Linke Diskussionskultur

Schwerpunkteinleitung

in (14.06.2016)

»Der Riß der Welt geht auch durch mich.«
[Kracauer im Brief an Adorno, 1923.]

Nein, mit dem Titel »Linke Diskussionskultur« geht es uns nicht darum, ob Höflichkeitsfloskeln eingehalten werden. Einen Knigge für Diskussionen wollen wir nicht vorstellen. Freiherr Knigge hätte dies wohl nicht gewünscht. Sein Buch, welches späteren Generationen als Benimmbuch galt, ist eine Studie über Regeln und Formen des Umgangs im Alltag. Als Jakobiner und Freimaurer hatte er vielmehr die Absicht, die Menschen aus den Fesseln von Geburt und Stand zu lösen. Wenn wir alle die Etikette kennen und beherrschen, ist es letztlich allen möglich gesellschaftliche Anerkennung zu finden, ist der Gedanke dahinter.1) Nicht Herkunft, Abstammung und Familie sollen unsere gesellschaftlichen Chancen bestimmen.

Mit den beiden zurückliegenden Ausgaben – »20 Jahre neue antirassistische Bewegung« und »Repressive Toleranz« – haben wir einerseits die Geschichte der antirassistischen Bewegung betrachtet, andererseits aktuelle Fallstricke in den politischen Auseinandersetzungen. Diese Themen sind die Fortführung unserer Diskussion, ob es eine Krise des politischen Antirassismus gibt. Die Auseinandersetzungen um das No-Border-Camp 2012 in Köln wie auch verschiedene Skandalisierungen vor dem Hintergrund von Critical-Whiteness, zeigen zumindest, dass ein tiefer Riss durch die antirassistischen Gruppen geht. Wer darf was wie sagen, ist eine der leitenden Fragen, die in diesem Streit gestellt werden.

Wem steht es zu, seine Stimme zu erheben? Allein aus geteilten Überzeugungen entsteht noch keine materielle oder soziale Gleichheit. Bei der Auseinandersetzung darüber, wie antirassistische Politik gestaltet sein soll und ob es weiße Antirassist_innen geben kann, verschränken sich vielfältige Machtlinien und Interessenlagen. People of Colour und Schwarze sind in den rassistischen und weiß dominierten Gesellschaften durch Fremdbestimmung, Stereotypisierung und Stigmatisierung bedroht. Andererseits stellen rassistische Verhältnisse auch an die Privilegierten die Forderung, den Normen der Herrschaft – auf je verschiedene Weise – zu entsprechen. Viele Schwierigkeiten in antirassistischen Gruppen resultieren aus struktureller Bevor- und Benachteiligung und der unterschiedlichen Wahrnehmung von Gründen und Zusammenhängen.2) Sind daher Bündnispolitiken von vornherein zum Scheitern verdammt, weil gemeinsame Ziele und Überzeugungen keinen ausreichenden Rahmen darstellen?

Aus Sicht einer emanzipativen Politikvorstellung, sollten sich die Privilegierten nicht aufgrund ihrer Privilegien durchsetzen. Mitsprache und Mitbestimmung bei Bündnissen erfordern Formen wie gemeinsame Verständigung erreicht werden kann, Ziele gemeinsam bestimmt werden und wie die materiellen und sozialen Voraussetzungen für die gleichberechtigte Beteiligung der BündnispartnerInnen geschaffen werden können.

Dass immer wieder Bündnisse und Gruppen sich auflösen und spalten, hat eine lange Geschichte. Bestimmte Themen haben im Feld der politischen Linken die Gräben vertieft und vermehrt, so dass auch Freundschaften und Begegnungen über die politischen Lager hinweg nicht mehr möglich erscheinen. In den letzten Jahrzehnten waren es die Auseinandersetzungen zwischen »Antideutschen und AntiimperialistInnen«, zwischen »Fundis und Realos«, die scheinbar unüberbrückbare Unterschiede innerhalb der Linken aufreißen ließen. Und vermutlich birgt auch die Critical Whiteness Debatte in Deutschland ein solches Risiko, wie die Ereignisse rings um das Kölner No Border Camp 2012 vermuten lassen.

