Justiz der Sieger oder Sieg der Justiz?

Völkerstrafrecht und internationale Machtverhältnisse

in (16.02.2011)

Die „internationalen Verbrechen", die durch das Völkerstrafrecht verfolgt werden, sind extrem schwere Taten wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskrieg. Diesen gegenüber untätig zu bleiben, scheint der Grundmoral zu widersprechen. Aber ist das Völkerstrafrecht als Antwort schon deswegen gerechtfertigt?

Mit anderen Worten: Ist die Schwere der Tat ein hinreichender Grund, eine Bestrafung um jeden Preis zu rechtfertigen? Ich glaube, dass die Legitimität einer Strafmaßnahme auch nach anderen Kriterien bewertet werden sollte. Andernfalls könnte das Ausmaß internationaler Verbrechen häufig einen Vorwand darstellen, um ungerechte Maßnahmen aufzuerlegen. Unter den zusätzlich erforderlichen Legitimationskriterien spielt die Unparteilichkeit eine zentrale Rolle. Die Arbeitsweise der bestehenden internationalen Tribunale zeigt aber, dass das Völkerstrafrecht bisher keineswegs unparteiisch angewendet wird.

Die zurzeit existierenden internationalen Strafgerichtshöfe sind die Internationalen Tribunale für das ehemaligen Jugoslawien (International Criminal Tribunal for former Yugoslavia, ICTY) und Ruanda (ICTR) sowie der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Die ersten beiden wurden 1993 und 1994 jeweils mittels einer Resolution des UN-Sicherheitsrates eingerichtet, während letzterer 1998 von einer internationalen Staatenkonferenz gegründet wurde. Der ICTY und der ICTR haben eine räumlich begrenzte Zuständigkeit und beziehen sich nur auf die Staatsgebiete des ehemaligen Jugoslawiens und Ruandas. Der IStGH hingegen hat einen potenziell universellen Anwendungsbereich, weil er für Verbrechen zuständig ist, die von StaatsbürgerInnen oder im Hoheitsgebiet eines Staates begangen wurden, welcher das IStGH-Statut ratifiziert hat, und weil die Ratifizierung seines Statuts für alle Staaten offen ist.

Die einzigen historischen Vorläufer für diese Tribunale sind das Nürnberger Tribunal und das Tribunal für den Fernen Osten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurden, um die Hauptkriegsverbrecher Deutschlands und Japans zu bestrafen. Diese ersten Tribunale werden heutzutage weithin als parteiisch anerkannt; wie schon Hans Kelsen feststellte, wurden sie von den Siegern des Zweiten Weltkriegs eingerichtet, um Angehörige der besiegten Nationen zu bestrafen[1]. Verbrechen der Siegermächte, wie z. B. die Atombombenabwürfe auf Japanische Städte, wurden nicht verhandelt. Außerdem waren diese Tribunale auch rechtlich umstritten, z. B bezüglich des Rückwirkungsverbots: Unter anderem war die individuelle Verantwortlichkeit für „Verbrechen gegen den Frieden", die den Angriffskrieg einbeziehen und in Nürnberg als „höchste Verbrechen" betrachtet wurden, damals noch kein etabliertes Prinzip des Völkerrechts.

Unparteiliche Justiz?

Folgen die heutigen Tribunale dem Modell dieser Vorläufer? Auf den ersten Blick scheinen die neuen Tribunale unparteiischere Organisationen zu sein. Das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien und das Tribunal für Ruanda wurden auf Grund von Kapitel VII der UN-Charta eingesetzt, vordergründig also nicht von einer Kriegspartei. Der Internationale Strafgerichtshof richtet sich seinerseits vorrangig an Staaten, die sein Statut akzeptiert haben.

