Rezensionsessay zu Gerhard Hanlosers Rezension von Bini Adamczaks „gestern morgen“
Gerhard Hanloser hat in der letzten Ausgabe der grundrisse Bini Adamczaks „gestern morgen – über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft“ rezensiert. Dieser Rezension mit vorliegendem Rezensionsessay zu entgegnen, hat mindestens zwei Gründe: Erstens, da das rezensierte Buch bemerkenswert ist und eine weitere, eine andere Betrachtung darüber so oder so nicht schaden kann. Zweitens, weil sich anhand der Kritik an vorangegangener Rezension einiges diskutieren lässt, was sich in den grundrissen – wiederum so oder so – ohnehin lohnt, zu diskutieren. Ein guter Anlass also, sich die Inhalte von Adamczaks' Buch in Erinnerung zu rufen.
Der Kommunismus hat das „historisch einklagbare Anrecht in die Welt gezwungen (...), keine Entmündigung hinnehmen, nicht eine einzige Erniedrigung mehr ertragen zu müssen. Seitdem ist noch das kleinste Unrecht größer und das größte schmerzt um ein Vielfaches mehr“ schreibt Bini Adamczak in „gestern morgen“ (Adamczak 2007, S 81). Gerade aus diesem Grund ist die Geschichte der russischen Revolution so besonders bedrückend. Der Stalinismus war laut Adamczak „nicht irgendeine, nicht bloß eine weitere Herrschaft, sondern Paradigma und erstes Glied in einer unabgebrochenen Reihe von Enttäuschungen, die so niederschmetternd nur hatten werden können, weil sie auf einer Hoffnung basieren, die früheren Generationen unbekannt war.“ (S. 81) Deshalb ist es notwendig, Erinnerungsarbeit in Form von Trauerarbeit zu leisten, ebenso wie es notwendig ist, Fragen an die Geschichte zu stellen, um der Zukunft willen, denn die Vergangenheit greift nach der Gegenwart wie die Gegenwart nach der Zukunft (vgl. S 76).
Ausgehend vom Hitler-Stalin Pakt wird die Geschichte der russischen Revolution zurückverfolgt bis zu ihrem Beginn. Eine zentrale Frage dabei ist die nach dem „point of no return“, dem historischen Punkt, an dem die Konterrevolution eindeutig und entgültig die Überhand erlangte und die russische Revolution ihr erlag. Diese Frage wird allerdings nicht, wie tausendfach zuvor, anhand reduktionistischer Politikmuster – anarchistisch, trotzkistisch, „linientreu“ – oder gemäß vermeintlich „objektiver“ Geschichtswissenschaft beantwortet. Sie wird gar nicht beantwortet; die gestellten Fragen und mit ihnen die gewählte sprachliche Form bestimmen die Richtung, bestimmen einen Raum, in dem Antworten gefunden werden können.
Die Töne, die Hanloser in seiner Rezension des Buches in Bezug auf die Geschichte der russischen Revolution anschlägt sind politisch sehr sympathisch; es wird schnell klar, dass ein undogmatischer Linksradikaler schreibt. Der Rezensent bringt die Geschichte einer ganzen Reihe von Oppositionellen der russischen Revolution ein, in deren Tradition er sich stellt. Er schreibt so über viel Wissenswertes, doch widmet er sich kaum den Inhalten des Buches. Hanloser unterschlägt uns somit die Tragweite von Adamczaks Überlegungen.
Anstatt auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen elitäres Namedropping, für den Klub der InsiderInnen, und gleichzeitig Weigerung und/oder Unvermögen, sich die Themen des Buches überhaupt genauer anzusehen: Adamczak würde „zwischen Benjaminschen Hass auf die Geschichte, die komplett falsch läuft, Derridascher obskurantistischer Gespensterlehre als Trauerarbeit und Foucaultschem Pessimismus hinsichtlich der Wünschbarkeit der Revolution hin und her pendeln.“ So leicht geht das, und alle Fragen sind futsch. Weg, verschluckt mit einem flapsigen Kommentar wie in einer langweiligen Diskussionsrunde einer langweiligen Mini-Theoriegruppe.
Was sind denn eigentlich die Fragen, die Adamczak stellt? – Zugegeben, es sind Fragen, die uns nicht neu sind, Fragen, die linke Praxis gestern genauso betreffen wie heute. Sie wurden millionenfach diskutiert, und die meisten kennen sie. Sie werden aber von Adamczak in eine Form destilliert, die die Möglichkeit eröffnet, anders, vielleicht genauer darüber nachzudenken.
