Iran darf nicht Nuklearmacht werden. Darüber besteht im Westen
Konsens, und auch Russland und China haben sich wiederholt entsprechend
geäußert. In den mit dieser Frage befassten internationalen
Organisationen, vor allem bei den Vereinte Nationen und seitens der
Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), ist diese Position ebenfalls
unstrittig, und Iran selbst erklärt immer wieder, keine Ambitionen im
Hinblick auf den Erwerb von Atomwaffen zu haben, lediglich an einer
friedlichen Nutzung der Kernenergie interessiert zu sein. Die billigt
der 1970 in Kraft getretene Kernwaffensperrvertrag (NPT), dem Iran
angehört, allen nicht nuklearen Mitgliedsstaaten auch ausdrücklich zu.
Als „legale" Nuklearmächte, weil sie zum Zeitpunkt des Abschlusses des
NPT bereits über diesen Status verfügten, gelten die USA, Russland,
Großbritannien, Frankreich und China, als illegale Israel, Indien,
Pakistan - allesamt dem NPT nie beigetreten - sowie Nordkorea - 2003
ausgetreten.
*
Nicht ernsthaft zu bestreiten ist, dass jeder zusätzliche
Kernwaffenstaat über die neun heute existierenden hinaus bereits
bestehende atomare Risiken weiter erhöhen und gegebenenfalls neue in die
Welt setzen würde. Welche Risiken stehen dabei im Vordergrund?
Erstens - Kernwaffenexplosionen haben für die unmittelbar
betroffenen Regionen vernichtende und über Generationen wirkende Folgen -
Beispiele sind Hiroshima und Nagasaki, aber auch das Bikini-Atoll. Eine
Eskalation zum nuklearen Schlagabtausch impliziert darüber hinaus ein
globales Vernichtungsrisiko, und das ist auch mit der Beendigung des
kalten Krieges und des atomaren Antagonismus zwischen den USA und
Russland keineswegs gebannt. Der amerikanische Experte Jonathan Schell
wies erst jüngst unter Hinweis auf neue Studienergebnisse darauf hin,
„dass schon der Einsatz von 100 Atomwaffen in einem Konflikt zwischen
Pakistan und Indien weltweit einen nuklearen Winter auslösen könnte,
weil Städte brennen und Aschewolken die Sonne verdunkeln würden" (1).
Nukleare Drohgebärden zwischen Indien und Pakistan, die bereits mehrfach
Krieg gegeneinander geführt haben, gab es unter anderem im
Kaschmir-Konflikt 2002.
Zweitens - das Risiko des Einsatzes von Kernwaffen bzw. nuklear
ausgetragener Konflikte nimmt mit der Anzahl der Atommächte zu. Bereits
die bipolare Konfliktsituation im Kalten Krieg, die sehr übersichtlich
war und als relativ stabil galt, führte die Welt nichts desto trotz
wiederholt an den Rand des nuklearen Infernos (Kuba-Krise 1962,
Fehlalarm im sowjetischen Frühwarnsystem 1983). Für den Fall eines
Kernwaffenerwerbs durch Iran haben amerikanische Experten vor dem
Hintergrund der israelisch-iranischen Feindschaft kürzlich in Foreign Affairs
die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags seitens Israel diskutiert -
unter anderem weil Israels geringe territoriale Ausdehnung bedeute,
dass „auch nur wenige Nuklearexplosionen auf seinem Territorium
vernichtend wären". Die Autoren verweisen darauf, dass Präventivschläge
„ein tief verwurzeltes Element der strategischen Kultur Israels" seien
(Ägypten 1956 und 1967, Irak 1981, Syrien 2007). Und was einen nuklear
bewaffneten Iran anbetrifft, so meinen die Autoren, dass dieser sich in
einer Konfliktsituation angesichts der Möglichkeit eines
Präventivangriffs veranlasst sehen könnte, seinerseits zuerst
zuzuschlagen, weil er sich hinsichtlich seiner Atomwaffen einem „Use
them or loose them"-Dilemma gegenübersehen könnte. (2)
Drittens - dass das Aufkommen neuer Nuklearmächte das Risiko
regionaler atomarer Rüstungswettläufe in sich birgt, ist angesichts der
Entwicklung auf dem indischen Subkontinent ebenfalls keine bloß
theoretische Annahme mehr. Für den Fall einer Atombewaffnung Irans und
wegen der seit langem bestehenden regionalen Rivalität verweisen
Fachleute in diesem Kontext zuvorderst auf Saudi-Arabien. Das dortige
Herrscherhaus hat bereits Dutzende ballistische Mittelstreckenraketen
vom Typ CSS-2 von China erworben; die gelten als nicht treffsicher genug
für einen militärisch effektiven Einsatz mit konventionellen
Gefechtsköpfen, könnten aber nuklear armiert werden. Gefechtsköpfe
müsste Saudi-Arabien nicht einmal selbst entwickeln und herstellen,
sondern könnte sie unter Umständen von Pakistan erwerben. Beide Länder
verbindet eine langjährige enge Partnerschaft.
