Kunst und Populismus

in (18.05.2021)

Lucy Lippard unterschied 1984 zwischen politischer Kunst, die sich mit Themen auseinandersetzt, und aktivistischer Kunst, die sich in sie einmischt. Das bedeutet, die erste thematisiert Politik und die zweite macht Politik.[1] Wir können die aktivistische Kunst noch einmal in zwei Formen unterteilen: Den Agit-Prop und die partizipativ-kollaborative Kunst. Diese drei Formen der engagierten Kunst – die politische, die agit-prop- und die partizipative Kunst – vermischen sich häufig, auch wenn sich ‚reine‘ Beispiele für alle drei finden ließen. Die Aufgabe, die wir uns hier gestellt haben, ist zu klären, ob bestimmte mehr oder weniger aktuelle Beispiele[2] im Kontext eines neuen Aufstiegs von Populismen als „populistische Kunst“ betrachtet werden können, weil sie Merkmale aufweisen, die auf die diskursiven Interessen der Schaffung einer populären Identität reagieren.

In Die populistische Vernunft räumt Ernesto Laclau mit jedem pejorativen Sinn des Begriffs auf, um den Populismus als politische Logik, als die wahre politische Vernunft zu präsentieren. Sein Ansatz grenzt sich von rationalistischen politischen Theorien – wie z.B. der Habermasianischen deliberativen Demokratie – ab, um den Leidenschaften, dem Affektiven und dem Identifikatorischen große Relevanz für die zeitgenössische Politik einzuräumen.[3] Die diskursive Operation, die Laclau im Populismus identifiziert, lässt sich in fünf Phasen gliedern: „1) die Erkenntnis, dass es eine Menge heterogener Kräfte und Forderungen gibt, die sich nicht organisch in das bestehende differenzielle/ institutionelle System integrieren lassen; 2) die Verbindungen zwischen diesen Forderungen, die denselben Antagonismus teilen, sind äquivalent; 3) diese Äquivalenzkette konvergiert in einer Leitfigur, die als leerer Signifikant funktioniert; 4) eine solche Figur muss auf ihren Namen reduziert werden; und dieser Name ist aus Lacan‘scher Sicht die Grundlage der Einheit des Objekts und 5) dieser Name muss für eine starke Rolle ausgestattet werden, das heißt, er muss darauf ausgerichtet sein, ein hegemoniales Subjekt zu sein, und dazu braucht er den Affekt“
[4].

Eine populistische Kunst wäre dann eine Kunst, die in den Dienst der Konstruktion der kollektiven Identität des Volkes (pueblo, people) gestellt wird. Eine Kategorie, die einen Teil, den Plebs – die unterprivilegierte Bevölkerung – bezeichnet, übernimmt die notwendige und unmögliche hegemoniale Aufgabe, die soziale Fülle zu erreichen und eine Totalität zu werden: der Populus – die Gesamtheit der Bevölkerung. Darüber hinaus muss dieser leere Signifikant – da er eine Leere, eine imaginäre ideale Entität bezeichnet, die aber nicht weniger real und wirksam ist – auch im Akt des Benennens konvergieren und so einen anderen leeren Signifikanten mit Bedeutung versehen, der nämlich der Name des Führers ist. Die so identifizierten „Volk“ und „Führer“ würden das Amalgam der partikularen Forderungen verdichten, die zunächst heterogen, aber in ihrer gemeinsamen antagonistischen Ablehnung der institutionalisierten Eliten gleichwertig sind.
Bestimmten Formen politischer Kunst liegt die rhetorische Vereinfachung von Elite/ Volk oder, wenn man so will, Kunstwelt/ einfach Leute zugrunde. Institutionskritik und das, was man Pop-Kritik nennen könnte, bewegen sich oft entlang dieser Abgrenzungen. Es gibt ganz offensichtlich eine Kunst-„Kaste“, denn eine stärkere Repräsentation eines oligarchischen Systems als den Elitismus der Hochkultur und ihrer exklusiven Prozesse der Bewertung, Kommerzialisierung und Legitimierung von Fetischen lässt sich kaum vorstellen. In diesem Sinne könnte man den Arbeiten, die eine Reflexion über diese Fragen vorschlagen, diesen, sagen wir, populistischen Charakterzug zuschreiben. Obwohl wir denken, dass es ein bisschen übertrieben wäre, diese Praktiken so zu nennen.

