationale Gewerkschaftsbewegung und speziell an die deutschen Gewerkschaften?
Wir brauchen mehr Austausch von Angesicht zu Angesicht, persönliche
Treffen. Wir sollten ein internationales Netzwerk aufbauen und
Erfahrungen austauschen. Es ist doch so: Was die chinesische Arbeiterbewegung macht, ist
relevant für Arbeiter in der ganzen Welt und umgekehrt. Nach China
fließen Investitionen von Konzernen aus der ganzen Welt, natürlich auch
aus Deutschland. In Deutschland wurden über Jahrzehnte von den
Arbeitern höhere Löhne und Sozialstandards durchgesetzt, von denen aber
Konzerne wie Siemens in ihren chinesischen Fertigungsorten natürlich
nichts wissen wollen. Das ist nicht nur für die ausgebeuteten
chinesischen Arbeiter ein Problem, sondern auch für die Arbeiter in
Deutschland - mit Verweis auf das Lohnkostengefälle werden in
Deutschland Zugeständnisse erpresst. Deshalb müssen wir gemeinsam einen
der Grundgedanken der Arbeiterbewegung aus der Gründungszeit
wiederbeleben: Den Internationalismus. Das Kapital hat sich
globalisiert, die Arbeiterbewegung muss es auch tun.
marx21-Schwerpunkt: "Wie rot ist China?"
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