Trotzdem gibt es Beispiele für deren Parteilichkeit. Auch diese neuen Tribunale haben systematisch vermieden, Verfahren zu eröffnen, welche die Verantwortung der Großmächte für internationale Verbrechen beweisen könnten. Der ICTY hat beispielsweise keine Ermittlungen über die NATO-Bombardements gegen die Bundesrepublik Jugoslawien von 1999 eingeleitet, obwohl er nach seinem Statut dafür zuständig war, und obwohl er zahlreiche Anträge bezüglich der Ermordung von ZivilistInnen und dem Bombardement von zivilen Gebäuden wie der Chinesischen Botschaft und dem Sitz des staatlichen Fernsehens in Belgrad erhalten hatte.[2] Der IStGH hat sich bisher ausschließlich Fällen gewidmet, die Afrikanische Staaten betreffen (Zentralafrikanische Republik, Demokratische Republik Kongo, Sudan und Uganda). Auf der anderen Seite hat er ausgeschlossen, Ermittlungen bezüglich des Kriegs der „Internationalen Koalition" - zu der Australien, Polen, Großbritannien und die USA gehören - gegen Irak im Jahr 2003 einzuleiten. Der IStGH hat dazu mehrere Anträge erhalten, etwa bezüglich der Verwendung von cluster bombs seitens der Koalition, und wäre zumindest für die Fälle zuständig gewesen, die BürgerInnen von Großbritannien betrafen, weil dieses Land das Statut des IStGH ratifiziert hat.[3] Immer noch offen ist die Frage, ob der Internationale Strafgerichtshof ein Ermittlungsverfahren über den Angriff Israels auf den Gazastreifen Ende 2008 eröffnen wird.[4]

Die Tätigkeit der heutigen internationalen Tribunale zeigt also, dass die VertreterInnen mächtiger Länder vom Völkerstrafrecht unberührt bleiben, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass sie internationale Verbrechen begangen haben könnten. Die Parteilichkeit des Völkerstrafrechts ist indes kein empirischer Zufall, sondern eher Folge seines theoretischen Hintergrunds und der internationalen politischen Zustände.

Die Argumente, die das Völkerstrafrecht rechtfertigen, erfolgen grundsätzlich in Analogie zum nationalen Strafrecht. Sie gehen davon aus, dass das Völkerstrafrecht im globalen Kontext die gleiche Funktion erfüllen kann, die dem nationalen Strafrecht innerhalb eines Staates zugeschrieben wird, also vor allem die Sicherung des Sozialfriedens. Selbst die Strafzwecke des Völkerstrafrechts sind den nationalen Strafsystemen entlehnt: Alle traditionellen Strafzwecke - Abschreckung, Vergeltung, seltener Resozialisierung oder positive Generalprävention - werden in den Urteilen der Tribunale erwähnt, aber nur selten wird Rücksicht auf die Besonderheiten internationaler Verbrechen genommen. Die Rechtfertigungsargumente setzen außerdem voraus, dass die strafprozessualen Mechanismen zur Sicherung der Unparteilichkeit und Rechtmäßigkeit des nationalen Strafrechts auch im Völkerrecht gerechte und unabhängige Verfahren garantieren.

Völkerstrafrecht und internationale Macht

Eine solche Position vernachlässigt aber vollständig, dass die Struktur der internationalen Gewalt nicht mit der Organisation der Macht innerhalb von Nationalstaaten vergleichbar ist. In der internationalen Dimension gibt es keine Teilung zwischen gesetzgebender, exekutiver und rechtsprechender Gewalt. Die internationalen Tribunale haben ferner keine eigenen Durchsetzungsmittel zu Verfügung, also keine unabhängigen finanziellen und polizeilichen Ressourcen, sondern sind insoweit von Staaten oder internationalen Organisationen abhängig. Das Risiko von Politisierung und Instrumentalisierung des Strafrechts ist natürlich selbst im nationalen rechtsstaatlichen System nicht ausgeschlossen; auf der internationalen Ebene fehlen aber vollständig Mechanismen, welche die politische Einflussnahme verhindern oder abmildern könnten.