Viertens - dass mit jeder weiteren Verbreitung der für
Kernwaffen erforderlichen Materialien, Trägermittel und des notwendigen
Know-hows auch das Risiko eines unautorisierten Zugangs durch
Terrorgruppen steigt, ist eine weitere Gefahr. Dazu nochmals Jonathan
Schell: „Es liegt in der Natur des wissenschaftlichen Fortschritts, dass
Technologien mit der Zeit zugänglicher werden. Der Moment, an dem die
Nukleartechnik in die Hand nichtstaatlicher Akteure fällt, wird
zwangsläufig kommen." (3) Und womöglich rasch, wenn eine Nuklearmacht
von gesellschaftlichen Konflikten geprägt, ja vom staatlichen Zerfall
bedroht ist wie derzeit Pakistan. Sollten Terroristen in die
Verfügungsgewalt von Atomwaffen gelangen, ist zu befürchten, dass sie
diese nicht als Abschreckungsmittel betrachten sondern einsetzen werden.
Fünftens - die IAEA warnte bereits im Jahre 2005 davor, dass
ohne entsprechende Fortschritte in der nuklearen Abrüstung damit
gerechnet werden müsse, dass zwanzig bis dreißig Länder „in den nächsten
zehn bis zwanzig Jahren ihre technischen Fähigkeiten so weit
vorantreiben, dass sie ... in wenigen Wochen auf ein Atomprogramm
umstellen können" (4). Diese Prognose mag übertrieben scheinen, doch die
Möglichkeit, dass bei weiterer Erosion des NPT Schwellenländer wie
Brasilien, Argentinien und Südafrika ihre früheren atomaren Ambitionen
und Programme reaktivieren oder ihr wissenschaftlich-technisches und
industrielles Niveau dazu nutzen könnten, welche zu entwickeln (Südkorea
und andere), ist nicht von der Hand zu weisen. Brasilien etwa
verweigert nach wie vor den Beitritt zum Zusatzprotokoll zum NPT, dass
der IAEA unangekündigte, unbeschränkte Verdachtskontrollen ermöglicht.
*
Vor diesem Hintergrund darf nicht nur Iran keine Nuklearmacht werden.
