Was heißt hier „Verstaatlichung“?

Endlich, nach jahrelanger Tendenz, sich bürgerlich-privatwirtschaftlichem Denken anzupassen, orientiert sich DIE LINKE mit ihrem Programmentwurf wieder deutlich an ihren Wurzeln mit dem Grundsatz: Gemeinnutz vor Eigennutz! Dies natürlich, ohne Letzteren gering zu schätzen. Da steht es wieder selbstbewußt - das von der bürgerlichen Öffentlichkeit so gefürchtete Gespenst. "Neokommunistische Grundzüge" fand in dem Entwurf sogleich Thomas Oppermann, Parlamentarischer Fraktionsgeschäftsführer der SPD. Von DDR-Nostalgie und Vergangenheitsprogramm tönte seine Generalsekretärin Andrea Nahles, um jede künftige eventuelle Mitverantwortung bei der Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszuschließen. Woran man sich (wohl mit Blick auf die großen Parteienspender) vor allem stößt, war in der FINANCIAL TIMES Deutschland zu lesen: „Als Lösung aller Probleme predigt die Partei (DIE LINKE - H. H.) die Verstaatlichung des Finanzsektors, der Energieversorger, des Transportwesens und anderer großer Unternehmen."

Zugegeben, die fordernde Formulierung „Verstaatlichung" im Programm der LINKEN ist so unglücklich wie überflüssig. Unglücklich deshalb, weil sie alte Ressentiments neu belebt, mögliche Bündnispartner verprellt und bei einer breiten Öffentlichkeit falsche Vorstellungen erzeugt beziehungsweise Erinnerungen weckt. Überflüssig ist sie wegen ihrer inhaltlichen Verschwommenheit. Was soll denn eine „Verstaatlichung" bewirken? Werner Richter erinnerte kürzlich in der Blättchen- „Debatte" daran, „daß 70 Prozent der faulen US-Kredite durch staatliche (!) Banken ins deutsche Finanzsystem geholt worden waren". Verschiedentlich habe ich auch im Blättchen aufgezeigt, daß mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA im Jahre 1971 und daraus folgender Abkopplung des Geldes vom Goldstandard der gesamte Geld- und Finanzsektor zu einer „öffentlichen Angelegenheit" geworden ist, also seinem Wesen nach vergesellschaftet wurde - egal, wie wir diesen Sachverhalt benennen. Und die horrenden staatlichen „Rettungs"-Aufwendungen der Liberalen in jüngster Vergangenheit waren das ungewollte praktische Eingeständnis dieses grundlegenden, aber theoretisch erst noch aufzuarbeitenden Wandels der Ökonomik des 21. Jahrhunderts. Die heutige Gesellschaft braucht keine „staatlichen" Banken, die nach überkommenen Regeln der Finanzmärkte wirtschaften, sondern einen Geld- und Finanzsektor, der innerhalb staatlich gesetzter Grenzen und Regeln agiert. Was in der Realwirtschaft seit Jahrzehnten und zunehmend bewährte Praxis ist, nämlich wirtschaften im Rahmen strenger gesetzlicher Normen und Vorschriften, harrt im Geld- und Finanzbereich noch immer der Realisierung. Ja, es ist noch weit davon entfernt, als dringendes Erfordernis für das Finanzsystem Eingang ins Bewusstsein von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu finden.

Warum? Möglicherweise weil Geld und Finanzen als ganz allgemeine Größen bisher keine konkreten Gefahren in sich zu bergen schienen. Wahrscheinlich aber weil sie etwas mit der Verteilung des Realreichtums der Gesellschaft zu tun haben. Und das sei Privatsache und müsse vom und über den Markt reguliert werden - glaubt man! Man glaubt es, weil man Geld für Reichtum hält, obwohl es doch nur noch einen Anspruch darauf, einen Anteil am Realreichtum der Gesellschaft ausdrückt. Was aber geschieht, wenn all die mehr oder weniger vermögenden „Ackermänner" ihre Ansprüche, ihren Anteil am gesellschaftlichen Produkt gar nicht mehr zu verbrauchen und zu verzehren vermögen, weil ihr Bedarf viel zu gering ist, um jährlich Sachwerte im Umfang von Millionen zu verbrauchen? Dann muß der Staat gesetzgebend eingreifen, regulieren und umverteilen.

