Eine Zukunft ohne Krankheiten?

„Grüntee für die Dame und Kaffee für den Herrn.“ Solche Aussagen, basierend auf der Analyse des genetischen Profils, sind heutzutage keine Fiktion mehr. Dienstleistungsfirmen bieten individualisierte Ernährungsempfehlungen an und die Lebensmittelindustrie lockt mit den dazu passenden personalisierten Lebensmitteln. Functional Food und die Wissenschaft dahinter.

Interview mit Hannelore Daniel

Hannelore Daniel ist Leiterin der Abteilung Biochemie des Zentralinstituts für Ernährungs- und Lebensmittelforschung (ZIEL) zur Grundlagenforschung zu den Wechselwirkungen zwischen Gen- und Stoffwechselfunktionen an der Technischen Universität München.

Wie sieht der Stand der Forschung aus? Beeinflussen unsere Gene die Verstoffwechselung unserer Nahrung oder die Nahrung als ein Umweltfaktor unsere Gene?

Unsere Gene beeinflussen, wie wir Nahrungsinhaltsstoffe verarbeiten. Tatsächlich stellt unsere Nahrung auch den wichtigsten Umweltfaktor dar, der auf unsere Gene einwirkt und sie so stark verändert wie kaum ein anderer. Es handelt sich hierbei um ein Wechselspiel: Nahrungsinhaltsstoffe beeinflussen die Genfunktion und die Gene determinieren ihrerseits die Verstoffwechselung von Nahrungsinhaltsstoffen. Die Art und Weise, wie Menschen mit ihren Nahrungsinhaltsstoffen umgehen, ist so vielfältig, wie sie sich auch äußerlich voneinander unterscheiden. Es gibt innerhalb einer Population immer eine Varianz. So können sich mehrere Frauen mit ein- und derselben Konfektionsgröße dennoch zu zehn, fünfzehn Prozent in ihrem Stoffwechsel unterscheiden. Und das ist der Einfluss des Genoms.

Ist die Wissenschaft denn soweit, personalisierte Ernährung anzubieten?
Nein.

Können funktionelle Lebensmittel wie die Probiotika Actimel oder Activia tatsächlich zur Verbesserung der Gesundheit, der Prävention oder gar Heilung von Krankheiten beitragen?

Zur Heilung können sie ganz sicher nicht beitragen. Ob sie der Prävention dienlich sein können, kann ich nicht genau sagen. Es gibt einige Studien, die zeigen, dass Produkte mit probiotischen Organismen bei kranken Menschen Wirkungen haben. Die Frage, ob ein Produkt, das in einem kranken Organismus wirkt, auch in einem gesunden wirkt, ist bislang aber noch ungeklärt. Im Prinzip ist es unmöglich zu zeigen, dass ein gesunder Mensch durch die Zufuhr eines Produktes noch gesünder wird, da allein schon der Begriff „Gesundheit“, abgesehen von einer allgemeinen Definition der WHO, wissenschaftlich nicht definiert ist. Meiner Ansicht nach spricht nichts dagegen, auch solche Produkte zu sich zu nehmen. Glaube versetzt ja bekanntlich auch Berge. Und solange es schmeckt, essen es die Leute. Der versprochene Mehrwert ist auch nicht immer direkt zu spüren. Aber das gilt für andere Produkte auch; der Aufkleber und die Marke sind häufig bedeutender als das Produkt selbst.

Existieren auch unabhängige Studien, die die Wirkung von Functional Food wie zum Beispiel Actimel beweisen?

De facto gibt es kaum unabhängige Studien, was jedoch für ziemlich alle Produkte im Ernährungssektor gilt. Und ich wüsste auch nicht, wer sie finanzieren sollte. Es gibt im Prinzip keine Förderinstitution, die bereit ist, für vergleichende wissenschaftlich unabhängige Studien auf der Grundlage von gegebenen Produkten finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Es wäre schon gut, hierfür neutrale Einrichtungen zu haben, die im Sinne des Verbraucherschutzes auch die wissenschaftliche Haltbarkeit der Aussagen prüft. Viele der großen Unternehmen bemühen sich schon darum, mit guten wissenschaftlichen Arbeiten die Wirksamkeit zu belegen. Für die Zulassung eines geprüften Health Claims, einer gesundheitsbezogenen Auslobung, gibt es die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA mit einem Expertengremium, das diese wissenschaftliche Evidenz auf der Grundlage von publizierten wissenschaftlichen Arbeiten prüft. Bisher aber haben nur sehr wenige der Functional Food diese Hürde genommen. Probiotische Produkte gehören bisher nicht dazu.

