Dienstleistungspolitik für gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit

Drei Viertel der Wertschöpfung wird in Deutschland durch Dienstleistungen erzeugt, fast ebenso viele Menschen arbeiten in diesem Sektor. Es ist auch für Gewerkschaften an der Zeit, eine systematische und umfassende Dienstleistungspolitik zu entwickeln und umzusetzen.

Dieses Ziel gilt natürlich besonders für die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Obwohl es schon bei der ver.di-Gründung von Frank Bsirske formuliert und in den folgenden Jahren immer wieder aufgerufen wurde, hat erst der 3. ver.di-Bundeskongress im September 2011 in Leipzig mit dem Beschluss »Gute Arbeit – Gute Dienstleistungen«1 eine Plattform für eine übergreifende Dienstleistungspolitik formuliert.

Mehr noch als bei der von den Industriegewerkschaften seit Jahren entwickelten Industriepolitik sieht sich ver.di vor die Herausforderung gestellt, einerseits der Heterogenität der Dienstleistungen gerecht zu werden und andererseits politische Leitlinien zu finden, die mehr bedeuten als nur gemeinsame Überschriften.

 

Merkmale von Dienstleistungsarbeit

Was allen Dienstleistungen gemeinsam ist, ist der Charakter der Dienstleistungsarbeit selbst. Sie ist Arbeit mit Menschen und für Menschen. Arbeit mit Menschen – oder in der Sprache der Forschung: Interaktionsarbeit2 – braucht immer ein direktes Gegenüber, ohne dieses kann sie nicht realisiert werden.

Ob Kundinnen und Kunden, Patientinnen und Patienten, Schülerinnen und Schüler: Sie alle gehören zum Prozess der Interaktion dazu, ohne sie ist diese nicht möglich. In den neuen Konzepten von Dienstleistungen werden sie z.B. bei Discountern oder im Internetbanking als Koproduzent der Dienstleistung selbst verortet. Dabei braucht in einer arbeitsteiligen Gestaltung von Dienstleistungsarbeit die Interaktionsarbeit in der Regel vor- oder nachgelagerte Arbeiten – wie dies z.B. in den Finanzdienstleistungen oder der Verwaltung im Back Office der Fall ist.

Ebenso wie sich die Arbeit mit Menschen in einer zunehmend komplexen Arbeitsteilung vollzieht, so umfasst auch der Begriff der Arbeit für Menschen sehr verschiedene Zielgruppen der jeweiligen Dienstleistung. Was in sozialen Dienstleistungen evident ist, die Arbeit für die Erziehung, Bildung, Pflege von Menschen, unterscheidet sich von der Dienstleistungsarbeit z.B. in der Logistik, in der Hafenwirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung, in Gefängnissen, bei der Polizei oder in den Finanzdienstleistungen. Private und öffentliche Dienstleistungen können für Personen oder für Unternehmen erbracht werden. Letztere wiederum für Unternehmen in der Produktion bzw. dem verarbeitenden Gewerbe oder aber für Unternehmen im Dienstleistungssektor.3

Aber über alle Differenzierungen hinweg wird erkennbar, dass Arbeit mit und für Menschen grundsätzlich etwas anderes ist als Arbeit, deren Zweck in der Herstellung von Produkten besteht. Beide Bereiche übergreifend wird Wissen produziert. Wissen als Umgang mit Symbolen und Zeichen, als Entdeckung, Kombination, Konstruktion und Kommunikation zielt auf Produkte, Produktion sowie auf Personen und kann in der Interaktion selbst Dienstleistungsarbeit sein, etwa in der Wissensvermittlung. Angesichts dieser Vielfalt stellt sich die Frage, ob die herkömmliche Einteilung der Struktur der Erwerbstätigen in Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe und solche in den Dienstleistungen nicht wesentlich differenzierter entwickelt werden muss.4

Produktions-, Dienstleistungs- und Wissensarbeit tragen gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichen Anteilen, zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung bei. Von daher sind auch die klassisch marxistischen wie andere Analysen, die in der industriellen Produktion die alleinige Quelle der Wertschöpfung sehen, fragwürdig und revisionsbedürftig.

