Der Westen & Russland – zum Diskurs

Karsten Voigt, auch Blättchen-Autor, hat in IPG. Internationale Politik und Gesellschaft erneut Überlegungen zum Zustand und zur weiteren Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland publiziert, und er hat sie dieses Mal als „Leitgedanken zur Russlandpolitik“ (Hervorhebung – W.S.) gewichtet. Da darf eine Replik sicher vergleichbar grundsätzlich werden.
An der eingetretenen Situation trägt, dem Autor zufolge, praktisch Russland die Alleinschuld, denn es wolle wieder als „Imperium“ anerkannt werden und strebe daher „nach Erhalt und Wiedergewinnung von Einflusszonen“. Der Westen habe sich demgegenüber seit Ende des Kalten Krieges „um eine engere Kooperation“ bemüht – Aufnahme in den Europarat, partnerschaftliche Ansätze seitens der EU und der NATO et cetera.
Sachverhalte wie jene, dass die NATO zur selben Zeit, da sie sich um „engere Kooperation“ bemühte, bis an die russische Haustür vorgerückt ist und 2008 die Grundsatzentscheidung getroffen hat, auch noch Georgien und vor allem die Ukraine zu integrieren, finden bei Voigt keine explizite Erwähnung. (Das von Voigt bemühte Veto der Bundesrepublik gegen die Aufnahme dieser beiden Staaten findet sich in keinem NATO-Dokument, die Grundsatzentscheidung aber sehr wohl.) Die NATO ist immerhin jenes Bündnis, dessen eines Gründungsziel darin bestand, die Russen an den Rand Europa zu drängen („to keep the Russians out“), und das während der meisten Jahrzehnte seiner Existenz ein im Kern stets feindseliges Verhältnis zur Sowjetunion gepflegt hat. Selbst nach der Bildung des NATO-Russland-Rates im Jahre 2002 legte das Bündnis lediglich eine Placebo-Bereitschaft zur sicherheitspolitischen Kooperation mit Moskau an den Tag.
Voigt erwähnt ebenfalls nicht, dass die NATO-Führungsmacht USA unter der Bush junior-Administration im Jahre 2002 in ihre damalige Nuclear Posture Review konzeptionelle Gedanken einfließen ließ, die in Moskau als abermaliger Versuch gewertet werden mussten, das Patt der gegenseitigen nuklearen Abschreckung („Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter!“) zugunsten einer handhabbaren atomaren Offensivoption der USA auszuhebeln, zumal dies mit der einseitigen Kündigung des ABM-Vertrages und dem Beginn des Aufbaus einer globalen Raketenabwehr einherging, der auch unter der Obama-Administration fortgesetzt wird. Dazu passen nuklearstrategische und andere Rüstungsprogramme und -projekte der USA (wie zum Beispiel prompt global strike). Hinzu kommt, dass in den geopolitischen Debatten in den USA in den letzten Jahren ein weiterer Zerfall Russlands in kleinere Einheiten sowie ein regime change in Moskau nicht nur einmal als strategisch vorteilhaft für Amerika eine Rolle spielte.
Und keine Erwähnung findet bei Voigt schließlich auch, dass Russlands Präsident Wladimir Putin als „Sapadnik“, als Führer mit Westorientierung angetreten war, der den USA und der NATO wiederholt, nicht zuletzt im Deutschen Bundestag, eine sehr weitgehende Partnerschaft, inklusive einer grundlegenden Neugestaltung des sicherheitspolitischen Beziehungsverhältnisses bis hin zur gemeinsamen Errichtung einer Raketenabwehr, angeboten hat. All diese Initiativen wurden vom Westen entweder ignoriert oder glatt abgelehnt, jedenfalls in keinem Falle ernsthaft geprüft oder gar zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht.
Belassen wir es bei diesen unter dem Aspekt der Sicherheitsinteressen Russlands wahrscheinlich wichtigsten Punkten. Voigt hat für all die nur ein laues: „Ja, die Vereinigten Staaten und die EU haben Fehler im Umgang mit Russland gemacht.“ Um dann zu seinem eigentlichen Punkt zu kommen: „Aber diese Fehler rechtfertigen weder die Annexion der Krim, noch die politische, militärische und finanzielle Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine.“
Dieser Feststellung ist nicht zu widersprechen, aber wirklich weiter führt sie auch nicht. Leitgedanken müssten demgegenüber beispielsweise aufzeigen, warum aus dem „Sapadnik“ Putin der heute erklärte Ablehner und Verächter des Westens wurde, der nun eine pseudoimperiale Politik gegenüber einigen Nachbarstaaten betreibt. (Für eine wirklich imperiale fehlen ihm gottseidank die Mittel, wie auch Voigt implizit feststellt: „[…] vergleicht man alle der NATO zur Verfügung stehenden Potentiale mit den russischen Fähigkeiten, besteht eine eindeutige Überlegenheit der NATO – trotz der russischen Modernisierungen der militärischen Fähigkeiten in den vergangenen Jahren.“) Das Hinterfragen der Gründe für den Wandel in der russischen Politik wäre doch die Voraussetzung für konzeptionelle Überlegungen, wie im Zuge einer (wann auch immer möglichen) Neugestaltung der Beziehungen zu Russland nicht nur die Wiederholung alter Fehler vermieden, sondern tatsächlich eine neue Qualität in der europäischen Sicherheitsordnung erreicht werden könnte.
