Im Großteil der sozialwissenschaftlichen
Literatur wird das Phänomen der Migration in erster Linie aus dem
Blickwinkel der Integration betrachtet. „Integrationsfixierung“ nennt
Helen Schwenken das und macht schon zu Beginn ihres mit 370 Seiten
recht umfangreichen Buches deutlich, dass sie hierin eine
problematische Verengung der Thematik sieht. Das Anliegen der Kasseler
Politikwissenschaftlerin, die selbst im Untersuchungsfeld politisch
aktiv ist, ist es, die Möglichkeitsbedingungen politischer
Mobilisierung von irregulären MigrantInnen auszuloten. In ihrer
Dissertation stellt sie MigrantInnen als handelnde Subjekte n den
Mittelpunkt ihrer Analysen, nennt und untersucht jedoch auch eine Reihe
anderer AkteurInnen, die im Konfliktfeld Migration agieren. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie den Kontextstrukturen, aus denen sich der Grad der Offenheit für
politische Anliegen von MigrantInnen ableiten lässt. Gleichzeitig
werden die bewussten oder unbewussten Strategien beleuchtet, die von
staatlicher Seite, NGOs und MigrantInnen erfolgt werden.
Ein Ergebnis der Studie ist die Unterscheidung von drei
Mobilisierungstypen, die jeweils andere TrägerInnen und Ziele haben und
über unterschiedliche Handlungsspielräume verfügen. Hierbei fasst die
Autorin „politische Mobilisierung“ mit dem Verweis auf die Theorie
Antonio Gramscis soweit, dass auch staatliches Handeln unter den
Begriff fällt.
Der erste Mobilisierungstyp ist das vorwiegend staatlich betriebene
„repressive Migrationsmanagement“, das wohlweislich von „illegaler
Migration“ spricht und ihre Bekämpfung zum Ziel hat. Zweitens gibt es
den Ansatz der Re-Regulierung“, der überwiegend von großen pro-migrant-Organisationen und advocacy-Netzwerken
vertreten wird. Sie wollen Migration regulieren und gerecht(er)
gestalten. Drittens lässt sich noch eine sehr heterogene Akteursgruppe
ausmachen, deren Maxime sich mit der Forderung des „Rechts auf Rechte“
charakterisieren lässt. Neben MigrantInnen-Selbstorganisationen lassen
sich auch einige pro-migrant-Organisationen in diese
Kategorie einordnen. Sie betrachten irreguläre Migration als eine
soziale Tatsache und versuchen nicht nur die konkreten
Lebensbedingungen der irregulären MigrantInnen sondern auch ihre
rechtliche Situation zu verbessern und die Kräfteverhältnisse im
Konfliktfeld der Migration grundsätzlich zu verschieben.
Anhand von zwei Fallbeispielen werden die Voraussetzungen erfolgreicher
politischer Mobilisierung der „schwachen Interessen“ von irregulären
MigrantInnen aufgezeigt.
Bei der ersten Fallstudie handelt es sich um das Rote-Kreuz-Zentrum in
Sangatte an der Nordküste Frankreichs, in dem ich von 1999 bis 2002
insgesamt etwa 80.000 Menschen aufhielten, die irregulär nach England
einreisen wollten. Helen Schwenken vollzieht die Auseinandersetzungen
auf den verschiedenen Ebenen nach. Sie schildert detailreich die
Entwicklung verschiedener Formen des migrantischen Widerstands, der
über Demonstrationen, die Veröffentlichung von Forderungen bis zu
Besetzungsaktionen und Eindringen in den Eurotunnel reichte. Sie
argumentiert, dass sich in den Grenzräumen auf spezifische Weise
Macht-, Wissens- und Herrschaftsverhältnisse überschneiden, welche
diese zu prädestinierten „terrains of resistence“ machen.
Auch der Konflikt auf staatlicher Ebene wird beleuchtet, um das
Zustandekommen der Konfliktkonstellation zu erläutern. Der
Elitenkonflikt zwischen französischer und englischer Regierung habe es
ermöglicht, so ihre These, dass das Zentrum des Roten Kreuzes überhaupt
über einen relativ langen Zeitraum als Zwischenstation für MigrantInnen
Bestand hatte und eine breite gesellschaftliche Debatte anstieß, in der
auch die MigrantInnen und ihre Verbündeten als AkteurInnen sichtbar
wurden.