 

Leitbild Gute Arbeit – Gute Dienstleistungen

Es ist also mehr als eine gewerkschaftspolitische Setzung, sondern leitet sich aus dem allgemeinen Charakter der Dienstleistungsarbeit ab, wenn die gewerkschaftliche Dienstleistungspolitik ihre Grundlage in den gemeinsamen Interessen aller in den Dienstleistungen Beschäftigten an guter Arbeit hat. Gute Arbeit geht von den Interessen der Beschäftigten aus und umfasst die Dimensionen Entgelt, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen, Beteiligung und Mitbestimmung, Qualifizierung, Sinn der Arbeit, Arbeitsgestaltung wie auch Wertschätzung, Anerkennung und Respekt.5 Diese Anforderungen der Beschäftigten binden Dienstleistungspolitik unmittelbar an die Praxis gewerkschaftlicher Interessensvertretung.

Sie geht jedoch darüber hinaus, indem sie zugleich die Interessen der Menschen, für die die Dienstleistungen erbracht werden, einbezieht. Nicht nur gute Arbeitsbedingungen, sondern auch eine fachlich und professionell gute Leistung sind ihre Ziele. Beide Ziele müssen jedoch in den privaten Dienstleistungen im Widerspruch von Kapital und Arbeit und im öffentlichen und freigemeinnützigen Sektor im Widerspruch zwischen den Interessen von Beschäftigten und den auf die Dienstleistungen angewiesenen Menschen und den Interessen der Arbeitgeber, möglichst kostengünstig und effizient zu wirtschaften, durchgesetzt werden. Arbeitgeber wollen gute Dienstleistungen zu geringen Kosten und in der Privatwirtschaft mit möglichst hohem Profit. Kunden fragen Dienstleistungen in guter Qualität und zu geringen Preisen nach. Beschäftigte wollen eine gute Leistung erbringen, jedoch zu einem guten Lohn und zu menschenwürdigen und ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsbedingungen.

Diese Interessenskonstellationen bilden sich im Alltag nie in dieser reinen Form ab, sondern werden im Konkreten immer wieder durch partielle Übereinstimmungen überwölbt: So haben öffentliche Arbeitgeber ebenso wie ein erheblicher Teil der Bevölkerung ein Interesse an möglichst langen und flexiblen Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen wie Behörden, Freizeitanlagen und Kindertagesstätten. So können sich einige Menschen vorstellen, an Sonn- und Feiertagen und bis in die späten Abendstunden einkaufen zu gehen. Die bei den Kommunen oder im Handel Beschäftigten vertreten demgegenüber das Recht auf menschenwürdige, humane Arbeitszeiten und somit eine Begrenzung von Öffnungszeiten.

Andererseits sind es vor allem die in den sozialen Dienstleistungen Beschäftigten, die ein besonders hohes Maß an Verantwortung für die ihnen anvertrauten Menschen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen an den Tag legen. Darum sind sie häufig nur schwer dazu zu bewegen, den Arbeitgebern durch Problemanzeigen, Protest oder gar im Arbeitskampf eine Grenze zu setzen. Diese Haltung schwächt Gewerkschaften in der Auseinandersetzung mit einer Politik des Sozialabbaus, der Kostensenkung und der Durchsetzung von Markt und Wettbewerb in den sozialen und öffentlichen Dienstleistungen, die zunehmend Marktmechanismen unterworfen werden.

Es sind diese Interessenskonstellationen, in denen Dienstleistungspolitik Anforderungen an die Arbeitsbedingungen und an die Entwicklung und das Angebot der Dienstleistungen entwickeln muss. Wie müssen Dienstleistungen gestaltet werden, damit a) die Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen haben, um b) gute Arbeit leisten und c) damit der Nachfrage nach der jeweiligen Dienstleistung gerecht werden zu können. Dabei geht es um die ökonomischen Rahmenbedingungen, die sich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen und die Entwicklung der Dienstleistungen selbst.

Diese Fragen müssen immer unter konkreten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gewerkschafts- wie gesellschafts- und wirtschaftspolitisch beantwortet werden.

Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik vollziehen in den letzten Jahren den Weg anderer europäischer Länder nach. Sie stehen an der Schwelle zu einer von Technologie durchdrungenen Dienstleistungsökonomie mit einem starken und auf Dauer auch unverzichtbaren industriellen Sektor.