Was also diese Gesellschaft wirklich benötigt, ist eine Wirtschafts- und Finanzverfassung auf der Basis eines neuen Denkansatzes, eines neuen Verständnisses vom Wirtschaften. Dabei gilt es, das neue Wesen der veränderten ökonomischen Realität, ihre weitestgehende Gesellschaftlichkeit, anzuerkennen und im öffentlichen Bewußtsein das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu zu definieren: Wo endet die private Sphäre des Einzelnen, und wo, wann und in welcher Hinsicht hat dieser sich gesellschaftlichen Regeln und Vorschriften zu fügen? Und vor allem: Welchen? Dies alles aber nicht als ausgeklügelte Idee eines utopischen Gesellschaftsmodells, sondern als akute Schlußfolgerung aus den tatsächlichen Bedingungen der Ökonomik am Beginn des 21. Jahrhunderts! Die absolute Handlungsfreiheit des Individuums in seinen privaten Angelegenheiten ist zu verbinden mit seinem größtmöglichen Entscheidungsspielraum außerhalb derselben - unter Berücksichtigung notwendiger Beschränkungen im öffentlichen Interesse. Letzteres betrifft im Bereich der Wirtschaft beispielsweise einen möglichst reibungslosen Reproduktionsprozess der Gesellschaft als harmonische Einheit von Produktion und Verbrauch. Dabei ist der „Markt" zwar ein wichtiger Regulator, aber eben ein nicht unbedingt zuverlässiger. Und insofern bedarf es gesellschaftlicher, sprich: staatlicher, Regularien in Gestalt von Gesetzen, Vorschriften usw.

Daß hier Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen und Wirtschaftswissenschaften im Besonderen vor einer Herkulesaufgabe stehen, liegt auf der Hand. Liberale, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Privateigentum und Markt anbetend, und Marxisten, seit über hundert Jahren zentrale staatliche Planwirtschaft dagegensetzend, werden alte, eingefahrene Denkschablonen aufbrechen müssen, um das Wesen der heutigen ökonomischen und damit gesellschaftlichen Realität voll zu erfassen. Diese neue Wirklichkeit mit ihren veränderten Beziehungen der Menschen in der Produktion und zum Produkt der Gesellschaft (durch das Geld als Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum) stellt uns nicht vor die Alternative „Markt oder Staat", sondern gebietet ambivalent, den Kräften des Marktes im Interesse der Gesellschaft als ganze und jedes Einzelnen gerade durch klare Grenzen und Kompetenzbestimmungen in jeder Hinsicht sichere Freiräume zu schaffen. Die ideologischen Scheuklappen des vorigen Jahrhunderts gilt es über Bord zu werfen. Sie haben uns lange genug für das Erkennen der Realität blind gemacht und ließen uns ein Jahrhundert durch die Geschichte irren.

In dieser Situation ist die Politik gefordert, die Gräben parteilicher Stellungskämpfe zu verlassen und von der Konfrontation zur Kooperation überzugehen. Dies nicht nur, weil in einer weitestgehend vergesellschafteten Ökonomik Parteiengezänk keinen Sinn mehr macht und es notwendig ist, in einer Welt sich rasch wandelnder ökonomischer Bedingungen reaktions- und schnell handlungsfähig zu sein, sondern vor allem auch, damit politökonomisches Handeln mit Weitblick möglich und nicht in der Hauptsache von wahltaktischen Überlegen mit Fünfjahresperspektiven bestimmt wird. Alles Utopie? Wenn nicht die Einsicht, die Schläge der Realität werden es - und sei es in noch so kleinen Schritten - erzwingen. Die jüngste Vergangenheit scheint das wenigstens ansatzweise zu belegen.

Von Heerke Hummel erschienen zuletzt: Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse, NORA-Verlag, Berlin 2009, 148 Seiten und Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle 2005, 500 Seiten