Wie schätzen Sie das Potenzial der Nutrigenomik ein?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Es ist wie mit jedem anderen neuen wissenschaftlichen Gebiet. Alle sind begeistert, hegen neue Hoffnungen. Das finde ich toll. Man muss sich aber auch darüber im Klaren sein, dass das alles nicht so einfach ist, wie es sich die Leute und häufig auch die Wissenschaftler vorstellen. Generell schätze ich das Potenzial der Nutrigenomik positiv ein, da wir durch sie ein ganz anderes Verständnis dafür bekommen, was Ernährung eigentlich ist. Bisher diente sie lediglich dem Zweck, die Menschen satt zu machen und sie mit bestimmten Mengen an Nährstoffen zu versorgen, wohingegen wir jetzt in einer Epoche leben, in der die Ernährungsforschung tatsächlich einen wissenschaftlichen Schub bekommt. Sicherlich kommen wir dem Ziel einer personalisierten Ernährung immer näher. Heutzutage wird so ziemlich alles personalisiert: die Medizin, die Pharmakologie und ebenso auch die Ernährung. Sie wird kommen, aber zunächst auch nur für solche Bevölkerungsgruppen, die es sich auch leisten können. Meistens sind dies aber genau diejenigen, die sie eigentlich gar nicht nötig haben.

Können Sie sich vorstellen, dass die Nutrigenomik als Wissenschaft missbraucht wird, um Profit zu machen?

Ja sicher, alles kann missbraucht werden. So wird auch die Nutrigenomik als Wissenschaft missbraucht. Das gilt aber eben für fast alle Wissenschaftsbereiche. Dienstleistungsfirmen wie 23andme oder Navigen bieten via Internet Ernährungsanamnesen verbunden mit genetischer Profilierung an, um individualisierte Empfehlungen auszusprechen.(1) Die Firmen nutzen dazu das vorhandene Wissen, das die Wissenschaft zur Verfügung stellt. Hier wird dann die Wissenschaft schon gelegentlich missbraucht, weil sie meist sehr viel vorsichtiger ist und vielfach eindeutige Belege für die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Genetik und Gesundheit/Krankheit nicht eindeutig liefern kann. Mit der Lebensmittelindustrie hat dies aber alles nichts zu tun.

Der Konsum bestimmter Lebensmittel ist auch mit Ängsten oder auch mit Hoffnungen auf ein sorgloses, gesundes Leben verbunden. Meinen Sie, dass sich Unternehmen wie Danone oder Nestlé ihrer Verantwortung bewusst sind und ihr nachkommen?

Ja, uneingeschränkt. Diese Unternehmen sind sich ihrer Verantwortung bewusst - aber es sind eben auch Unternehmen. Es ist zunächst einmal verboten, mit Lebensmitteln gesundheitsbezogene Aussagen zu machen, es sei denn, sie sind für ein Produkt durch die EU und EFSA genehmigt - und dies sind sehr, sehr wenige. Kein Unternehmen darf sagen: „XXX macht dich gesund.“ Da das Wort Gesundheit im Zusammenhang mit Lebensmitteln direkt nicht verwendet werden darf, ist der Begriff „Wellness“ populär geworden und dies nicht nur im Lebensmittelsektor. Natürlich versucht man suggestiv und assoziativ Gesundheit durch Werbung in Bildsprache oder Umschreibungen zu vermitteln. Aber, auch der Konsument ist hier nicht nur Opfer. Solange KonsumentInnen derartige Produkte wünschen, solange werden diese auch angeboten werden. Wir alle bestimmen mit unserem Griff in das Supermarktregal das dort stehende Angebot.

Wie beurteilen Sie die Anwendung von Gentests? Ist der „gläserne Mensch“ bereits Realität geworden?

Gentests werden sich weiter verbreiten, da die Leute offensichtlich auch dazu bereit sind, sich ihnen zu unterziehen. Ich bin überrascht, wenn ich mir Umfragen zur Genetik und Ernährung ansehe, welch hohe Akzeptanz Gentests finden. Ja, der Mensch wird gläsern werden und wir müssen uns einer Diskussion stellen, die wir meiner Meinung nach aber noch gar nicht begonnen haben. Sehe ich eine Gefahr darin? Bedingt durch mein Alter ja. Ich als älterer Mensch habe eine andere Sicht auf die Zukunft als jüngere Generationen. Die jungen Leute scheinen heutzutage weniger Hemmschwellen zu haben, alles offenzulegen. Viele stellen ihr gesamtes Leben auf Facebook. Ob man dann noch seine Genetik offenbart, ist nur noch ein marginaler Unterschied. Es gibt Webseiten wie „Do-it-yourself genomics“, auf denen sich Leute, die sich haben genotypisieren lassen, austauschen, Freundschaften schließen und Studien betreiben. Da denke ich mir dann auch nur noch: „Oh Gott, das gibt es doch alles gar nicht!“ Die jungen Leute sehen jedoch keinerlei Gefahr darin, alles von sich preiszugeben. Da setzt dann die sogenannte „Psychowellness“ ein.

Inwieweit ist eine Diskriminierung von bestimmten Personenkreisen vorstellbar?