Die Geschichte der Spaltungen der Linken ist aber doch noch ein wenig älter und geht weit hinter die Geschichte der K-Gruppen der 1970er zurück. In der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung wurde im Zuge der Gründungen der verschiedenen Internationalen I–IV die Unterschiede von AnarchistInnen und SozialistInnen, SozialdemokratInnen und KommunistInnen sichtbar. Die Nachwehen der Krisen des Marxismus sind in der Linken noch heute spürbar und Versuche ihrer Überwindung in einem offenen bzw. pluralen Marxismus ziehen hieraus ihre Berechtigung.

Welche Maxime oder Parole aber könnte für eine aktuelle antirassistische Praxis ausgegeben werden? Die Devise »Klarheit vor Einheit«, wie Liebknecht es für den 1919 gegründeten Spartakusbund forderte, führt zwar zu Eindeutigkeit in der eigenen Gruppe und klaren Grenzen nach außen. In Bündnissen bedeutetet diese Haltung aber, dass Kompromisse kaum gefunden werden dürften. In solchen Fällen lautet die Frage, unter welchen Bedingungen Bündnisarbeit möglich wird und Kritik produktiv gewendet werden kann.

Wenn gegenseitige Kritik moralisierend ist und sich damit unangreifbar macht, kann dies kaum Basis für gemeinsame Aktionen sein. Denn der Vorwurf moralische Regeln, Normen und Werte nicht zu teilen, ist bereits das Ende der Gemeinsamkeit. Vorwürfe etwas nicht einzusehen oder nachvollziehen zu können, werten die anderen Teilnehmenden ab. Abwehr und Verteidigung sind nur verständlich, Zusammenarbeit ist es unter diesen Bedingungen hingegen nicht. Deutungsmacht und Deutungshoheit gehören hinterfragt. Sie können nicht selbstverständlich sein.

Wie verhält es sich nun mit der Definitionsmacht über sexualisierte Gewalt? In der feministischen Diskussion wird darauf Wert gelegt, dass die Betroffenen ihr Erleben als Maßstab setzen können. Sie bestimmen, was für sie sexualisierte Gewalt ist. Doch wenn der subjektive Standpunkt zur einzigen Bewertungsinstanz wird, kann dieselbe Situation mit einigem Recht aus der Perspektive anderer ganz anders wahrgenommen und bewertet werden. Daher ergibt sich für Gruppen die Aufgabe, gemeinsame Handlungsoptionen zu entwickeln und zu klären, wie mit unterschiedlichen Bewertungen umgegangen werden soll.

In unseren politischen Gruppen und Bündnissen gibt es eine Menge Machtdynamiken, mit denen wir immer wieder umgehen müssen. Es sind nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, die uns als Einzelne oder Gruppen stets aufs Neue den nicht immer stummen Zwang der Verhältnisse vor Augen führen, wann und dass wir Lohnarbeiten gehen müssen, aufs Amt oder eine Prüfung ablegen. Die politischen Gruppen selbst besitzen eine Eigendynamik, die wir uns bewusst machen können, um Konflikte zu lösen. Konsensverfahren, Mediation und Beratung können geeignet sein, Konflikte zu vermeiden und Interessen zu vermitteln.

Nicht immer können die Konflikte von uns befriedet werden und nicht alle Probleme dieser Welt können wir lösen, schon allein da wir Teil unserer eigenen Geschichte sind. Der Riss der Welt geht durch uns alle. Unsere Aufgabe ist es, mit diesen in der politischen Arbeit, in Gruppen und Bündnissen umzugehen.

FUßNOTEN:

1) Gottfried Kellers Novelle »Kleider machen Leute« von 1874 ist dafür beispielhaft.
2) So weisen, nach Anja Weiß, negativ privilegierte Menschen stärker auf strukturelle Benachteiligungen hin, während Privilegierte dazu neigen, Verhalten zu individualisieren.

 

Erschienen in ZAG 64, 2013