Ein neues Agit-Prop
Nichtsdestotrotz können einige neuere Beispiele von Agit-Prop als populistische Kunst bezeichnet werden, entweder weil sie die antagonistische Rhetorik der Elite/ Volk-Dichotomie verwenden – Kaste/ Volk, im spanischen Kontext – oder weil sie die Figur eines charismatischen Führers preisen.
Zunächst schlagen wir vor, um die Begriffe „Linkspopulismus“ und „Rechtspopulismus“ zu überwinden, von einem „Populismus der Liebe“ im Gegensatz zu einem „Populismus des Hasses“ zu sprechen. Eine Unterscheidung, die für die Zwecke der politischen Kommunikation vielleicht effektiver ist, als einfach zu versichern, wie es der argentinische Psychoanalytiker und Autor Jorge Alemán tut, dass „der wahre Populismus nur links sein kann“
[5]
, da dies nicht das Problem löst, dass die Mainstream-Medien die beiden Populismen immer in einem Atemzug nennen: Trump, Le Pen, Iglesias, Grillo, sie alle, so wird versichert, stellen die gleiche Gefahr dar. In Bezug auf aktivistische Kunstformen ziehen wir es daher vor, das neue Agit-Prop als einen „Populismus der Liebe“ zu charakterisieren, eine Rhetorik der Inklusion und eine zärtliche Zuneigung.
In einer Illustration von Miguel Gallardo, die als Plakat und Dekoration für die ersten Podemos-Kundgebungen diente, finden wir ein klares Beispiel für diesen „Populismus der Liebe“
[6]
. Das „Volk“, dargestellt in einer bunten Vielfalt der Ethnizitäten, bricht in „den Kongress/ die Kaste“ ein, die von eleganten und mürrischen Gestalten bestückt wird und die durchgängig in Grau gemalt ist. Eine sehr effektive antagonistische Vereinfachung. Wir sprechen hier von einem „Populismus der Liebe“, obwohl er einen Antagonismus als allgemeines Merkmal aller Populismen zum Ausdruck bringt, konnotiert als vertikaler Kampf gegen die etablierten oligarchischen Eliten. Denn im „Populismus des Hasses“ – dem Neofaschismus, der uns bedroht – wird der Kampf auch horizontal begründet, indem er den Hass der Plebsauf die popularen Klassen der Migrant*innen schürt. Damit ist er der Antipode des Diskurses des „Populismus der Liebe“, der die Liebe zum „Anderen“ in der Differenz fördert.
Die Kampagne von Manuela Carmena, der Bürgermeisterkandidatin von Ahora Madrid im Jahr 2015, löste als spontane Reaktion eine Lawine von grafischen Arbeiten für die Netzwerke zu ihrer Unterstützung aus. Um diese Kampagne unter populistischen Vorzeichen zu analysieren, wenden wir uns Laclaus berühmtem Konzept des „leeren Signifikanten“ zu. Ein etwas verwirrender Ausdruck, denn streng genommen müsste es der „Signifikant der Leere“ sein – wie der Signifikant „0“, der sich auf eine leere Menge bezieht, der aber, wenn er das Unbenennbare benennt, zu „1“ wird –, was Laclau betonen muss, um sich
von Žižeks ebenfalls lacanianischem Diskurs abzugrenzen, der von einem „Signifikanten ohne Bedeutung“ spricht. So etwas, sagt Laclau, und das zu Recht, läge außerhalb des Bereichs der Signifikation. Es ist offensichtlich, dass es keinen Signifikanten ohne Bedeutung geben kann, denn dann hätten wir es nur mit einer Materie ohne Referenz zu tun, einem Gekritzel – Geräusch, sagt Laclau. Also, der leere Signifikant will etwas Imaginäres bezeichnen – das Volk – und wird dann mit einem Namen identifiziert – und mit einem Bild, sollten wir hinzufügen –, dem Namen des Führers oder der Führerin. Heißt das nun, dass der Name „Manuela Carmena“ vorher leer war und mit den entsprechenden rhetorischen Operationen mit Bedeutung aufgeladen wurde? Das scheint nicht der Fall zu sein; was auch immer Laclau denken mag, fasst doch „Manuela“ eine ganze Reihe von eindeutigen Beschreibungen zusammen, so wie Bertrand Russell es für Eigennamen vorgeschlagen hatte. Die mächtigste davon ist „Großmutter Gerechtigkeit“, sie war bereits in den Köpfen all jener Grafiker*innen, die ihre Kampagne gestalteten, womit sie eine Bedeutung verstärkten, die schon zuvor mit diesem Signifikanten verbunden war. Die mit „Manuela“ assoziierten Bedeutungen haben mit Liebe zu tun, und deshalb können wir diese innovative und erfolgreiche Kampagne, die von einer grafischen Befreiungsbewegung ausgelöst wurde, als rhetorische Manifestation des „Populismus der Liebe“ bezeichnen. Das Gleiche gilt für die grafische Unterstützung für Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona. Das körperliche Bild und die Süße im Sprechen Colaus ist mit dem Bild einer intelligenten und kämpferischen Mutter verbunden: der „Aktivist*innenmutter“.
Diese starken Bilder der Führerin – Carmena oder Colau – aufzubauen, wäre mit anderen Namen nicht möglich gewesen. Es scheint unwahrscheinlich, dass diese heterogene Front von Illustrator*innen und Designer*innen, die vermutlich alle an der Hoffnung der 15M-Bewegung teilhatten, auf die gleiche Weise mobilisiert hätten, um das Bild von Pablo Iglesias zu konstruieren, was zu Recht nicht einmal vorgeschlagen wurde. Ohne die vielen politischen und rednerischen Tugenden von Iglesias in Abrede zu stellen, werden seine arroganten Hirngespinste, die Äußerung von Ausdrücken wie „die Angst hat die Seiten gewechselt“ oder sein beharrliche Insistenz auf dem Wort „patria“ („Vaterland“/ „Heimat“) niemals dazu führen, dass Künstler*innen, Illustrator*innen und Designer*innen, die mit 15M in Verbindung stehen, sein Bild anbeten werden. Mütter und Großmütter ja, Alphamännchen nein. So funktioniert der Populismus der Liebe im neuen Agit-Prop.


