EU-Bürger verrecke!

Was machen Hartz-IV-Szene, Linkspartei und Gewerkschaften mit den „Sozialtouristen“?

Nach wie vor gibt es sie. Meist mit selbstgebastelten Transparenten auf ihren Montagsdemos, in den Beratungsstellen von Gewerkschaften, Linkspartei oder sozial-kultureller Zentren haben sie hingebungsvoll ihre Flyer ausgelegt. Sie sind voll ausgestattet mit Tipps und Tricks zum Thema Hartz IV, aktuellen und überholten, allgemeingültigen oder sehr spezifischen Urteilen zu Ansprüchen gegen das örtliche Jobcenter, von Heizungskostenübernahme, Kinderbettendarlehen und Sanktionen. Auf  Internetseiten und in unüberschaubaren Foren werden Ratschläge gegeben, Erregungskurven von Gekürzten als auch die eine oder andere Anleitung zum Thema Sozialleistungsbetrug ausgebreitet, gern auch „das Merkel“ (Schenkelklopfer, hahaha!) einen 1-Euro-Job an den Hals gewünscht mit dem Slogan „Hartz IV ist Armut Made in Germany“, schwarz-rot-gold unterlegt, je nach Geschmack. – Es sind die Erwerbsloseninitiativen und Hilfeleister*innen nebst vielen Bekannten und Auskenner*innen, gestählt aus stundenlangen Auseinandersetzungen mit dem Fallmanager. Sie haben sich in den zehn Jahren, in denen die Hartz-IV-Gesetzgebung nun schon besteht, zu einer veritablen Szene gemausert und ihren Gutteil dazu beigetragen, dass diese rot-grüne Sozialreform nach wie vor wie ein Bleiklotz an den sozialdemokratischen Zustimmungswerten hängt. Doch bei einer neueren Entwicklung im Hartz-IV-Bereich blieb die Szene eigentümlich still.

 

„Hartz IV muss weg“ für EU-Bürger?

Es geht um die Frage des Hartz-IV-Anspruchs von EU-Bürger*innen. Und auch aus der Partei, deren Geburtshelferin die Hartz-IV-Gesetzgebung war, DIE LINKE, lässt sich nur sehr verhalten etwas darüber hören, wie man es denn so mit der Frage hält: Sollten EU-Bürger*innen, die nach Deutschland ziehen, um Arbeit zu suchen, eigentlich Hartz IV bekommen? Einen Grund mag folgende Anekdote andeuten: Als Linken-Vorsitzende Katja Kipping auf ihrer Facebook-Seite eine Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen veröffentlichte, die einer rumänischen Familie Hartz-IV-Leistungen zusprach, ergoss sich über ihren Beitrag ein Sturm von mehrheitlich ganz und gar nicht zustimmenden Kommentaren, und zwar auch von erklärten LINKEN-Anhänger*innen. Im Bundestagswahlprogramm der LINKEN taucht das Thema der Leistungsausschlüsse von EU-Bürger*innen allenfalls verklausuliert auf, als „Mindestsicherung“, obwohl durch einen einfachen Wegfall des entsprechenden Passus im SGB II dem abgeholfen werden könnte (was man auch so konkret schreiben könnte). Und auch im Europawahlprogramm findet sich wiederum lediglich die allgemeine Forderung nach einer EU-weiten Mindestsicherung. Ebenso wie bei der Oppositionsführerin im Bundestag ist bei den Grünen sowie der SPD die Argumentation zur „Wer betrügt, der fliegt“-Forderung der CSU eigenartig defensiv. Man wolle die Debatte „versachlichen“, denn die Zahl der EU-Bürger*innen, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, seien im Verhältnis eher gering, die durchschnittliche Qualifikation etwa von rumänischen und bulgarischen Zuwanderer*innen etwa höher als das der Deutschen usw. … Und was, wenn zukünftig nicht mehr? Ließe man sie dann etwa auf Deutschlands Gehwegen verrecken? Es bleibt so nämlich die Grundannahme akzeptiert: „Sozialtourismus“ sei von Übel, unerwünscht und – so zynischerweise im Koalitionsvertrag festgeschrieben – schade der Akzeptanz der europäischen Integration. Deshalb werde man „der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken“.

 

EU-Binnenmarkt schafft EU-Binnenwanderung

Die plötzliche Aufregung um „Sozialtourismus“ ist zunächst erstaunlich, weil es gerade europäische Konservative, blairistische Sozialdemokraten und kosmopolitisch-grüne IdealistInnen waren, denen die Schaffung eines EU-Binnenmarkts mit voller Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Herzensanliegen war. Bedenken gegen die Öffnung der EU-Ländergrenzen für die Arbeitsmigration erhoben damals nur Gewerkschaften und – soweit überhaupt vorhanden – Linke, übrigens erfolglos und zusätzlich als BesitzstandswahrerInnen und verkappte NationalistInnen geschmäht. Nun werden die Binnenmarkt-Liberalisierer von damals aber die Geister der Armut nicht mehr los, die sie selbst riefen.