Bei der zweiten Fallstudie handelt es sich um eine Untersuchung des
RESPEKTNetzwerks von und für MigrantInnen, die ohne gültigen Arbeits-
und Aufenthaltsstatus in Privathaushalten Arbeiten verrichten. Im
Gegensatz zu den relativ spontanen Protesten in Sangatte, die nur in
der speziellen räumlichen und zeitlichen Konstellation
Wirkungsmächtigkeit entfalteten, werden bei der Untersuchung des
RESPEKT-Netzwerks die Kontinuität der Interventionen und das geschickte
strategische Vorgehen hervorgehoben.
Die Fallstudien, welche auch für sich allein stehen können, werden
vielfach mit den Analysen über den Einfluss der neu entstehenden
Strukturen der Europäischen Union und Überlegungen zu möglichen
Bündnispartnern der irregulären MigrantInnen verschränkt. Besonders
aufschlussreich ist ein Kapitel, in dem Erfahrungen beim Versuch der
Kooperation mit Gewerkschaften zusammengetragen werden. Helen Schwenken
plädiert für ein stärkeres Engagement der Gewerkschaften und zählt
verschiedene Gründe für deren Zurückhaltung auf. Struktur und Größe der
Gewerkschaften haben oftmals eine gewisse Trägheit zur Folge. Auf neue
Entwicklungen im Arbeitssektor wie dem Anstieg informeller, prekärer
Erwerbsarbeit und der Internationalisierung des Arbeitsmarkts wird nur
zögerlich reagiert. Außerdem müssen sich migrantische Initiativen gegen
rassistische Ressentiments in den Reihen der Gewerkschaftsmitglieder
durchsetzen. Die Autorin nennt aber auch Beispiele für erfolgreiche
Ansätze. Hierzu zählen der von der IG BAU gegründete „Europäische
Verband der Wanderarbeiter“ und die amerikanischen worker centers.
Eine besonders kreative Maßnahme stellt die Entscheidung der britischen Transport and General Workers’ Union dar, Gewerkschaftsmitgliedskarten unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu vergeben.
Dieses Dokument ermöglicht es auch MigrantInnen „sans papiers“ sich
auszuweisen, wenn sie in eine Polizeikontrolle kommen oder ins
Krankenhaus müssen. Durch diese Schilderungen trägt das Buch zur
Sichtbarmachung von lokalen und nationalen Kämpfen und ihrer partiellen
Erfolge bei.
Zu der großen Bandbreite der untersuchten Themenfelder und der auf
unterschiedlichen Ebenen ansetzenden Fragestellungen kommt hinzu, dass
die Studie Beispiele aus Frankreich, Deutschland und England heranzieht
und dabei die sich unterscheidenden Bedingungen für den Kampf der
MigrantInnen unterstreicht. Auch das lobbypolitische Zentrum in Brüssel
wird untersucht. In diesem Zusammenhang wird jedoch eine kritische
Betrachtung der Institutionalisierungsprozesse sozialer Bewegung
vernachlässigt. Der fast durchgehend positive Bezug auf feministische
Bürokratinnen stellt hierfür ein anschauliches Beispiel dar. Denn für
linke, im Migrations- und Flüchtlingsbereich aktive Organisationen ist
die Frage nach den unintendierten Wirkungen des eigenen Engagements von
zentraler Bedeutung: Wo muss die Hilfe für Betroffene und die konkrete
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen an erster Stelle stehen und wann
trägt das eigene Engagement lediglich zur Optimierung des repressiven
Migrationsmanagements bei? Diesen Fragen wird in der Arbeit zu wenig
Platz eingeräumt.
In der Arbeit finden sich auch kurze theoretische Abschnitte, in denen
wichtige Referenzpunkte wie Pierre Bourdieus Theorie des sozialen
Kapitals, Foucaults Vorstellungen von Macht und Widerstand und Bob
Jessops Ansatz der strategischen Selektivität benannt werden.
Helen Schwenken ist sich der politischen Implikationen der Begriffe,
die auf dem umkämpften Feld der Migration verwendet werden, bewusst,
und legt die sowohl politisch als auch methodisch motivierten
Entscheidungen für ihre Begriffswahl verschiedentlich offen.
Die Autorin verzichtet weitgehend auf isolierte, ausschließlich
theoretisch angelegte Kapitel. Die Entscheidung, stattdessen über die
Kapitel hinweg konkrete Beispiele mit präziser Weitergabe von Fakten
und theoretischen Erörterungen zu verknüpfen, trägt maßgeblich zur
guten Lesbarkeit der Arbeit bei und ermöglicht auch die gewinnbringende
Lektüre einzelner Abschnitte.
Hinsichtlich der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um eine neue Form von Souveränität
kommt Helen Schwenken zu dem Schluss, dass die These vom Verschwinden
der Grenzen ebenso wie jene von der Auflösung des Nationalstaats nicht
haltbar ist. Vielmehr sei eine Verschiebung der Grenzen ins Innere, das
Unsichtbarwerden von Grenzverläufen und die Vervielfachung von
Überwachungs- und Kontrollpunkten festzustellen.