Im Interesse einer nachhaltigen Existenzsicherung der Menschheit darf
es überhaupt keine weiteren Kernwaffenmächte mehr geben und muss eine
kernwaffenfreie Welt das Ziel sein. Die bisherige Bilanz der
internationalen Bemühungen um Nichtweiterverbreitung seit Inkrafttreten
des Kernwaffensperrvertrages gibt allerdings wenig Anlass zu Optimismus,
dass dies in absehbarer Zeit oder überhaupt erreicht werden kann. Zwar
ist es gelungen, einige Schwellenländer zur Aufgabe ihrer
Atomwaffenbestrebungen und zum Beitritt zum NPT zu bewegen (Argentinien,
Brasilien, Südafrika, Libyen), und in zwei weiteren Fällen hat Israel
durch völkerrechtswidrige Bombenangriffe Nuklearanlagen zerstört, die
vielleicht auch der Kernwaffenentwicklung dienen sollten, zerstört
(Irak, Syrien), doch die Anzahl der Nuklearmächte hat sich seit 1970
fast verdoppelt. Ein Blick auf die Details ist auch ein Blick auf
künftige Chancen.
Da ist zunächst die Feststellung zu treffen, dass dem NPT das
Agreement zugrunde lag, dass alle nicht-nuklearen Mitgliedsstaaten
diesen Status beibehalten und sich im Gegenzug die Nuklearmächte
verpflichten, „Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur
Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen
Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen
Abrüstung" (NPT, Art. VI). Dieser Verpflichtung sind jedoch selbst die
USA und die Sowjetunion, respektive Russland bisher nur in
eingeschränktem Maße nachgekommen, denn während sie sich im
START-Prozess und im Hinblick auf Mittelstreckenwaffen in Europa vor
allem auf quantitative Reduzierungen und einige qualitative
Beschränkungen verständigten, werden Weiterentwicklung und
Neu-Beschaffung von Gefechtsköpfen und Trägersystemen bis heute
fortgesetzt. Bei den USA laufen entsprechende Prozesse derzeit über das
gesamte Spektrum der strategischen Triade (land-, see- und luftgestützte
Systeme), bei Russland - aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen - in
eingeschränkter Breite, und was den Zeithorizont anbetrifft, so befindet
sich in den USA zum Beispiel die nächste Generation nuklearer
Träger-U-Boote in Planung, deren erstes 2029 in Dienst gestellt werden
soll. Vergleichbares nicht NPT-konformes Verhalten legen auch
Großbritannien, Frankreich und China seit Jahrzehnten an den Tag. Am
Rande des letzten NATO-Gipfels im November vergangenen Jahres in
Lissabon äußerte der französische Präsident Nicolas Sarkozy gar, sein
Land werde niemals auf seine nukleare Bewaffnung verzichten. Böse Zungen
haben hin und wieder behauptet, der NPT sei vonseiten der Nuklearmächte
von vorn herein nur darauf angelegt gewesen, ihre atomare
Monopolstellung und ihren darauf beruhenden machtpolitischen Status in
der Welt zu wahren. Einen unzweifelhaften Beweis, dass dies eine
Unterstellung ist, sind die „legalen" Atommächte bisher jedenfalls
schuldig geblieben.
Hinzu kommt, dass die „legalen" Kernwaffenmächte nicht nur in
Bezug auf sich selbst gegen Geist und Buchstaben des NPT verstoßen
haben. Der verpflichtet sie nämlich auch, „einen Nichtkernwaffenstaat
weder zu unterstützen noch zu ermutigen ..., Kernwaffen oder sonstige
Kernsprengkörper herzustellen (NPT, Art. I). Nicht genug damit, dass die
fünf Mächte hinsichtlich der vier nuklearen Parias, die seit 1970 die
internationale Bühne betreten haben, in keinem der Fälle konsequent
gemeinsam vorgegangen sind, um den Erwerb von Atomwaffen durch Israel,
Indien, Pakistan und Nordkorea zu verhindern. Sie haben vielmehr deren
Ambitionen zum Teil sogar direkt oder indirekt unterstützt (wie
Frankreich gegenüber Israel und China gegenüber Nordkorea sowie
Pakistan), stillschweigend geduldet (wie die USA gegenüber Pakistan)
oder im Nachhinein de facto politisch sanktioniert (wie die USA
gegenüber Indien).
Darüber hinaus haben auch nichtnukleare Mitgliedsstaaten des
NPT dessen Substanz über die Jahre ausgehöhlt haben und tun dies weiter.