„Die Revolution kann Revolution nur sein als (permanente) Konterkonterrevolution. Im Zwang der Entscheidung verdichtet sich die Frage, ob der Bürgerkrieg gewollt oder vorhergesehen wurde, zu einer Nuance. Aber bleibt die Revolution noch Revolution als Konterkonterrevolution, kann sie, unverändert dieselbe, ein zweites Mal auftreten?“ (S 144, Hervorhebung Adamczak). Das Brechtsche Bild aus dem Gedicht „An die Nachgeborenen“, dass „wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit nicht selber freundlich sein konnten“, dass auch „der Hass gegen die Niedrigkeit die Züge verzerrt“, potenziert sich in der Geschichte der russischen Revolution millionenfach und bis zum systematischen Terror, durchgeführt von KommunistInnen.
Adamczaks Buch ist deshalb so gut, weil sein Duktus nicht von einer mackerhaften Besserwisserei bestimmt ist. „Das Kriterium, das die revolutionäre von der reaktionären, von der konterrevolutionären Tat unterscheiden helfen soll, kann nicht scharf bestimmt werden. Denn es gibt historische Bedingungen, die die gezogene Grenze destabilisieren“ (S 101).
Die Art der Durchführung der nachholenden Industrialisierung, der ursprünglichen Akkumulation im Agrarland Russland, die unzählige Tote forderte, wurde mit der Notwendigkeit der Aufrüstung gegen die Konterrevolution begründet. Ohne Letztere hätte die Revolution gegen die imperialistischen Mächte nicht bestanden und ein Krieg gegen Nazi-Deutschlands wäre von vornherein aussichtslos gewesen.[1] Das stimmt, doch gleichzeitig war eben diese nachholende Industrialisierung eine der wichtigsten Antriebsmotoren für die systematische Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung auf dem Land, wo der größte Teil der Menschen in Russland lebte.
In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Fragen des Buches. Bini Adamczak stellt diese Fragen, ohne den Fehler zu begehen, sie außerhalb der Geschichte anzusiedeln, freihändig eine kommunistische Wunschliste zu erstellen und sich von vornherein auf die moralisch sichere Seite zu begeben: „Wie hoffnungslos naiv ist jede enthaltsame Kritik, die erneut die Wahrheit gegen die Macht in Stellung, eine abseitige Stellung bringt, so hoffnungsvoll, so voller Hoffnung auf eine bessere Welt diese Naivität auch sein mag.“ Es ist also keine ahistorische, moralische Kritik, die Adamzcak übt.
Das hindert die Autorin jedoch nicht, parteiisch zu sein. Sie ist nicht nur Anti-Stalinistin, sie kritisiert auch Lenin und den Gang der Revolution von 1917 an. Ein ganzes Kapitel widmet sie der Absurdität des Stalinschen Terrors, der neben seiner unglaublichen Grausamkeit auch noch höchst irrationale Züge trug. Ohne der oft zitierten „Kontinuitätsthese“ (die davon ausgeht, dass die Stalinsche Herrschaft eine aus der Leninschen ableitbare wäre) zu erliegen, kritisiert sie die Taylorisierung und Militarisierung der Arbeit, die bereits wenige Jahre nach der Revolution einsetzen. Sie kritisiert Trotzki, der diese Politik mit klassisch antikommunistischen Argumentationsmustern zu unterstützen sucht, indem er beispielsweise behauptet, der Mensch neige von Natur aus zur Faulheit (vgl. S 137). Adamczak führt an, dass zur Niederschlagung bäuerlicher Aufstände Giftgas eingesetzt wurde (S 134). Und sie kritisiert Lenins Diktum „Von den Deutschen lernen!“, das sich sowohl auf die Kriegsführung als auch auf die Arbeitsorganisation bezog.