Das spiegelt sich konkret in der Einflussnahme seitens politischer Organe auf die Tribunale wider. Alle existierenden internationalen Tribunale sind vom UNO-Sicherheitsrat abhängig. Wie allgemein bekannt, ist der Sicherheitsrat das hierarchischste und elitärste UN-Organ, in dem fünf Länder (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA) dank ihrer Machtposition am Ende des Zweiten Weltkriegs über einen permanenten Sitz mit Vetorecht verfügen. ICTY und ICTR wurden unmittelbar vom Sicherheitsrat eingerichtet, der weiterhin ihre Aktivität bestimmt. Der IStGH ist formell kein UN-Organ; trotzdem hat der Sicherheitsrat ein Mitspracherecht in der Bestimmung seiner Verfahren. Abweichend von den oben erläuterten Zuständigkeitsnormen kann der Sicherheitsrat „Situationen" an den IStGH verweisen, bezüglich derer dann ohne Zustimmung der betroffenen Staaten Verfahren eingeleitet werden können. Der Sicherheitsrat kann auch vom IStGH geführte Ermittlungen oder Verfahren gemäß Art. 12 und 16 des Statuts für eine Zeit von zwölf Monaten blockieren und diese Blockade mehrmals wiederholen. Das ist in der Praxis schon mehrmals passiert, z. B. mit den Sicherheitsratsresolutionen 1422 (2002) und 1487 (2003), die präventiv für je ein Jahr alle eventuellen Verfahren gestoppt haben, welche peacekeepers aus nicht-ratifizierenden Staaten betreffen würden, und den Resolutionen 1497 (2004) und 1593 (2005), die für dieselbe Eventualität bezüglich Liberia und Darfur galten.

Was finanzielle und polizeiliche Ausstattung angeht, wurde das ICTY wesentlich von der USA ausgerüstet und mit logistischen Mitteln und Personal unterstützt. Die NATO hat dem ICTY mehrmals als Polizeikraft gedient, und die Durchsetzungsmöglichkeiten des IStGH sind von nationalen Polizeibehörden abhängig.

Die oben beschriebene parteiliche Anwendung des Völkerstrafrechts scheint damit kein Zufall zu sein, sondern vielmehr Folge der strukturellen Eigenschaften der internationalen Tribunale und des internationalen politischen Zustands.

Auf dem Weg zum Weltleviathan?

Ist das Völkerstrafrecht in seiner aktuellen Form die einzige Option, etwas gegen internationale Verbrechen zu tun? Ist es möglich, es zu reformieren oder sogar in Richtung eines gerechteren Systems zu überwinden? Für eine Reform des Völkerstrafrechts wären meiner Meinung nach drei Schritte notwendig, die auf seine gerechtere Anwendung zielen. Erstens sollten die internationalen Tribunale, und insbesondere der IStGH, sich von jedem Einfluss des Sicherheitsrates befreien. Die Staatsangehörigkeit der Opfer sollte zweitens, ein Kriterium für die Zuständigkeit der Tribunale neben der Staatsangehörigkeit der TäterInnen und dem Territorialitätsprinzip spielen. Drittens sollten die internationalen Strafmaßnahmen die Vorschläge der nicht-westlichen Welt ernsthaft berücksichtigen, welche unter anderem auch die eben genannten zwei Punkte umfassen.[5]

Diese Schritte scheinen in der unmittelbaren Zukunft notwendig; trotzdem wären sie eher Linderungsmittel als Lösungen der Parteilichkeit des Völkerstrafrechts. Solange die internationalen Verhältnisse so ungleich sind wie heute, wird das Völkerstrafrecht Ausdruck dieser Machtverhältnisse bleiben. Das Völkerstrafrecht ist Ausdruck westlicher Rechtskonzeptionen und des universalistischen Vorurteils, wonach das Strafrecht westlicher Art die einzige und beste Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen sei. Dank der Hegemonie der westlichen Mächte und mittels der internationalen Tribunale strebt nun das Völkerstrafrecht zu universeller Anwendung, ohne Rücksicht auf die Besonderheiten betroffener Kulturkreise.