Partizipative Kunst in den Barrios
Populismus funktioniert im großen Maßstab, er hat hegemoniale, totalisierende Ambitionen. Demgegenüber funktioniert jedoch die Teilnahme an ästhetischen Mikro-Utopien im kleinen Maßstab, sie baut nicht „das Volk“, sondern „Gemeinschaft“, „Barrios“ („Nachbarschaft“/ „Stadtteile“). Daher artikulieren sich Affekt und Identität auf eine andere Art und Weise. Das Emotionale – und das Irrationale – wird nicht missbraucht, um sich jenseits der Vernunft in der Figur eines Anführers/ einer Anführerin zu vereinen, der/ die sich mit dem ganzen „Volk“ identifizieren würde, sondern der argumentierte Dialog und die affektiven Beziehungen, im Sinne der Liebe in der Zusammenarbeit, werden in der Konstruktion spezifischer Artefakte vereint, die als Symbole der Identität einer kleinen nachbarschaftlichen Gemeinschaft dienen. Dies ist unserer Ansicht nach ziemlich weit entfernt von der hegemonialen Konstruktion und Identifikation mit dem/ der charismatischen Führer*in.
Es ist sicherlich richtig, dass diese kleinen partizipatorischen und demokratischen Oasen, die die Kunst als Vehikel für den Zusammenhalt nutzen, instrumentalisiert werden können, um ihre Partikularität und Lokalität zu überwinden, indem sie auf eine allgemeinere und totalisierende Idee hinarbeiten. Alle zusammengenommen können diese Erfahrungen die Konstruktion der Identität eines „Volkes“ begünstigen. Und es stimmt auch, dass die Dichotomie Volk/ Elite in gewisser Weise genau dem Moment zugrunde liegt, in dem diese Erfahrungen im Barrio umgesetzt werden, das der Ort des Plebs schlechthin ist – es gibt keine Berichte über partizipatorische Kunst in reichen Vierteln, obwohl es vielleicht eine gute Idee wäre, wenn wir, wie der uruguayische Künstler und Kunstkritiker Luis Camnitzer sagt, die Eliten erziehen wollen würden, „anstatt sie wie eine Gruppe von Idioten zu behandeln, die alles falsch machen und das war’s“
[7]
. In jedem Fall geht es hier um Prozesse der horizontalen Entscheidungsfindung, der gegenseitigen Hilfe und der Zusammenarbeit auf der Suche nach der Verwirklichung einer gemeinsamen Arbeit, des Aufbaus von Bürger*innenschaft. Eine populistische Kunst wäre, streng genommen, diejenige, die an der Fixierung von Bedeutung oder der Verdichtung von Bedeutung auf den leeren Signifikanten des allgemeinen Begriffs Volk oder in der Glorifizierung eines charismatischen Führers durch Identifikation mit dem Volk arbeitet. Das bedeutet eine Rhetorik der Worte und Bilder, die durch die dichotome Vereinfachung Volk/ Elite vorgibt, mehr an die Affekte als an die Vernunft zu appellieren und damit die Figur eines starken Führers zu konstruieren. Nichts davon wird in den Erfahrungen der partizipativen Kunst in den Barrios gemacht.