Das Positive und wahrlich Fortschrittliche ist jedoch: Sie verfährt dabei nicht nach klassisch anarchistischem Muster (das wäre wiederum wie diejenigen, die immer schon alles über die russische Revolution gewusst haben – auf ihre Weise), sondern legt den notwendigen Ausgangspunkt ihrer antiautoritären Kritik offen: „An wen adressiert sich ein Text, der sich selbst in einem Außerhalb der Auseinandersetzung seiner Adressatinnen imaginiert, der nur im Raum eines imaginären Außerhalbs des 'danach' oder 'davor' reflektiert und – vielleicht – nur in ihm reflektieren kann? Nichts leichter als ein pazifistisches Programm zu verabschieden – in Zeiten des Friedens.“ Richtig ist folglich auch ihre materialistische Begründung der aktuell hohen Popularität moralischer Urteile über die Geschichte: „Es sollte (...) nicht verwundern, wenn die Ethisierung des Sozialen immer dann eine Wiederkehr erlebte, wenn die Möglichkeiten der Kritik, Einfluss zu nehmen auf die Geschichte, besonders gering erscheinen. So unter den Bedingungen des postsozialistischen Traumas, nach 1989.“ Und an anderer Stelle: „Zu schnell, zu einfach – obwohl notwendig – anhand eines heutigen kommunistischen Forderungskatalogs schlechte Noten in Sachen (sexistischer, rassistischer, antisemitischer) Ideologie zu verteilen. Worum es ginge, wäre etwas von dem zu bergen, was unter anderen Kräfteverhältnissen wünschbar war, jetzt mehrfach verschlossen ist.“
Zu schnell, zu einfach und doch notwendig: Wir müssen, diese Kritik der libertären Kritik der Bolschewiki vor Augen habend, der Frage nachgehen, wie es anders hätte sein können. Und es gibt diese Möglichkeit: „Die Trümmer der Geschichte verstellen den Blick auf den Traum von ihr (der kommunistischen Begierde, Anm.) dennoch nicht gänzlich, es gibt Scharten, in denen der Traum der möglich gewesenen, unmöglich gemachten Zukunft aufblitzt“(S 117).
So an vielen Stellen des wunderbar zu lesenden Tagebuchs von Alexander Berkman, der Ende 1919 gemeinsam mit Emma Goldman und 247 anderen Radikalen aus den USA in die Sowjetunion deportiert wird. Berkman macht es sich nicht einfach – bekennender Anarchist und zu Beginn begeisterter Anhänger der Revolution und Mitarbeiter der Bolschewiki, wird er im Laufe des Buches gegenüber Letzteren kritischer und kritischer, aber nicht aus anarchistischer Eitelkeit oder Idealismus, sondern wegen der Probleme im revolutionären Prozess.
Berkman, der nach seiner Ankunft in Russland oft als Übersetzer für die Bolschewiki arbeitete, gibt folgende Anekdote über den Besuch einer englischen ArbeiterInnendelegation vom Mai 1920 wieder: „Anselowitsch, der Vorsitzende des Petrograder Gewerkschaftssowjet, verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass es in Russland volle individuelle Freiheit gäbe – zumindest für die Arbeiter, wie er hinzufügte, als sei ihm die Gewagtheit seiner Aussage plötzlich bewusst geworden. Vielleicht tat ich Anselowitsch Unrecht, indem ich diese Unwahrheit in meiner Übersetzung seiner Rede ausließ. Aber ich konnte mich nicht vor die Delegierten hinstellen und ihnen etwas erzählen, von dem ich – genauso gut wie sie – wusste, dass es eine dreiste Lüge war, so dumm wie unnötig. (...) Sie wissen, dass es für niemanden in Sowjetrussland Meinungs- oder Pressefreiheit gibt, nicht einmal für Kommunisten, und dass die Unantastbarkeit der Person oder die Unverletzlichkeit der Wohnung unbekannte Worte sind. Die Erfordernisse des revolutionären Kampfes machen solche Zustände unerlässlich, das gibt Lenin auch offen zu. Es ist eine Beleidigung für die Intelligenz der Delegierten, etwas anderes zu behaupten.“ (Berkman 2004, S 97)