Die mit der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft häufig verbundenen Hoffnungen und Erwartungen wurden indes enttäuscht: Weder ist Dienstleistungsarbeit höherwertiger, humaner und qualifizierter als Industriearbeit, noch hat sich die Lebensqualität in der Dienstleistungsgesellschaft verbessert. Im Gegenteil: Nirgendwo zeigt sich der Übergang vom rheinischen zum neoliberalen Kapitalismus so deutlich wie in der deutschen Dienstleistungspolitik der vergangenen Jahrzehnte, dies allerdings im Geleitzug der Vollendung des europäischen Binnenmarktes: Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung der Dienstleistungen und der Arbeitsmärkte gingen dabei Hand in Hand. Nur dort, wo es gelang, starke Gewerkschaften und intakte betriebliche Interessensvertretungen zu mobilisieren, konnte dieser Prozess verlangsamt und halbwegs sozial abgefedert werden.6

Darum verfolgt gewerkschaftliche Dienstleistungspolitik das Ziel, Dienstleistungsarbeit materiell und immateriell aufzuwerten. Ihr Stellenwert für die ökonomische, soziale wie auch die ökologische Entwicklung wird immer noch vielfach verkannt. Dass ohne Dienstleistungsarbeit industrielle Produktion nicht mehr möglich ist, diese Erkenntnis wächst in der Wirtschaft. In der staatlich geförderten Forschungs- und Technologiepolitik aber wird dem, so etwa in der High Tech-Strategie der Bundesregierung, kaum Rechnung getragen. Informations- und Kommunikationstechnologien verändern die klassischen Branchen in nie gekanntem Maße, Dienstleistungsarbeit von der Kundenberatung bis zur Warenauslieferung bleibt jedoch unverzichtbar. Auch die wachsenden Branchen Verkehr und Logistik sind zunehmend auf höher qualifizierte Dienstleistungsarbeit angewiesen.

Ein fundamentaler Wandel findet in den sozialen Dienstleistungen statt: Über Jahrzehnte hinweg folgt die Bundesrepublik dem Entwicklungspfad konservativer Wohlfahrtsstaaten, in denen soziale Dienstleistungen entweder den Familien überantwortet blieben (Erziehung, Pflege, Hauswirtschaft) oder aber frei gemeinnützigen, meist kirchlichen Einrichtungen bzw. solchen der freien Wohlfahrt. Erst mit der seit etwa 40 Jahren von den Frauen geforderten und nun auch von Wirtschaft und Politik gewollten höheren weiblichen Erwerbsbeteiligung und dem Zerfall der traditionellen Familienstrukturen müssen immer mehr soziale Dienstleistungen als bezahlte Erwerbsarbeit angeboten werden.

In Folge dessen werden soziale Dienstleistungen zur »Wachstumsbranche« in Deutschland. Eine im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Studie hat für die Bereiche Pflege, Kinderbetreuung und hauswirtschaftliche Dienstleistungen die bis 2025 entstehenden Bedarfe simuliert. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass in diesem Zeitraum die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,23 Mio. auf 3,13 Mio., die Zahl der zu betreuenden Kinder von 417.000 auf 888.000 und die Zahl der Haushalte, die auf Hilfen zurückgreifen, von 4,08 auf 5,5 Mio. steigen wird. Aus diesen wachsenden Bedarfen ergeben sich ein Wachstumsimpuls von etwa einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 667.000 zusätzliche Arbeitsplätze.7

Mit ihrer wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung korrespondiert bisher aber nicht die materielle wie immaterielle Wertschätzung sozialer Dienstleistungen. Soziale Dienstleistungsarbeit wird immer noch weitgehend als geringerwertige und niedrigproduktive Tätigkeit angesehen und entgolten. Dienstleistungsarbeit aber muss im gesellschaftlichen wie gewerkschaftlichen Diskurs als wertvolle und produktive Arbeit bestimmt und anerkannt werden. Hier hat es in den letzten Jahren erste Erfolge gegeben. Im gesellschaftlichen Diskurs oder aber in Arbeitskämpfen mit hohem öffentlichen Aufmerksamkeitswert wie im Sozial- und Erziehungsdienst und partiell in Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen, konnte der Wert der Dienstleistungsarbeit öffentlichkeitswirksam vermittelt werden. Auch Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst und selbst im Handel und den Finanzdienstleistungen werden zunehmend mit dem Wert der Dienstleistungsarbeit für den Erfolg der Dienstleistungen und dem Interesse der Menschen an guten Dienstleistungen begründet.