Hier ist in erster Linie auf die so genannte nukleare Teilhabe im
Rahmen der NATO zu verweisen. Die Bereitstellung von nationalen
Trägersystemen durch nichtnukleare europäische NATO-Staaten, darunter
die Bundesrepublik, die im Kriegsfall amerikanische Kernsprengköpfe zum
Einsatz bringen sollen, und das ganze Konstrukt der Nuklearen
Planungsgruppe der NATO, in der noch weitere Paktstaaten mitwirken,
stellen einen Verstoß gegen Art. II des NPT dar, in dem es unter anderem
heißt: „Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist,
verpflichtet sich, Kernwaffen ... oder die Verfügungsgewalt darüber von
niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen ..."
Angesichts dieser Sachverhalte verwundert es nicht, dass das NPT-Regime
in der Konsequenz nicht in der Lage war, Staaten, die über die
entsprechenden wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen
Möglichkeiten verfügten und deren politische Führungen fest entschlossen
waren, den Weg zur Atommacht einzuschlagen, am Erwerb von Kernwaffen zu
hindern. Das wird nach dem Stand der Dinge im Falle des Iran nicht
anders sein.
*
Damit stellt sich die Frage nach den Fähigkeiten des Landes und der
Entschlossenheit der Teheraner Machthaber. Die Medienberichterstattung
dazu - unter Rückgriff auf vorgebliche Informationen von Geheimdiensten
und Insidern - gleicht einer Achterbahnfahrt im Nebel: „Iran kann
Atombombe frühestens 2011 bauen" (Die Welt, April 2007), „Testzündung
eventuell 2010" (Der Spiegel, Juli 2009), „Iran hat das Design für einen
fortgeschrittenen Atomsprengkopf entwickelt" (Süddeutsche Zeitung,
Februar 2010), „Noch zwei Jahre bis zur Atombombe" (Focus, Februar
2011). Fakt ist, dass im Dezember 2010 aus Teheran verlautbarte, man
beherrsche nun den kompletten Zyklus zur Herstellung von Kernbrennstoff -
iranischen Wissenschaftlern sei die Herstellung von sogenanntem
Yellowcake, konzentriertem Uran, gelungen, dem Ausgangsstoff der
Urananreicherung. Während für „schmutzige" Atombomben lediglich hoch
radioaktives Material vonnöten wäre, das mittels einer konventionellen
Explosion flächig verteilt würde, ist für herkömmliche Sprengköpfe, wie
sie in Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz kamen, hoch angereichertes
Uran erforderlich.
Die Fähigkeit zur Beherrschung der Urananreicherung allein ist jedoch
noch kein hinreichendes Indiz für das Streben nach Kernwaffen, da
niedrig angereichertes Uran auch in Kernreaktoren zum Einsatz kommt.