Voigts Parteifreund Egon Bahr hat solche Überlegungen schon einmal zu einer Zeit angestellt, als alle Zeichen zwischen dem Westen und Russland auf Konfrontation standen, nach dem Mauerbau 1961 – in seiner berühmten Tutzinger Rede, mit der er den strategischen Leitgedanken vom „Wandel durch Annäherung“ für eine neue Ostpolitik in die Welt setzte. Damals ging es ihm um die „Voraussetzungen zur Wiedervereinigung“, die „nur mit der Sowjet-Union zu schaffen (sind) […], nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie“. Dieser Tage hat Egon Bahr Ähnliches erneut getan – mit seinen „Überlegungen […] zu einer europäischen Verantwortungsgemeinschaft mit Moskau und Washington“, die in dieser Ausgabe nachzulesen sind.
Voigt konstatiert demgegenüber lediglich dass „unser Ziel […], eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands zu etablieren […], in weite Ferne gerückt ist“ und dass, bis es „zu einer tiefgreifenden Wende in der russischen Politik kommt, […] Jahre – hoffentlich nicht Jahrzehnte – vergehen“ dürften, um dann für die Zwischenzeit das (im operativen Verlauf durchaus auch sinnvolle!) Backen kleinerer Brötchen zu empfehlen. Als „Motto für die nun notwendige Russlandpolitik“ gibt er dabei aus: „Zusammenarbeit, wo möglich – Gefahrenabwehr, wo nötig.“
Dass die Russen angesichts der Möglichkeiten, die sich ihnen international zur politischen, auch sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und sonstigen gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit bieten (von China über Indien und die anderen BRICS-Staaten bis hin zur Shanghaier Organisation, um nur einige Stichworte zu nennen), vielleicht gar kein Interesse an der von Voigt so genannten „tiefgreifenden Wende“ in ihrer Politik haben, solange die USA und der Westen mit russischen Sicherheitsinteressen so umspringen wie bisher, kommt im Voigtschen Kanon zwar nicht vor, sollte hier aber zumindest der Vollständigkeit halber als Möglichkeit nicht unerwähnt bleiben.
Trotzdem: Was Voigt an Feldern für eine weitere punktuelle Zusammenarbeit mit Russland sieht – zum Beispiel das iranische Atomprogramm, die Terrorismusbekämpfung, die Weiterentwicklung der OSZE – ist vernünftig und ausbaufähig.
Interessant wäre gewesen, zu erfahren, welchen Bogen Voigt beim Teil zwei seines Mottos, „Gefahrenabwehr, wo nötig“, zieht. Dazu sagt der Autor in seinem IPG-Beitrag so gut wie nichts. Allerdings verweist er an dessen Ende auf eine ausführlichere Fassung des Beitrages, die in der April-Ausgabe der Berliner Republik erscheinen soll. Aber Fragen können ja hier schon einmal gestellt werden.
Sind die beschlossene Verstärkung der schnellen Eingreiftruppe der NATO auf 30.000 Mann samt einer besonders schnellen Speersitze und der zentralen Rolle der Bundeswehr dabei „Gefahrenabwehr, wo nötig“? Oder die Überlassung von 100 amerikanischen M1 Abrams-Panzern an die baltischen Staaten? Oder die intensivierte militärische Präsenz und Manövertätigkeit der NATO in ihren östlichen Gebieten, in diesem Fall die Ukraine eingeschlossen, sowie im Schwarzen Meer? Oder der Einsatz amerikanischer und britischer Ausbilder in der Ukraine? Oder gar die Modernisierung der in Westeuropa noch stationierten taktischen Kernwaffen der USA?
Alle erwähnten Maßnahmen und weitere sind entweder bereits realisiert worden, laufen gerade oder wurden zumindest in Angriff genommen. Und die russische Seite übt sich in ähnlichen Nadelstichen, so dass sich das Risiko einer möglichen direkten militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland bereits spürbar erhöht hat. Eine solche Konfrontation könnte wegen der Unterlegenheit der Russen rasch atomar, zunächst auf taktischer Ebene, eskalieren. Dann allerdings wären mindestens die östlichen NATO-Staaten und ganz speziell das Baltikum nicht mehr zu verteidigen, sondern nur noch zu vernichten.
„Gefahrenabwehr, wo nötig“, die diese Möglichkeit nicht grundsätzlich in Betracht zieht, macht bestenfalls sich selbst und vor allem den potenziell Betroffenen etwas vor, und ist im Übrigen im Denken der vornuklearen Zeit stecken geblieben. Ein solches Defizit klingt auch bei Karsten Voigt an, wenn er meint, man solle „nicht bestreiten, dass das Streben der Ukraine nach einer Verbesserung seiner (ihrer? – W.S.) Verteidigungsfähigkeit völlig legitim ist“. Es gibt Kombinationen von militärischen Kräfteverhältnissen und zu erwartenden Waffenwirkungen, durch die der Begriff „Verteidigungsfähigkeit“ seinen rationalen Sinn einbüßt. Diese Lektion war zu Zeiten der Systemauseinandersetzung besonders gut auf deutschem Boden zu lernen, und sie gilt unverändert für Konflikte mit möglicher atomarer Schlagabtauschkomponente.
Dass es im Übrigen in Ländern wie Polen und den baltischen Staaten historisch bedingte Ängste gegenüber Russland gibt, ist verständlich, das ändert aber nichts am eben skizzierten Sachverhalt. Und, darauf hat Voigts Parteifreund Gerhard Schröder jüngst hingewiesen: „Diese Ängste dürfen […] nicht die Politik der gesamten EU (und der NATO – Ergänzung W.S.) gegenüber Russland bestimmen.“