Ebenso wie die Entgelt- so muss die Qualifizierungspolitik dem Gebot der Aufwertung der Dienstleistungsarbeit folgen: Denn die Professionalisierung der Dienstleistungsarbeit folgt ihrem wachsenden Anteil an der Wertschöpfung wie ihrem Beitrag zu einer gelingenden Gesellschaft. Obwohl die hohe Zahl der Arbeit suchenden der These eines zunehmenden Fachkräftemangels zu widersprechen scheint, so mangelt es in den sozialen Dienstleistungen wie auch anderen Dienstleistungsbranchen an qualifizierten Fachkräften. Der hohe Anteil des Niedriglohnsektors an den Dienstleistungen ist eine Ursache dafür, die andere liegt in der über Jahre vernachlässigten Ausbildung etwa in der Pflege und im Erziehungswesen, aber auch in dem hartnäckigen Vorurteil, Dienstleistungsarbeit könne ja jede und jeder. Dienstleistungspolitik bedeutet auch Qualifizierungspolitik.

Dienstleistungen aufzuwerten verlangt auch, sie durch Innovationen weiterzuentwickeln. Zwar verfolgen die staatlich geförderte Forschungs- und Technologiepolitik sowie weite Teile der universitären und außeruniversitären Forschung eine vornehmlich technologieorientierte Innovationsstrategie, während ein Großteil der Dienstleistungsunternehmen wie der öffentliche Dienst auf eine systematische Dienstleistungsinnovationsstrategie verzichten. Aber dass Innovationen in Dienstleistungen und gute Dienstleistungsarbeit auch systematisch entwickelt werden müssen, daran führt kein Weg vorbei. Beschäftigte und Kunden fordern zunehmend mehr Qualität und werden so zu Treibern und sollten im Sinne einer Beteiligungsorientierung auch zu Trägern von Dienstleistungsinnovationen werden. Dies geschieht bisher viel zu selten, wie auch die Ergebnisse des ver.di-Innovationsbarometers zeigen. Eingebunden in den Kontext guter Arbeit und guter Dienstleistungen sieht sich auch ver.di als Anwalt für und Akteur in einer innovativen Dienstleistungsentwicklung.

Auch in der regionalen Strukturpolitik wird die Bedeutung der Dienstleistungen zunehmend erkannt, als unverzichtbar im Kontext der industriellen Wertschöpfung wie auch in ihrer Bedeutung für die Beschäftigung wie für die Lebensqualität. Schlüssel ist eine gute öffentliche Infrastruktur, sind hochwertige öffentliche aber auch wertschöpfende private Dienstleistungen wie etwa der Tourismus, die Freizeitangebote usw.

 

Dienstleistungspolitik für soziale Gerechtigkeit

Entscheidend für die Zukunft der Arbeit in den Dienstleistungen und die Qualität der Dienstleistungen selbst aber sind die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Ein »weiter so« unter dem Vorzeichen neoliberaler Deregulierung und der weiteren Entstaatlichung, zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit und wirtschaftlicher Ungleichgewichte würde gewerkschaftliche Dienstleistungspolitik, ob in den Branchen und Regionen oder auf nationaler wie europäischer Ebene, zu einer Sisyphusarbeit machen. Wer will, dass Dienstleistungen zu einer humaneren und sozial gerechten wie ökologisch verantwortbaren Gesellschaft beitragen, muss eine andere Politik durchsetzen: Wesentlich für eine auf soziale Gerechtigkeit zielende Dienstleistungspolitik sind eine Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung und der Ausbau öffentlicher Dienstleistungen. Dieser Ansatz muss in eine wirtschaftspolitische Strategie zugunsten eines sozialen Wachstumspfades eingebettet werden.

