Solide gearbeitete Biografien Carl von Ossietzkys sind dünn gesät. Bei aller Wertschätzung diesem aufrechten Friedenskämpfer und streitbaren Publizisten der 1920er Jahre gegenüber – die biographische Literatur verhält sich zu ihm immer noch auf eine mit anderen verglichene Weise zurückhaltend. Das mag daran liegen, dass in Deutschland Lebensgeschichten gerne von ihrem Ende her erzählt werden. Handelt es sich irgendwie um eine Märtyrerbiografie, so sind weite Teile des Lebensaufs- und -abs gleichsam tabu gestellt. Mit Ausnahme natürlich von Autoren, die ihrem Protagonisten auch noch post mortem eins auswischen wollen. An letzteren fehlt es auch im Falle Ossietzky nicht. Gerade die Unversöhnlichkeit, mit der er und die von ihm von 1926 – ab Januar 1927 fungiert er als „verantwortlicher Redakteur“ – bis 1933 herausgegebene und geleitete Weltbühne den immer stärker werdenden Faschismus und seine Helfershelfer attackierten, wird von rechten Autoren immer wieder gerne benutzt, ihm eine gewisse Mitschuld an dessen Etablierung zuzuschieben.
Angesichts dieser Fehlstellen und zahlreicher offener Fragen im Zusammenhang mit Leben und Werk dieses in der deutschen Presselandschaft sehr singulären Journalisten legte der Ossietzky-Forscher Werner Boldt – ein profunder Kenner des Werkes – jetzt im Bremer Donat Verlag eine neue Biografie vor. Das punktgenau zu Ossietzkys „130.“ am 3. Oktober 2019 erschienene Buch ist lesenswert, sein mit vielfältiger Würdigung drohender Titel eher abschreckend.
Werner Boldt verwendet einige Mühe, den Weg Ossietzkys vom direkten Engagement in der deutschen Friedensbewegung über die Mitarbeit in diversen Presseorganen der Weimarer Republik bis zur schlussendlichen Übernahme der Weltbühne in Ossietzkysche Verantwortung nachvollziehbar darzustellen. Leicht ist das nicht, zumal der Autor seine Leser durch die für Heutige kaum nachvollziehbaren Auseinandersetzungen innerhalb der damaligen Friedensbewegung zu führen gezwungen ist. Nimmt man diese jedoch als Folie für das Verständnis der aktuellen Debatten in und um die deutsche Friedensbewegung, so vergeht einem häufig die Lust auf eine zukunftsfrohe Lektüre. Die Bezüge sind überdeutlich. Das betrifft auch die sich auf gründlichste Quellenkenntnisse stützenden Kapitel über die innenpolitischen Krisenzustände der jungen Republik – im Zusammenhang mit den Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen 1923 spricht Boldt von „Chaostagen“. Natürlich ist das alles nicht vergleichbar, auf den Magen schlägt es schon.
Das Erleben dieser Krisen schärft Ossietzkys analytischen Blick. Fortan wendet er sich strikt gegen den „Primat des Militärischen über das Politische“. – „Es gibt kein größeres Unglück für die Allgemeinheit als den politisierenden Militär.“ Das richtet sich im November 1931 gegen Wilhelm Groener, mit dem er immer wieder zusammengerät, der letztendlich auch für den Schuldspruch im Weltbühne-Prozess vor dem Reichsgericht 1931 sorgt. Aber Ossietzky meint das grundsätzlich. Natürlich attackiert er die Rüstungspolitik der Reichswehrführung, auch wenn er sich über den Panzerkreuzer A zunächst als „heroischen Kahn“ lustig macht: „Die Erfüllung des maritimen Bauprogramms zieht uns automatisch in die gefährlichsten Händel der Welt. Die Flotte ist nicht ein Luxus, sie ist gemeingefährlich.“
Frei von Fehleinschätzungen ist Carl von Ossietzky hier aber auch nicht. Boldt zitiert in diesem Zusammenhang die Debatten der Generalversammlung der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) vom Februar 1929 und Ossietzkys Position dazu, die mitnichten die eines neutralen Beobachters war. Vor allem störte er sich an der Übernahme der Mehrzahl der Leistungspositionen der DFG durch deren Westdeutschen Landesverband (WLV), der an der Umgestaltung der Friedensgesellschaft zu einem aktiv antimilitaristisch wirkenden Kampfbund interessiert war. Ossietzky hält deren Lageeinschätzung für falsch: „Deutschlands Rolle in einem künftigen Krieg wird keine eigne, sondern eine Trabantenrolle sein.“ Ein Trabant an der Seite Großbritanniens, innenpolitisch sei der deutsche Militarismus „vorwiegend antirepublikanisch“ ausgerichtet, mithin keine gar so große Gefahr. Ein nachgerade selbstmörderischer Irrtum.
Dass sich solche Sichten unmittelbar auf die Arbeit der Weltbühne auswirken mussten – auch auf die Zusammenarbeit mit Kurt Tucholsky – wird leider zu wenig ausgeführt und geht über eher Bekanntes wenig hinaus. Allerdings weist Boldt auf die Kontroversen mit Kurt Hiller hin. Ebenso findet der erwähnte Weltbühne-Prozess breiten Raum.
Zu den großen Rätseln der Biographie Carl von Ossietzkys gehört die Frage, warum er sich sehenden Auges seinen Schlächtern auslieferte. Er muss gewusst haben, dass er auf der Liste seiner Feinde ganz oben stand. Über ihre Gefährlichkeit konnte er sich eigentlich keine Illusionen gemacht haben. Die Freunde hatten ihn gewarnt. Boldt zitiert Kurt Tucholsky, der sich über Ossietzkys „merkwürdig lethargische Art“ mokiert: „Dieses Opfer ist völlig sinnlos.“ Mehr an Antwort weiß Boldt auch nicht zu sagen. Oder er will es nicht. Das ist bedauerlich.
Zumal er den Leser – sein Buch richtet sich, wie er im im bibliographischen Nachsatz erklärt „an einen breiten Leserkreis“ – zum Beispiel in Hinblick auf den Hintergrund des erwähnten Tucholsky-Zitates im Dunkeln tappen lässt: Die Anmerkung verweist auf Band VIII der Ossietzky-Gesamtausgabe – herausgegeben von Werner Boldt –, die natürlich der „breite Leserkreis“ zum geflissentlichen Nachschlagen stets parat haben wird. Leider passiert solch lektüreerschwerendes Verhalten im vorliegenden Buch zu Hauf. Klären wir auf: Kurt Tucholsky schrieb dies am 4. März 1933 eine knappe Woche nach der Verhaftung Carl von Ossietzkys in einem Brief an Walter Hasenclever (den Boldt zu einem Tucholsky „befreundeten Schriftsteller und Mitarbeiter der Weltbühne“) anonymisiert.
Dennoch: Werner Boldt hat ein zu weiterer Lektüre und vertiefterem Nachdenken anregendes Buch vorgelegt, das hier unbedingt weiterempfohlen werden soll!
Werner Boldt: Carl von Ossietzky (1889-1938). Pazifist und Demokrat, KZ-Häftling und Friedensnobelpreisträger, Donat Verlag, Bremen 2019, 256 Seiten, 16,80 Euro.