Eine Reihe von theoretischen Debatten, die im Zusammenhang mit dem
Konfliktfeld Migration stehen, werden leider lediglich angerissen. So
etwa die Frage nach neuen Subjektivitäten und der Notwendigkeit von
kollektiven Identitäten sowie die Diskussion um unterschiedliche
Rechtsauffassungen und ihre politischen Implikationen. Vor dem
Hintergrund dieser Debatten scheint der Titel „Rechtlos aber nicht ohne
Stimme“ unglücklich gewählt, da er inhaltlich den Kernthesen der Arbeit
nicht gerecht wird. Auch irreguläre MigrantInnen haben unveräußerliche
Rechte. Ob diese faktisch von Bedeutung sind, ist von politischen
Kämpfen, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Strategien der
politischen Mobilisierung um Migration abhängig.
Methodisch stützt sich die Arbeit auf eine Mischung aus
ExpertInneninterviews, Dokumentenanalyse, Ereignisdatenanalyse und
teilnehmender Beobachtung. Als besonders fruchtbar erweist sich hierbei
der framing-Ansatz:
Es werden Möglichkeiten und Prozesse fokussiert, in denen soziale
Bewegungen ihre Anliegen artikulieren, präsentieren und nach Außen wie
Innen mit Legitimation und Sinn versehen.
Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Betrachtung der
unterschiedlichen Strategien, die hinter der Entscheidung zu
Lobbyarbeit auf Europäischer Ebene oder der Ausrichtung von autonomen noborder-Grenzcamps stehen. Vielmehr versucht sie, die dahinter stehenden framings auszumachen und deren Anschlussmöglichkeit, Resonanz und politische Implikationen zu ergründen.
So benennt Helen Schwenken etwa die Diskussion um Frauenhandel bzw. neue Sklaverei als einen frame,
der zwar auf große Resonanz stößt, jedoch auch an repressive
Sicherheitsdiskurse anschlussfähig ist und die Situation vieler
MigrantInnen nicht erfassen kann. Dem entgegen steht der „Autonomie der Migration“-frame,
der MigrantInnen zwar nicht in eine Opferrolle drängt sondern zu
handelnden Subjekten macht, dessen Forderungen jedoch wesentlich
geringere politische Realisierungschancen haben.
Die Arbeit bietet einen guten Überblick über die aktuellen europäischen
Entwicklungen der Migrationspolitik und liefert eine Reihe von
Anregungen für LeserInnen, die selbst an den politischen
Auseinandersetzungen teilnehmen. Zwar sind die Ergebnisse der Studie,
wie betont wird, nicht auf andere Politikfelder übertragbar. Helen
Schwenken hat jedoch eine Arbeit vorgelegt, die zeigt, wie die Analyse
politischer Möglichkeitsbedingungen emanzipatorischer Kämpfe aussehen
muss, um die Erfolgschancen der Organisierung „schwacher Interessen“ zu
erhöhen.
Helen Schwenken macht deutlich, dass sie nicht nur über, sondern auch für die
Akteure im Konfliktfeld Migration schreibt. Hierbei positioniert sie
sich durch ihre wissenschaftliche Analyse zweifelsfrei auf der Seite
der MigrantInnen und der pro-migrant-Organisationen und
liefert eine fundierte Kritik an der Ausrichtung des europäischen
Grenzregimes. Auch ihrem eigenen Anspruch einer feministischen
Perspektive auf den Themenkomplex Migration wird sie gerecht.
Insbesondere die Auswahl des RESPEKT-Netzwerkes, in dem überwiegend
philippinische Frauen organisiert sind, unterstreicht diesen Fokus. Es
gelingt ihr, das Potential einer Verschränkung von Frauenrechts- und
Migrationsthemen in der gegenwärtigen europäischen Konstellation
aufzuzeigen.
Das Buch stellt einen wichtigen Beitrag zum Thema irreguläre Migration
dar. Die Lektüre ist wissenschaftlich Interessierten aber auch
AktivistInnen wärmstens zu empfehlen, da Helen Schwenken windows of opportunity
und Erfolge aufzeigt, ohne über die schwierigen Bedingungen
emanzipatorischer Mobilisierungen im Feld irregulärer Migration
hinwegzutäuschen.
Rechtlos, aber nicht ohne Stimme. Politische Mobilisierungen um irreguläre Migration in die Europäische Union
by
Schwenken, Helen
Publisher:
transcript
Published 2006 in
Bielefeld
Price:
29,80