Daher ist im NPT die Anreicherung als solche auch Nichtnuklearstaaten
nicht untersagt. Allerdings stoßen die ständig wiederholten Beteuerungen
Irans, nur an einer friedlichen Nutzung der Atomtechnologie zur
Energieerzeugung interessiert zu sein, auf erhebliche Skepsis -
angesichts des Katz-und Maus-Spiels, das Teheran seit Jahren mit der
internationalen Gemeinschaft in Sachen Atompolitik treibt. Und wozu
investiert ein Land, das über die zweitgrößten Öl- und Gasreserven
weltweit verfügt und sich auf Jahrhunderte selbst mit Energie versorgen
kann, Milliarden in Atomtechnologie, die noch dazu eine
Auslauf-Technologie ist, der nach aktuellen Prognosen in wenigen
Jahrzehnten der Rohstoff Uran ausgehen wird? Wenig überzeugend klingt
auch, was der iranische Vertreter bei der IAEA, Ali Asghar Soltanieh,
unlängst auf einer Konferenz in Wien vorgetragen hat: „Falls wir uns
entschieden, Atomsprengköpfe herzustellen: Könnten wir jemals mit den
fünf Atommächten konkurrieren? 100 Prozent Nein. Nuklearwaffen
anzustreben würde uns vielmehr verwundbar machen. Sie wären ein Nachteil
für den Iran. Deshalb werden wir niemals einen solchen strategischen
Fehler begehen." (5) Eine mögliche Konkurrenz zu den fünf Mächten haben
allerdings nicht einmal die USA in Zeiten höchster antiiranischer
Hysterie unter George W. Bush jr. Teheran unterstellt. Eine Konkurrenz
zur Nuklearmacht Israel dürfte da schon eher im Bereich des
längerfristig Möglichen liegen. Das Hauptmotiv für ein iranisches
Streben nach Kernwaffen könnte jedoch in einer anderen Richtung zu
suchen sein: Noch niemals ist ein Land, das über Kernwaffen verfügt, von
den USA, vom Westen massiv militärisch angegriffen worden. Und die
jüngsten Entwicklungen könnten solchen Erwägungen im Iran eine
zusätzliche Dynamik verleihen: Libyen hat sein Nuklearprogramm im Jahre
2003 aufgegeben und sich auch damit den Weg zurück in die internationale
Gemeinschaft geöffnet. Damals soll das Land noch drei bis sieben Jahre
von der Bombe entfernt gewesen sein. Schwer vorstellbar, dass ein atomar
bewaffnetes Libyen sich heute massiven Angriffen von Streitkräften
diverser NATO-Staaten ausgesetzt sähe.
*
Natürlich bleibt jede Mutmaßung über die tatsächlichen Ambitionen
Teherans so lange Spekulation, bis das Land entweder vielleicht doch
noch umfassende Kontrollen zulässt und sich auf der Basis
internationaler Vereinbarungen gewissen Einschränkungen etwa
hinsichtlich der Urananreicherung unterwirft oder - bis es die erste
Testexplosion gezündet hat. Bis dahin ist es allerdings besser, von der
letztgenannten Möglichkeit auszugehen.
Das führt abschließend zu der im Rahmen dieser Betrachtung
entscheidenden Frage, ob eine Kernwaffenmacht Iran noch zu verhindern
ist. Mit (völkerrechtswidrigen) Militärschlägen zur Ausschaltung
kerntechnischer Anlagen im Iran, wie sie von Israel in der Vergangenheit
zweimal exekutiert und im Falle Irans bereits mehrfach angedroht worden
sind und die auch von den USA nicht definitiv ausgeschlossen werden,
wohl kaum. Experten stimmen darin überein, dass dies iranische
Bestrebungen allenfalls zeitlich verzögern, zugleich aber
unkalkulierbare Eskalationsrisiken - militärisch und wirtschaftlich - in
sich bergen und mit Sicherheit Volk und Führung des Landes antiwestlich
zusammenschweißen würde. Und die von den USA und ihren Verbündeten
gegen Iran verhängten Boykottmaßnahmen haben bisher nicht zum
gewünschten Einlenken Teherans geführt. Das liegt nicht in erster Linie
daran, dass Russland und China diese Maßnahmen nur halbherzig mittragen
bzw. sich einem umfassenden, wirklich einschneidenden Boykott
verweigern. Dabei mögen die Beweggründe Russlands und Chinas nichts
weniger denn altruistisch sein, doch ein umfassender Boykott träfe vor
allem die Bevölkerung, ohne im Sinne des angestrebten Ziels zwangsläufig
effektiver zu sein. Das sollten die USA selbst am Besten wissen - aus
den Erfahrungen mit ihrer jahrelangen Boykottpolitik gegen den Irak.
Dort waren die Boykottmaßnahmen unter anderem mit ursächlich für den Tod
von bis zu einer halben Million Kindern. (6) Einmarschiert werden
musste - aus Sicht der USA - zum Schluss trotzdem.
