Digitale Bürgerrechte – von Karlsruhe nach Brüssel

Nach der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung brach am 2. März großer Jubel unter den Datenschützern aus. Dabei wurde allerdings übersehen, dass die Entscheidung einen entscheidenden Haken hat: Denn die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ist auch nach dem Urteil weiterhin in Kraft. Für die digitale Bürgerrechtsbewegung bedeutet dies, dass sie jetzt eine Europäisierung der Bewegung verfolgen muss. Schließlich brachte die Europäische Union die Vorratsdatenspeicherung auf den Weg – nun muss sie auch dort abgeschafft werden. Dennoch gilt es zunächst festzuhalten, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine schallende Ohrfeige insbesondere für die Parteien der ehemaligen großen Koalition bedeutet, die die Vorratsdatenspeicherung im November 2007 beschlossen hatte. Denn das Gericht erklärt die flächendeckende, anlasslose Überwachung von Kommunikations- und Bewegungsprofilen der gesamten Bevölkerung für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz. Dabei geht das Urteil durchaus weit, denn die Richter untersagen zugleich die Verwendung der bereits gespeicherten Daten in Strafprozessen und schließen auch eine Übergangsfrist für das Gesetz aus, sie bestanden also auf der unverzüglichen Löschung der Daten.

Dieses klare Urteil bedeutet also in der Tat einen Sieg für die über 34 000 Klägerinnen und Kläger der größten Verfassungsbeschwerde in der bundesdeutschen Geschichte.

Im Kern bemängelt das Gericht die unpräzisen Bestimmungen zur Datensicherheit, die nicht hinreichenden rechtlichen Bedingungen zur Abfrage und Nutzung der Daten sowie die mangelhaften Bestimmungen zur Information der Betroffenen und zum Schutz von Geheimnisträgern.[1]

Kein Recht auf anlasslose Überwachung

In der Urteilsbegründung gehen die Richter im Detail auf ihre frühere Rechtsprechung ein, in der sie eine zu unbestimmten Zwecken stattfindende Datensammlung bereits ausschlossen. Das bedeutet zugleich, dass sie für den Fall, dass der Zweck bestimmt ist (beispielsweise die mögliche Nutzung bei der Strafverfolgung), eine umfassende Überwachung der Kommunikation nicht automatisch ausschließen.

Die Verfassungsrichter betonen gleichwohl, dass es sich „bei einer solchen Speicherung um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite [handelt], wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt.“ Sie teilen die Bedenken der Datenschützer, dass „die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten geeignet [ist], ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.“ Daher stellen sie klar, dass eine vorsorglich anlasslose Datenspeicherung „nur ausnahmsweise zulässig“ sei.

So dürfen die Daten angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffes nur in wenigen Ausnahmefällen und ausschließlich „zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr zugelassen werden.“ Die Hürde für die Verwendung der Daten ist damit so hoch gelegt, dass sich der finanzielle und politische Aufwand für die Überwachungsinfrastruktur in Zukunft kaum noch lohnen dürfte.

Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass die Bundesrepublik nun in ein Sicherheitsvakuum fällt und Cyberkriminellen schutzlos ausgeliefert ist, wie es die hektischen bis hysterischen Reaktionen aus Kreisen der konservativen Sicherheitspolitik nahelegen. Schließlich hat sich die Aufklärungsquote von Straftaten seit der Einführung der Vorratsdatenspeicherung im Januar 2008 in Deutschland laut polizeilicher Kriminalstatistik nicht verändert: Sie liegt unverändert bei etwa 55 Prozent. In gerade einmal 8316 Ermittlungsverfahren wurden Daten aus der Vorratsdatenspeicherung bislang abgefragt. Sie wurden damit in nur 0,001 Prozent der 6,39 Mio. registrierten Straftaten herangezogen. (Hinzu kommt, dass Internetstraftaten bereits vor dem Speichergesetz eine Aufklärungsquote von 80 Prozent verzeichneten.)