Es gibt ein recht weit verbreitetes Wissen über die Etymologie des Begriffs „Demokratie“: Er stammt aus dem Altgriechischen – δημοκρατία – und wurde im 5. Jahrhundert v.u.Z. in Athen aus den Wörtern δῆμος – dḗmos, das üblicherweise mit „Volk“ übersetzt wird – und κράτος – krátos, das mit „Macht“ oder „Regierung“ übersetzt werden kann – geprägt. Aber der demos bezeichnete ursprünglich nicht die gesamte athenische Bevölkerung; vielmehr war der demos eine administrative Unterteilung des Kollektivs, die im Grunde mit einer nachbarschaftlichen Einheit übereinstimmte. Das Stadtgebiet von Athen wurde in mehrere demos unterteilt. Die demosBarrios oder Bezirke – waren kleine autonome Gemeinschaften, die ihre Entscheidungen in der Versammlung der demotaiagora – trafen. Diese terminologische Präzision erlaubt es uns, partizipative Kunst angemessener zu beschreiben. Da sie das Barrio – demos – als Grundlage einer Gemeinschaft der Entscheidung und der horizontalen Produktion (an)nimmt, sollte sie strenggenommen als „demokratische Kunst“ und nicht als „populistische Kunst“ eingestuft werden.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 57, Frühling 2021, „Kultureller Populismus“.

Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.


PSJM ist ein Team für Kreativität, Theorie und Management, gebildet von Cynthia Viera und Pablo San José. PSJM präsentiert sich als „Kunstmarke“ und eignet sich so die Verfahren und Strategien des fortgeschrittenen Kapitalismus an, um dessen symbolische Strukturen zu unterwandern. http://psjm.es


 

 

[1] Lucy Lippard: „Trojan Horses: Activist Art and Power. In: Hilary Robinson (Hg.): Feminism – Art – Theory. An Anthology 1968–2014. Malden, MA/ Oxford 2015, S. 69–79.

[2] Eine ausführliche Version dieses Textes wurde im Dezember 2016 verfasst und erschien später in der Zeitschrift Sublime (Madrid 2018).

[3] Vgl. Ernesto Laclau: Die populistische Vernunft. Wien: Passagen Verlag 2021.

[4] Fernando Golvano: «El laberinto democrático. Izquierdas, populismos y hegemonía». In: Grand Place 2zk, 2014, S. 24.

[5] Jorge Alemán: El concepto de populismo, una posición. Pagina12 | El país. 12/12/2016. https://www.pagina12.com.ar/8277-el-concepto-de-populismo-una-posicion

[6] https://jgpausas.blogs.uv.es/files/2015/12/congreso-vi%C3%B1eta-miguelgallardo-jog2.png

[7] Maite Aldaz: Entrevista a Luis Camnitzer: ‘El arte bien utilizado es un transformador de la cultura, mal utilizado es sólo un transformador del mercado’. In: exit-express.com, 1. Dezember 2016.