Das Hauptmanko eines Boykotts als machtpolitisches Instrument besteht in
seinem konfrontativen Charakter, in dem Versuch, die andere Seite zu
Wohlverhalten zwingen, sie zu demütigen, „kleinzukriegen". Das führt
fast zwangsläufig zu Gegenreaktionen, die den gewollten Zweck mindestens
konterkarieren.
Kann die internationale Gemeinschaft also nur die Hände in den Schoß
legen und fatalistisch abwarten? Keineswegs. Ein Paradigmenwechsel,
insbesondere seitens der USA und anderer westlicher Mächte, wäre
allerdings erforderlich - vom Versuch, eine konfrontative Lösung zu
erzwingen, zu einem Ansatz, der auf eine kooperative Lösung zielt und
den Iran nicht als ideologischen und militärischen Feind betrachtet,
sondern als potenziellen Kooperationspartner. Auf einer solchen
Grundlage könnten die USA - gegebenenfalls gemeinsam mit Russland und
China sowie flankiert durch ein Mandat des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen - Iran für den Fall eines nachprüfbaren Verzichts auf
die Atomwaffenkarte zum Beispiel eine militärische Sicherheitsgarantie
gegen Angriffe Dritter anbieten sowie den freien Zugang zu allen für die
friedliche Nutzung der Kernenergie notwendigen Technologien
garantieren, sollte das Land denn daran festhalten wollen.
Über den aktuellen Einzelfall Iran hinaus hat die Nichtweiterverbreitung
mittel- und längerfristig im Übrigen nur eine Chance auf Fortbestand
und Konsolidierung, wenn die oben skizzierten Mängel im heutigen
NPT-Regime schrittweise, aber nachhaltig behoben werden. Ein Anfang in
diesem Sinne könnte unter anderem damit gemacht werden, dass Abschied
genommen wird von der Strategie der nuklearen Abschreckung, weil die im
Zeitalter der Proliferation die Krankheit verschlimmert, für deren
Therapie sie von ihren Verfechtern gehalten wird. Ein sachkundiges
Plädoyer in diesem Sinne haben kürzlich George P. Shultz, William J.
Perry, Henry A. Kissinger und Sam Nunn gehalten. (7)
*
Utopische Vorstellungen? Möglicherweise - aber mit solchen haben viele grundlegende Veränderungen ihren Anfang genommen. Allerdings oft erst unter dem Druck der Ereignisse. Daher gilt - mit den (auf den Klimawandel gemünzten) Worten Egon Bahrs im Einleitungsbeitrag zur vorliegenden Blättchen-Augabe wohl auch in diesem Fall: „Gerade weil so schwer vorstellbar ist, dass die Staaten ihr Feilschen... durch harte internationale Verbote ersetzen, damit eine unkontrollierbare Katastrophe doch noch rechtzeitig abgefangen werden kann, ist zu wünschen, dass es früh genug ausreichende Katastrophen gibt, die ausreichenden Handlungszwang für die Regierungen auslösen."
(1) - Der Spiegel, 13/2011
(2) - Edelman, E. S. / Krepinevich jr., A. F. / Montgomery, E. B.: The
Dangers of a Nuclear Iran. The Limits of Containment, in: Foreign
Affairs, Jan - Feb 2011
(3) - Der Spiegel, a.a.O.
(4) - Frankfurter Rundschau, 04.08.2005
(5) - Zit. nach: Streitkräfte und Strategien (NDR) v. 04.12.2010
(http://www.ndr.de/info/programm/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript233.pdf)
(6) - Vgl. Cockburn, A.: Der andere Krieg gegen den Iran, in: Le Monde diplomatique (deutsche Ausgabe) vom 10.09.2010
(7) - Siehe Shultz, G.P. / Perry, W.J. / Kissinger, H.A. / Nunn, S.:
Deterrence in the Age of Nuclear Proliferation, Wall Street Journal,
07.03.2011