Berkman wird Ende Mai von Radek gebeten, Lenins „Der linke Radikalismus – die Kinderkrankheit des Kommunismus“ ins Englische zu übersetzen. „Ich hatte schon von dem geplanten Werk gehört und wusste, dass es ein Angriff auf die dem Leninismus kritisch gegenüberstehenden linksrevolutionären Strömungen war. (...) 'Ich werde es machen, wenn ich ein Vorwort hinzufügen darf.' 'Das ist keine Sache zum Witzereißen, Berkman!', Radek war ehrlich empört. 'Ich meine es ernst. Dieses Pamphlet entstellt und besudelt all meine Ideale. Ich kann es nicht übersetzen, ohne wenigstens ein paar Worte der Verteidigung hinzuzufügen.' 'Andernfalls würden Sie ablehnen?' 'Genau das.' Radeks Benehmen mangelte es an Herzlichkeit, als ich mich verabschiedete.“ (ebenda, S 107)
Zu dieser Zeit ist der Raum noch offener, die russische Revolution ist noch wenig konsolidiert und es gibt noch die Vielfalt der Bewegungen; noch kann, noch darf gewünscht werden. Später ist das nicht mehr so. Einerseits wegen des Stalinschen Terrors, andererseits weil sich „die Flächen des Kampfes zu Fronten verdichten, flachen und glatten Linien der verfeindeten Seiten, die sich fugenlos gegeneinander schließen. Die dichotome Logik, die das Freund/Feind-Schema organisiert, zeitigt identitäre Effekte in zwei Richtungen, sie homogenisiert die Pole, wie sie den Raum zwischen ihnen nivelliert“ (Adamczak 2007, S 43). Adamczak zitiert Manes Sperber: „Es gibt kein Niemandsland zwischen den Fronten; wendet man sein Gesicht gegen die einen, wird man, ohne es zu wollen und es verhindern zu können, zum Vortrupp der anderen, eben jener, die zu vernichten doch die vordringlichste Aufgabe bleibt.“ und weiter: „Zwischen den Barrikaden steht man nicht, da fällt man, zweimal getroffen, zweimal getötet“ (ebenda).
Adamczak widmet sich den Reaktionen der Exil-KommunistInnen in Paris, die die Nachricht des Hilter-Stalin Pakts ereilt. Hier ist kein Raum mehr, und Adamczak erklärt es - ohne subjektiv nachvollziehen zu wollen, wie diese KommunistInnen denken, weil es unnachvollziehbar ist, schier unglaublich –: „Es ist nicht die Gewohnheit der Institution, die die Kommunistinnen an die Kommunistische Partei bindet. Denn sie wollen glauben. Sie wollen nicht aufhören zu glauben. Wollen nicht glauben, können nicht glauben, können nicht glauben wollen, dass falsch war, woran sie geglaubt haben. Denn mit der Vergangenheit, die sie in zweifel ziehen, wird auch die Zukunft zweifelhaft, der sie die Vergangenheit opferten.“
Zudem: Hitler bedroht Europa und wird bald versuchen, es zu unterwerfen. Wer könnte ihm die Stirn bieten außer die Kommunistische Partei, außer Stalin? „Es geht darum, zu verstehen, welche Autorität, welche Immunität gegen Kritik der russischen Revolution und mit ihr der an sie gebundenen Institutionen nur aus der Tatsache ihres Sieges und ihrer – historisch erstmaligen – Verteidigung erwächst. Welche argumentative Kraft ihre bloße Existenz einer Materialistin bedeuten muss. Daran gemessen wird jede andere Argumentation, jede Rede, jeder Text vergeistigt, körperlos, kurz idealistisch erscheinen.“
Das macht die Kritik so schwierig: Hätte Lenin die Revolution nicht mit starker Hand weitergeführt, wäre sie bereits in den ersten Jahren zerschlagen worden. Mag sein. Doch die russische Revolution ist, soviel steht fest, seit Langem verloren. Nicht vom imperialistischen, kapitalistischen Feind wurde sie zerschlagen, sondern von den eigenen, zur Konterrevolution gewordenen RevolutionärInnen.
Doch das ist noch nicht alles: „... es ist der Verlust selbst, der verloren gegangen sein wird. Den Nachfolgenden wird der Verlust bereits zur Voraussetzung ihrer Existenz geworden sein, zur Grundlage ihrer Erfahrung. Die revolutionäre Enttäuschung werden sie bei größter Anstrengung nicht mehr verstehen können, obwohl sie, obwohl wir – bis heute – streng genommen Kinder genau dieser Enttäuschung sind. Nicht wir haben die Erfahrung der Enttäuschung gemacht, sondern sie uns.“ (S 22)
Mit dieser Tatsache hat auch die „Bewegung der Bewegungen“ in Zeiten nahezu ungebrochener kapitalistischer Hegemonie zu kämpfen. Diese kann nur überwunden werden, wenn es gelingt, die Enttäuschungen, die in der Geschichte so prägend waren, zu reflektieren und ein neues kommunistisches Begehren zu konstruieren. Ein Begehren, das zunächst die Vorstellung, dass ein ganz anderes Ganzes möglich ist, ans Tageslicht befördert.