Blick nach Brüssel

Die anfängliche Euphorie über die klaren Worte des Bundesverfassungsgerichts ist inzwischen allerdings der Ernüchterung gewichen. Denn die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von 2006, auf der die entsprechenden Paragraphen des Telekommunikationsgesetzes und der deutschen Strafprozessordnung basierten, hat auch in der Bundesrepublik weiter Bestand. Die Richter legten sie nicht, wie von den Klägern beantragt, dem Europäischen Gerichtshof zur rechtlichen Prüfung vor. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen fand sich im ersten Senat keine Mehrheit für ein weiter gehendes Urteil. Bei der Frage der sofortigen Aufhebung der Speicherung ohne Übergangsfristen führte die Abstimmung zu einem Patt. Zwei der vier konservativen Richter haben sich sogar mit Minderheitenvoten vom Urteil distanziert, das ihrer Meinung nach die Freiräume des Gesetzgebers zu sehr einschränkt.

Zum anderen liegt es am komplizierten und in Teilen ungeklärten Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof. Eine EuGH-Vorlage wäre für die Karlsruher Richter nach dem viel beachteten Urteil zum Lissabon-Vertrag nur schwer zu rechtfertigen gewesen, hatten sie doch im Juni 2009 festgestellt, dass sie allein über die „Verfassungsidentität“ der Bundesrepublik wachen können.

Insgesamt kann man mit Blick auf Europa daher durchaus von einem salomonischen Urteil sprechen. Denn insbesondere im „Kleingedruckten“ der Urteilsbegründung haben die Bundesverfassungsrichter nicht nur deutliche Worte der Kritik für die sicherheitspolitischen Gesetze gefunden, sondern auch eine deutliche Botschaft nach Brüssel gesandt: Zwar haben die Richter es bewusst vermieden, sich mit dem EuGH anzulegen. Zugleich zeigten sie der EU in der Urteilsbegründung jedoch indirekt die Grenzen ihrer Sammelwut auf: „Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“ Mit anderen Worten: Die EU darf nicht noch einmal damit rechnen, derart glimpflich davonzukommen.

Hier zeigt sich die politische Gewitztheit der Karlsruher Richter. Ohne Zweifel war sich das Gericht der europaweiten Aufmerksamkeit für sein Urteil bewusst. Zugleich wollte das Gericht aber nicht in einem Handstreich stellvertretend für die gesamte EU entscheiden. Stattdessen hat es den Ball dahin zurückgespielt, wo er hingehört: auf das Feld der europäischen Politik.

Aber kann man tatsächlich davon ausgehen, dass es möglich ist, auf europäischer Ebene erfolgreich Mehrheiten zu organisieren, die das sprichwörtliche Kind wieder aus dem Brunnen holen? Konkret würde dies bedeuten, Kommission, Parlament und Rat zugleich davon zu überzeugen, die bereits beschlossene Richtlinie wieder aufzuheben oder zumindest massiv einzuschränken. Eine, so scheint es auf den ersten Blick, schier unmögliche Aufgabe.

Die Besetzung der EU-Kommission wie auch das neu gewonnene Selbstvertrauen des Europäischen Parlaments dürften der Bürgerrechtsbewegung allerdings Hoffnung geben. So hat die Europäische Kommission „Barroso II“ mit der streitbaren Viviane Reding erstmalig das Amt einer Justizkommissarin besetzt. Als ehemalige Informationskommissarin kennt sich Reding hervorragend mit digitalen Themen aus. Sie machte zudem in ihrer Anhörung vor dem Europäischen Parlament im Januar d.J. bereits deutlich, dass sie die Vorratsdatenspeicherung nicht beschlossen hätte.

Auch die neue Innenkommissarin Cecilia Malmström gilt als überzeugte Liberale. Sie hat bereits eine gründliche Evaluierung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung angekündigt. Dabei wird die Kommissarin genau darauf achten müssen, ob ein solcher Eingriff in die Privatsphäre mit Artikel 8 der neuen Grundrechte-Charta der EU vereinbar ist. Diese ist seit dem Lissabon-Vertrag bindend für die gesamte EU-Gesetzgebung.