Als Lösung für die Probleme des Völkerstrafrechts wird klassischerweise der Aufbau zentralisierter internationaler Institutionen oder die Stärkung der existierenden in Richtung eines Weltrechtsstaats vorgeschlagen.[6] Ich finde einen solchen Vorschlag theoretisch imperialistisch und praktisch gefährlich. Imperialistisch, weil er auf das gesamte Völkerrecht das ethnozentrische Vorurteil anwendet, welches das universelle Streben des Völkerstrafrechts charakterisiert. Einem solchen Vorschlag liegt die Idee zugrunde, dass eine bestimmte Rechtsform bzw. der Rechtsstaat die perfekte Staatsform ist. Diese soll global auferlegt werden, gegebenenfalls mit derselben Gewalt, welche den „Export der Demokratie" oder den Schutz der Menschenrechte durch „humanitäre Interventionen" charakterisiert. Gefährlich ist dieser Vorschlag, weil ein solcher Weltstaat über das globale Gewaltmonopol verfügen würde, und damit einerseits jede andere gleichstarke Macht abschaffen, anderseits jeden Widerstandsversuch außerhalb des Rechts stellen würde. Das heißt, es gäbe keine Gegenmacht mehr, welche der Gewalt des globalen Souveräns widerstehen könnte, jeder Versuch des Widerstands würde als „illegal" angesehen und deswegen potentiell mit allen Mitteln bekämpft.

Pluralismus vs. Universalismus

Demgegenüber halte ich ein vielfältiges und pluralistisches System für eine wünschenswertere Alternative zum Völkerstrafrecht. Es sollte aus verschiedenen regionalen, dezentralisierten und unabhängigen Systemen bestehen, wovon jedes autonom die Maßnahmen bestimmen soll, mit denen es auf schwere Menschenrechtsverletzungen reagieren möchte. Die Systeme könnten auch nicht-strafrechtliche Mittel vorsehen, wenn sie nach den kulturellen, sozialen und rechtlichen Umständen der betroffenen Gesellschaften adäquater erscheinen würden. Maßnahmen nach dem Modell der restorative justice, wie z. B. Wahrheitskommissionen, könnten als Alternativen zum Strafrecht dienen. Die restorative justice zielt primär auf die Versöhnung zwischen Täter und Opfer und stellt die Erfahrung der Opfer in den Mittelpunkt. Sie wurde ursprünglich im Kontext „gewöhnlicher" Kriminalität entwickelt und erst später auf politische Makrokriminalität angewendet. In diesem Fall zielt sie darauf ab, die Wiedereingliederung und Versöhnung nach einer Phase politischer Konflikte zu schaffen, welche große Ungerechtigkeiten verursacht haben. Das berühmteste und für viele erfolgreichste Beispiel ist die Südafrikanische Wahrheitskommission, die 1995 eingerichtet wurde, um die Menschenrechtsverletzungen des Apartheidregimes zu beleuchten. Vor allem sollte jede Gesellschaft in dem System die Gelegenheit haben, direkt auf die Verletzungen zu reagieren. Regionale Organismen sollten nur nachrangig Anwendung finden und nur dann, wenn die lokalen Mechanismen sich als nicht funktionsfähig erweisen.

 

Elisa Orrù hat zum Völkerstrafrecht an der Uni Pisa promoviert und ist Mitarbeiterin der Zeitschrift Jura Gentium. Sie dankt Till Bettels für sprachliche Unterstützung.

 

 

Weiterführende Literatur:

Hans Kelsen, Peace through Law, 1944.

Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950.

Danilo Zolo, Victor's Justice, 2009.



[1]     Hans Kelsen, Will the Judgement in the Nuremberg Trial Constitute a Precedent in International Law?, The international Law Quarterly 1947, 153 ff.

[2]     Annual Report of the ICTY, 2000, summary. Vgl. auch Michael Mandel, How America Gets Away With Murder. Illegal Wars, Collateral Damage and Crimes Against Humanity, 2004; Danilo Zolo, Invoking Humanity: War, Law and Global Order, 2002.

[3]     Report of the International Criminal Court A/61/217, 03.08.2006, par. 31, abrufbar über http://www.icc-cpi.int (Stand: 28. Januar 2010).

[4]     Vgl. Brief des Anklägerbüros an den UNHCR v. 12.01.2010, abrufbar über http://www.icc-cpi.int (Stand: 28. Januar 2010).

[5]     Saeid Mirzaee-Yengejeh, International Law as a Cultural Perspective: Towards a Convergence of Civilizations, in: R. St. John Macdonald / D. M. Johnston (eds.), Towards World Constitutionalism. Issues in the Legal Ordering of the World Community, 2005, 191 ff.

[6]     Vgl. Hans Kelsen, Peace through Law, 1944.