Bereits jetzt werden in zwei US-amerikanischen Bundesstaaten und auch englischen Krankenkassen höhere Gebühren aufgrund eines erhöhten BMI erhoben.(2) Dies versteht man vor allem als „erzieherische Maßnahme“. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich dies weiter fortsetzt. Und auch wir haben die Regeln dafür eigentlich bereits gebrochen, denken sie an die Anschnallpflicht im Auto. Das heißt, wer sich nicht selbst schützt, muß ein Bußgeld zahlen.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) prüft derzeit die Werbeversprechen von Unternehmen. Meinen Sie, dass sie die VerbraucherInnen vor Verbrauchertäuschung schützt?

Die EFSA ist auf Wunsch nach mehr Verbraucherschutz eingerichtet worden und die Mitarbeiter prüfen die eingereichten Health Claims nach den derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnissen. Daher erfüllt sie ihre Aufgabe vollkommen. Vielmehr sollte man den Kollegen im NDA-Panel Schmerzensgeld dafür zahlen, dass sie sich durch unendliche Berge von Papier hindurchkämpfen, um die Health Claims zu überprüfen.(3) Und neunundneunzig Prozent der Health Claims sind auch abgelehnt worden, da die Wirkung der Produkte wissenschaftlich nicht hinreichend belegbar ist. Aber es gibt Produkte mit nachgewiesener Wirkung und Claim. So zum Beispiel von Unilever, die für den Nachweis der cholesterinsenkenden Wirkung der Becel pro activ Forschungsgelder von mehr als 15 Millionen aufgewendet und über 40 Studien am Menschen dazu durchgeführt haben. Und hier liegt das Problem, wenn Sie mich fragen. Kleinere Unternehmen können derart hohe Forschungsgelder in Millionenhöhe nicht aufbringen und geraten in diesem Bereich in einen Wettbewerbsnachteil. Durch den geforderten Verbraucherschutz generiert man im Prinzip Monopole, die zwangsläufig die großen Unternehmen begünstigen, die das Geld für die Forschung besitzen. Gleichzeitig gibt die EFSA aber auch Trittbrettfahrern nun keine Chance mehr, ihre imitierten Produkte auf dem Markt abzusetzen ohne jemals einen Euro in die Forschung investiert zu haben. Das muss man auch sehen. Letztlich soll auch nur derjenige, der Forschung betreibt, den Nutzen haben.

Wie sieht der Lebensmittelmarkt Ihrer Ansicht nach in zehn, 20 Jahren aus und entspricht er Ihrer Vorstellung?

Es herrscht Pluralismus pur. Es wird alles geben, was einen Markt findet. Es wird weiterhin große Supermarktketten mit billig produzierten Produkten zur Lebenssicherung geben, in denen es wahrscheinlich auch ein Regal mit Health Food geben wird. Eventuell sitzen auch ein, zwei Ernährungsberater und Fitnesscoachs im Supermarkt. In Japan kann man das heute schon partiell beobachten. Da stehen dann noch Gadgets im Supermarkt, mit denen man noch eben schnell seinen Cholesterinspiegel messen kann.(4) Dann gibt es noch Internetdienstleistungsfirmen, die einem Besorgungen abnehmen, indem sie anhand der Fitness Fertigmenüs liefern. Das alles ist möglich, fragt sich nur, wer es letzten Endes bezahlt. Es gibt aber wahrlich größere Probleme, denen wir uns künftig werden stellen müssen, wie die zunehmende Weltbevölkerung einerseits und die abnehmende Nahrungsanbaufläche andererseits. Schließlich wollen alle in Wohlstand leben, doch keiner weiß, wo die Anbauflächen zur Nahrungsmittelversorgung herkommen sollen. Das sind die wahren Probleme der Ernährung, abgesehen von der Weltklimaproblematik. Dagegen sind die anderen hier diskutierten Aspekte eher schon „esoterische Probleme“. In meiner Grundhaltung würde ich sagen, es sollen alle das haben, was sie haben wollen. Es sei denn es gibt einen neuen gesellschaftlichen Konsens, bei dem wir entscheiden, dass wir keine dicken Leute mehr haben wollen. Dann brauchen wir neue Regeln, an die sich alle halten. Dann werden die Leute genötigt, sich gesund zu ernähren - mit Druck seitens der Krankenkasse, des Arztes und durch eine gesellschaftliche Stigmatisierung.

Das Interview führte Kristina Geyer

Fußnoten:
(1) Eine Ernährungsanamnese dient der Erfassung der bisherigen Ernährungsgewohnheiten. Hierfür wird die Art und Menge der von einer Person aufgenommenen Nahrung erfragt. Aus diesen Angaben kann dann die Zufuhr an Nährstoffen berechnet und eine Aussage über das Ernährungsverhalten getroffen werden.
(2) Der Body-Mass-Index (BMI) ist eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts im Verhältnis zur Körpergröße.
(3) Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies: EFSA-Komitee, welches die getätigten gesundheitsbezogenen Auslobungen (Health Claims) prüft.
(4) Gadget: Gerät, Apparatur, Utensil.