Anlass zur Hoffnung bietet zudem der Umstand, dass das Europäische Parlament durchaus gewillt sein dürfte, seine politischen Muskeln spielen zu lassen. Die überdeutliche Ablehnung der Bankdatenweitergabe an die USA („SWIFT-Abkommen“) im Februar d.J. hat gezeigt, dass sich hier ein neuer Machtfaktor für die Bürgerrechte herausbildet. Der Jubel im Straßburger Plenum nach der SWIFT-Abstimmung machte deutlich, dass sich die Parlamentarier in der neuen Rolle als Datenschützer mit Bürgernähe gefallen.

Eine europäische Bürgerrechtsbewegung ?

Trotz dieser insgesamt hoffnungsvollen Zeichen bleibt eine Abschaffung der EU-Richtlinie weiterhin eine große Herausforderung. In der anstehenden Debatte wird es dabei entscheidend auf die Zustimmung der europäischen Sozialdemokraten ankommen. Sie hatten noch Ende 2005 unter ihrem alten wie neuen Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz der Vorratsdatenspeicherung zugestimmt. Der Richtungswechsel hin zu den Themen der Internet-Generation wird aber in Brüssel wie in Berlin auch bei den Sozialdemokraten nach und nach vollzogen und könnte auf europäischer Ebene womöglich sogar etwas schneller vonstatten gehen.

Der größte Stolperstein dürfte jedoch der Ministerrat der EU sein. Bislang gibt es hier allein von Seiten der rumänischen Regierung offenen Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung, weil sie die EU-Richtlinie wegen eines Bukarester Verfassungsgerichtsurteils von 2009 nicht umsetzen darf. Aber auch Teile der österreichischen und deutschen Regierungen sind gewillt, die Richtlinie zu kippen, müssen sich jedoch erst einmal gegen ihre konservativen Koalitionspartner durchsetzen. Die schwedische Regierung wird bis zu den Reichstagswahlen im September die Diskussion zu vermeiden suchen, da sie vor allem die Sorge um einen möglichen Erdrutschsieg der erstarkten Piratenpartei umtreibt. Auch bei anderen europäischen Staaten ist noch nicht abzusehen, ob sie sich der Opposition gegen die Pläne einer flächendeckenden Überwachung anschließen werden. Die Herausforderung für die – in manchen Ländern wie Deutschland und Schweden bereits überaus agile, europaweit aber noch im Werden befindliche – neue Bürgerrechtsbewegung besteht somit im ersten Schritt darin, in ausgewählten EU-Staaten ein größeres öffentliches Problembewusstsein zu schaffen.

Die Debatte um die SWIFT-Abstimmung zeigte allerdings, wie schnell das mediale und politische Echo über den Bürgerrechtsaufstand der Europaparlamentarier verklingen kann. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die europäische Öffentlichkeit krankt daran, dass sie massenmedial aus nationalen Öffentlichkeiten besteht – und nur auf diese reagieren nationale Regierungen.

Hinzu kommt, dass die Vorratsdatenspeicherung in zahlreichen europäischen Ländern bereits umgesetzt ist und daher dort nicht länger für mediale Kampagnen taugt. Eine wesentliche Herausforderung wird deshalb darin bestehen, thematische Schnittstellen in den jeweiligen Nationalstaaten zu ähnlich gelagerten, im nationalen Rahmen umstrittenen Themen zu finden. Das heißt auch: Die Datenschützer müssen sich in erster Linie nicht auf den Weg nach Brüssel, sondern vielmehr nach Madrid, Paris, Prag, Warschau, Athen, Rom und Kopenhagen machen.

Eine neue europäische Bürgerrechtsbewegung hat somit eine enorm komplexe Aufgabe vor sich. Sie ist aber auch bisher mit ihren Herausforderungen gewachsen und verfügt bereits heute über mehr Wissen, mehr Erfahrung, tragfähige Netzwerke, Öffentlichkeit und mehr (Infra-)Struktur als noch vor wenigen Jahren. Gerade die deutschen Aktivisten, beispielsweise der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung oder der Chaos Computer Club, gelten im Ausland als erfolgreiche Akteure im Kampf um Bürgerrechte und Datenschutz. Darauf kann man aufbauen. Und erste Reaktionen aus der Internet-Community nach dem Urteil weisen in ebendiese Richtung – und damit nach Europa.

[1] Vgl. auch die Dokumentation zum Urteil in diesem Heft.

(aus: »Blätter« 4/2010, Seite 16-19)