Denn die Sach- und Rechtslage ist eigentlich so kompliziert nicht: Bereits seit langen Jahren existiert das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), in dem sich die meisten (allerdings nicht alle) EU-Staaten verpflichtet haben, den jeweils in den anderen Ländern lebenden Bürger*innen die gleichen Sozialleistungen zuzugestehen. Und es existiert die EU-Richtlinie 883/2004 aus dem Jahre 2010, in dem alle EU-Länder verpflichtet wurden, ihren jeweils im Land lebenden EU-Bürger*innen die gleichen steuerfinanzierten Sozialleistungen zuzugestehen, wobei diese Gleichheit lediglich für die ersten drei Monate eingeschränkt werden darf. Dies entspricht auch einer gewissen Logik: Wenn man volle Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU will, muss man auch an den Fall denken, dass die entsprechenden Personen in einem anderen EU-Land plötzlich arbeitslos werden oder zunächst noch sind. In diesem Fall müssen die EU-Binnenmarktgrenzgänger*innen – so der Gedanke – jedenfalls nach Ablauf des normalen Besucheraufenthalts den einheimischen Arbeitslosen vor Ort gleichgestellt werden, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Niemand käme heute auf die Idee, Kindergeld nur für gebürtige Bayern in Bayern auszuzahlen oder BAföG nur an hessische Studierende mit hessischem Wohnort. Demgegenüber – und im offenen rechtlichen Gegensatz dazu – schließt § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II pauschal alle nichtdeutschen hier lebenden Arbeitssuchenden von jeglichem Hartz-IV-Bezug vollständig aus. Nach dem Motto: EU-Bürger, verrecke.

 

Die Bombe lieben lernen

Derzeit steht die deutsche Linke als auch die von ihr hegemonisierte Hartz-IV-Szene recht hilflos vor der Sozialtourismus-Kampagne der Konservativen, ebenso wie die Gewerkschaften. Dies hat entscheidend seine Ursache, dass die Sozial- als auch die Systemkritik der betreffenden Milieus sich bisher am deutschen (potenziell) Beschäftigten orientiert hat, der um sein kleines Glück kämpft bzw. hierum (potenziell) gebracht wird. Die EU-Integration ist über diese Bewusstseinsebene aber deutlich hinweg gerollt. Sie hat neben hochqualifizierten arbeitslosen EU-Akademiker*innen, Post-DAAD-StipendiatInnen mit fließender Dreisprachigkeit und hoher Kreativität und der über dem grauen Heiratsmarkt Osteuropas migrierten Ehefrau, die jeweils über nichtstaatliche Versorgungssysteme ihr Leben bestreiten, zunehmend verarmte Facharbeiter-Arbeitsmigrant*innen, aber auch diskriminierte Armutsmilieus, Roma, Sinti und aus der Herkunftsgesellschaft Ausgestoßene nach Deutschland einwandern lassen. Fernab der bisherigen etablierten Interessenvertretungen haben sie eigene Möglichkeiten des Durchkommens – und Hierbleibens – etabliert: Von familiären Communities, die sich zwischen Halblegalität und Kleinkriminalität finanzieren bis hin zu Selbsthilfestrukturen, die sich kurzfristig Arbeitsverhältnisse und Rechtsbeistand verschaffen. Denn die deutsche Sozialrechtsprechung zum Leistungsausschluss ist ebenso unsicher wie löchrig. Unsicher, weil bereits einige Sozialgerichte – mit jeweils verschiedener Begründung als auch in verschiedener gradueller Differenzierung zwischen Herkunftsland, Bedarfsgemeinschaftstyp und Erwerbsfähigkeitsgrad – unter Verweis auf die EU-Rechtslage entgegen des ausdrücklichen Wortlauts des SGB II Leistungen zusprechen. Löchrig, weil selbst dieser Leistungsausschluss des SGB II wiederum für Aufstocker*innen und Selbstständige nicht gilt. Hier finden sich bei genügender Verankerung in sozialen Netzwerken und „Leute-die-wen-kennen“ und nach anwaltlicher Beratung häufig Mittel und Wege zum begehrten Hartz-IV-Bewilligungsbescheid. Was jedoch bisher weitgehend fehlt, ist eine Vernetzung mit den deutschen Kritiker*innen der Hartz-IV-Regelung. Das ist einerseits verständlich, ging es doch den ganzen Erwerbslosen-Initiativen auf ihren Montagsdemos sowie der deutschen Linken stets eher um eine Alternative zu Hartz IV, nicht ihre ausweitende Beanspruchung auf das armutsmigrierende Lumpenproletariat. Und auch der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist – sowohl sozialkulturell als auch in ihrer ideologiefrei-pragmatischen Art – der neue Adressatenkreis aus Südungarn, Rumänien, Andalusien und den Rhodopen eher fremd. Hier muss die deutsche Linke eine entscheidende, weil verknüpfende, Rolle spielen. Schließlich stellt die Partei, jedenfalls ideologisch, einen Schnittpunkt zwischen dem sozial- oder gewerkschaftspolitischen Aktivisten, der engagierten Kommunalpolitikerin im „Problemstadtteil“ im Ruhrgebiet, Frankfurt/M. oder Neukölln und internationalistischer Systemkritik dar. Kurzfristig wird dies in Wahlergebnissen nicht honoriert werden, sondern die Gefahr, dass die ganze rassistische Scheiße, nach der nicht nur Arbeit, sondern auch Stütze nur für Deutsche zu haben sei, auch innerhalb der Hartz-IV-Kritiker sichtbar wird, vergrößern. Mittelfristig aber werden die neuen Arbeitnehmer*innen aus aller EU-Herren Länder sie lieben.