In Deutschland hat sich die Einkommens- und Vermögensverteilung in den letzten Jahrzehnten zunehmend polarisiert. Die Einkommen des reichsten Zehntels der Bevölkerung (durchschnittlich 57.300 Euro netto) überstiegen laut einer Studie der OECD8 im Jahr 2008 die des ärmsten Zehntels um das achtfache (durchschnittlich 7.400 Euro). Die zentrale Ursache hierfür liegt in der ungleichen Lohnentwicklung.

Ebenfalls zugenommen hat die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung. 27% der Bevölkerung haben so gut wie kein Vermögen oder sind sogar verschuldet. Hingegen besitzen die vermögendsten zehn Prozent der Bevölkerung insgesamt einen Anteil am Gesamtvermögen von mehr als 60%. Die obersten ein Prozent verfügen sogar über knapp ein Viertel des Gesamtvermögens.9

Zur wachsenden Vermögensungleichheit hat wesentlich die Politik der Steuersenkungen beigetragen. Die Senkung der Körperschaftssteuer, die Abschaffung der Vermögenssteuer und eine im internationalen Vergleich sehr geringe Besteuerung von Erbschaften – jährlich werden ca. 200 Mrd. Euro vererbt, aber das Erbschaftssteueraufkommen lag im Jahr 2009 lediglich bei 4,3 Mrd. Euro10 – haben dem Staat Einnahmen in Milliardenhöhe gekostet und die soziale Ungleichheit erhöht.

Unter der Umverteilung nach oben hat die Entwicklung der Massenkaufkraft in Deutschland gelitten. Die vergleichsweise schwache Binnennachfrage bei gleichzeitigen Export­überschüssen hat in Europa zum einen die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften verstärkt und damit wesentlich zur Krise der Eurozone beigetragen. Zum anderen hat aber ein zu geringes Masseneinkommen auch negative Konsequenzen für die Entwicklung des Dienstleistungssektors. Ohne ausreichende Masseneinkommen kann sich trotz wachsender Bedarfe keine entsprechend kaufkräftige Nachfrage nach Dienstleistungen entwickeln. Entweder werden Dienstleistungen überhaupt nicht nachgefragt oder die geringen verfügbaren Einkommen fördern die Nachfrage nach niedrig entlohnten Dienstleistungen. In der Konsequenz wird durch die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums auch die Entwicklung des Dienstleistungssektors gehemmt bzw. folgt die­se einer low road-Strategie.

Die low road-Strategie in die Dienstleistungsgesellschaft wurde in Deutschland mittels Arbeitsmarktliberalisierung und einer Politik der Entstaatlichung betrieben. Diese Entwicklung hat der Qualität der erbrachten Dienstleistungen geschadet und zu einem hohen Verbreitungsgrad prekärer Beschäftigungsverhältnisse insbesondere in Dienstleistungsbranchen wie etwa dem Einzelhandel, dem Gesundheits- und Pflegebereich, Call-Centern und dem Wach- und Sicherheitsgewerbe geführt.

Damit stattdessen künftig hochwertige Dienstleistungen und gute Arbeit gefördert werden, müssen die Verteilungsverhältnisse korrigiert und die Beschäftigungsverhältnisse reguliert werden. Hierzu zählt insbesondere die Entprekarisierung von Arbeitsverhältnissen etwa durch Mindestlöhne, die Begrenzung von Befristungen und Equal pay in der Leiharbeit, die Stärkung des Tarifsystems durch eine erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung und eine Steuerpolitik, die große Unternehmen, hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften höher besteuert.

Eine steuerpolitische Umverteilung zugunsten der Bezieherinnen und Bezieher unterer und mittlerer Einkommen fördert soziale Gerechtigkeit und unterstützt zum einen durch eine höhere Massenkaufkraft die Nachfrage nach hochwertigen Dienstleistungen. Zum anderen aber schafft sie die Basis dafür, dass der Staat ausreichende finanzielle Mittel erhält. Diese sollen die Grundlage bilden für die Entwicklung eines aktiven Sozialstaats.

 

Ausbau öffentlicher Dienstleistungen

Der aktive Sozialstaat folgt einem doppelten Leitbild. Erstens sollen die sozialen Sicherungssysteme gestärkt werden und allen Menschen Sicherheit im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit bieten. Zweitens verfolgt der aktive Sozialstaat eine Strategie des Ausbaus öffentlicher Dienstleistungen. Damit soll eine Trendwende eingeleitet werden. In Deutschland ist im Rahmen einer Spar- und Privatisierungspolitik in den letzten Jahrzehnten systematisch Beschäftigung im öffentlichen Dienst abgebaut worden. Zwischen 1991 und 2010 ist die Zahl der Beschäftigten bei Bund, Ländern und Gemeinden um 1,6 Mio. zurückgegangen, dies entspricht einem Anteil von mehr als 30%.11 Hierunter hat die Qualität öffentlicher Dienstleistungen gelitten.

Der Ausbau öffentlicher Dienstleistungen orientiert sich an gesellschaftlichen Bedarfen und soll einen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft unterstützen. Gerade beim Angebot sozialer Dienstleistungen weist Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Dienstleistungslücke auf. Berechnungen zufolge müsste Deutschland bezogen auf die Bevölkerungszahl etwa 7 Mio. Beschäftigte zusätzlich in Bereichen wie Bildung, Forschung und Entwicklung, Kultur, Gesundheit und Pflege haben, um das durchschnittliche Niveau der skandinavischen Länder zu erreichen.12

Bedarf an mehr öffentlichen Dienstleistungen besteht aber nicht nur bei Bildung, Gesundheit und Pflege. Es werden auch mehr kommunale Dienstleistungen benötigt, etwa zur Förderung von Integration und der Entwicklung interkultureller Kompetenzen. Außerdem erfordert der ökologische Umbau neben einer ökologischen Modernisierung der Industrie eine Vielzahl von ökologischen Dienstleistungen.

Ein Beispiel liefert die Energiewirtschaft. Neben dem Ausbau regenerativer Energien muss die Energienutzung vor allem effizienter werden. Hier sind etwa verschiedene Beratungsdienstleistungen gefragt. Und wenn sich Mobilität an Zielen wie Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung ausrichten soll, dann muss der öffentliche Nah- und Fernverkehr ausgebaut werden und es müssen die unterschiedlichen Verkehrsträger neu aufeinander abgestimmt und die Gewichtung zwischen ihnen zugunsten der umweltschonenderen verschoben werden. Deshalb werden Dienstleistungskonzepte zur Verknüpfung der Mobilitätsträger und zur Entwicklung des öffentlichen Verkehrs benötigt. Wichtig ist dabei, dass auch Menschen mit geringen Einkommen Mobilität ermöglicht wird. Beispiele für die Vielfalt solcher Mobilitätsdienstleistungen und ihrer Nutzung in Deutschland gibt es bereits seit einigen Jahren. Zu ihnen zählen etwa neue Angebotsformen im Bereich des Car-Sharings, z.B. Kooperationen zwischen öffentlichen Personennahverkehrsunternehmen und Car-Sharing-Anbietern.

Zur Förderung von sozialer Gerechtigkeit ist aber nicht nur ein allgemeiner Ausbau öffentlicher Dienstleistungen notwendig. Es muss auch dafür gesorgt werden, dass die öffentlichen Dienstleistungen allen sozialen Gruppen zugänglich sind. Zwar ist die Verteilungswirkung bei privatisierten öffentlichen Leistungen eindeutig regressiv, womit sozial benachteiligte Menschen besonders stark unter den Folgen von Privatisierungen leiden. Aber auch bei einigen öffentlichen Dienstleistungen bestehen Nutzungsfilter, etwa aufgrund mangelnder Information, die dazu führen, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen von ihnen unterproportional profitieren. Es müssen also auch die Verteilungswirkungen öffentlicher Güter und Dienstleistungen in den Blick genommen werden.

Das bekannteste Beispiel für soziale Selektivität bei öffentlichen Dienstleistungen liefert das deutsche Bildungssystem, das kaum eine soziale Durchlässigkeit bietet und damit von Gymnasien und Universitäten vornehmlich die Kinder der Mittelschichten und reicher Eltern profitieren lässt. Forschungsarbeiten zeigen zudem, dass es neben dem Bildungssystem auch bei der Nutzung von Sportanlagen, öffentlichen Verkehrsmitteln und Gesundheitseinrichtungen gruppenspezifische Unterschiede gibt und ärmere soziale Gruppen vergleichsweise seltener auf diese Angebote zurückgreifen.13

Darum muss neben dem quantitativen Ausbau öffentlicher Dienstleistungen bei der qualitativen Gestaltung der Dienstleistungsangebote dafür Sorge getragen werden, dass beim Zugang zu ihnen keine Bevölkerungsgruppen diskriminiert werden. Angesichts der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Lebensstile bestehen hier große Herausforderungen und Potenziale für innovative öffentliche Dienstleistungen, z.B. im Bereich einer an den spezifischen Bedürfnissen älterer Migrantinnen und Migranten orientierten Altenpflege.

 

Leitbild Soziales Wachstum

Eine Politik, die Verteilungsgerechtigkeit fördern, an gesellschaftlichen Bedarfen orientierte hochwertige Dienstleistungen entwickeln und anbieten und gute Arbeit durchsetzen will, muss in eine makroökonomische und politische Gesamtstrategie eingebettet werden. Diese Gesamtstrategie geht davon aus, dass es ein Fehler war, die wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten den Marktkräften zu überlassen. Zu dieser Strategie gehören, wie bereits angesprochen, eine auf Verteilungsgerechtigkeit und eine ausreichende Finanzierung öffentlicher Aufgaben setzende Steuerpolitik, der Ausbau öffentlicher Dienstleistungen, die Förderung guter Arbeit und die Stärkung der gesellschaftlichen Nachfrage. Weitere zentrale Bausteine eines solchen, unter dem Begriff »soziales Wachstum«14 diskutierten wirtschaftspolitischen Leitbilds sind die Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel, den Finanzsektor wieder stärker auf seine Kernfunktion, die Kreditversorgung von Unternehmen und Haushalten, zu beschränken sowie eine wirtschaftspolitische Koordinierung von Finanz-, Steuer-, Lohn- und Sozialpolitik in Europa, die dem Ziel eines sozialen Europas verpflichtet ist.

 

Martin Beckmann ist Gewerkschaftssekretär im Bereich Politik und Planung der ver.di-Bundesverwaltung. Wolfgang Uellenberg-van Dawen leitet den Bereich Politik und Planung.

1 ver.di (2011): Gute Arbeit – Gute Dienstleistungen, Beschluss des 3. ver.di-Bundeskongresses, https://bundeskongress2011.verdi.de/antraege/

2 Zum Überblick: Wolfgang Dunkel, Margit Weihrich (2010): Arbeit als Interaktion; in: Fritz Böhle et al., Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden.

3 Zu den Facetten von Dienstleistungsarbeit vgl. auch das Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen »Dienstleistungsarbeit zwischen Niedriglohn, Professionalisierung und Innovation«, 9/2011.

4 Michael Vester (2011): Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die gesellschaftliche Arbeitsteilung? In: WSI-Mitteilungen, 12/2011.

5 DGB-Index Gute Arbeit GmbH (2010): DGB-Index Gute Arbeit – Der Report 2010, Berlin.

6 Torsten Brandt et al. (2008): Europa im Ausverkauf. Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und ihre Folgen für die Tarifpolitik, Hamburg.

7 Michael Dauderstädt (2012): Wachstum durch Ausbau sozialer Dienstleistungen, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

8 OECD (2011): Divided we stand – why inequality keeps rising, Paris.

9 Joachim Frick, Markus Grabka (2009): Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland, DIW-Wochenbericht 4/2009.

10 Lorenz Jarrass, Gustav Obermair (2012): Steuermaßnahmen zur nachhaltigen Staatsfinanzierung, Münster.

11 Dieter Vesper (2012): Finanzpolitische Entwicklungstendenzen und Perspektiven des Öffentlichen Dienstes in Deutschland, IMK-Study 25, Düsseldorf.

12 Cornelia Heintze (2010): Das skandinavische Vorbild. Zur Rolle des Staates als Arbeitgeber; in: Vorgänge 191.

13 Ernst Kistler/Daniela Schneider (2011): Verteilungswirkungen öffentlicher Dienstleistungen – Bestandsaufnahme und Systematisierung von Forschungsfragen, Düsseldorf.

14 Friedrich-Ebert-Stiftung (2011): Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik, Bonn.