Dann das Beispiel des Aufstands von Kronstadt, das Adamczak zitiert, nicht um sich zum tausendsten Mal darüber zu streiten, ob seine Niederschlagung durch die Bolschewiki den Wendepunkt der russischen Revolution markiert hat oder nicht[2], sondern um anhand dieses historischen Beispiels herauszufinden, wie revolutionäre Errungenschaften verteidigt werden können beziehungsweise ob sie verteidigt werden können: „Müssen die Kronstädterinnen der Zukunft nicht gegen die Leninistinnen der Zukunft die Waffen erheben, misstrauisch ihnen gegenüber, ihre Verhandlungsangebote ausschlagend, in die Offensive gehen und die Leninistinnen liquidieren, bevor diese sie liquidieren können? Müssen die Kronstädterinnen der Zukunft also Leninistinnen werden?“ (S 147)
Das angesprochene dialektische Verhältnis ist verständlich. Und auch hier wieder: Es sind keine Gewissheiten, die ausgesprochen werden, sondern Fragen. Hanloser irrt mit seiner Unterstellung, dass es Adaczak darum gehe, zu beurteilen, ob es „der Mühe Wert“ sei, die Revolution zu machen. Er irrt auch mit der Unterstellung, Adamczak würde sich kritiklos auf die Seite der Allende-Regierung stellen, die 1973 darauf verzichtet hat, zu den Waffen zu greifen, um die Revolution zu verteidigen. Denn nach der Ausführung des Chile-Beispiels schreibt die Autorin: „Stellt sich die Alternative historisch so, dann stellt sie sich als Aporie. Als Widerspruch zweier Sätze, die gleich wahr sind, als unauflösbarer Widerspruch. Zweimaliges Scheitern der Revolution, dem durch Resignation nur ein drittes hinzugefügt würde.“ Resignation bedeutet also selbstverständlich auch ein Scheitern der Revolution: nach dem Scheitern Lenins und dem Scheitern Allendes die dritte Variante. Doch die Frage, ob es „unter den Bedingungen der Dialektik der Konterrevolution nicht revolutionärer gewesen (wäre), die Revolution sein zu lassen“, ist dennoch berechtigt. Sie ist keineswegs, wie implizit unterstellt wird, ein feiger Rückzug, eine Kapitulation.
„Wenn die faschistischen Machthaber die Bevölkerung ganzer Dörfer, die von Partisaninnen besucht wurden, um sich mit notwendigen Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, als Geiseln nehmen und – zur Strafe, zur Abschreckung – ermorden lassen, müsste der antifaschistische Widerstand dann nicht sofort beendet werden? Das Mitleid der Revolutionäre hat seinen vorgesehenen Platz in der Strategie der Herrschenden, die nicht die Freiheit zu erobern haben, sondern ihre Herrschaft zu verlieren.“ Und weiter: „Wenn die Gutmütigkeit der Guten eine feste Größe im Kalkül der Konterrevolutionäre ist, was bleibt da anderes, als erpressbar zu bleiben? Das ist etwas anderes, als sich erpressen zu lassen.“
Hanloser dagegen: „Und wenn eine Lehre aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen werden sollte, dann doch folgende: Der Faschismus ist eine Konterrevolution gegen eine Revolution, die niemals stattgefunden hat. Er kommt als Strafe dafür, wenn mensch die Revolution nicht macht.“ Diese Aussage ist natürlich nicht falsch - aber wie die Revolution machen? Wie sie durchführen, wenn sie, wie Adamczak ausführt, als Konterkonterrevolution nicht notwendigerweise, aber zumindest nicht unwahrscheinlicher Weise Elemente der Konterrevolution annimmt?
Was können wir da tun? Adamczaks Buch ist keine schlechte Hilfe. Zwar kein Rezeptbuch, ganz im Gegenteil. Es ist ein „Fragen-Buch“. Es geht um das „Was tun?“, nur dass dieses „Was tun?“ nicht ein leninistisches wissendes, sondern tatsächlich ein fragendes ist, ein fragendes einer wünschenswerten kollektiven Debatte.[3] Diese Frage stellt sich immer, es ist eine Frage, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse berücksichtigen muss und die jedes Mal von Neuem von den Subjekten der Geschichte aufgenommen wird. Es gibt dafür keine Formel.
Dass es immer wieder um die Konstruktion eines kommunistischen Begehrens geht, schreibt Adamczak in Epilog ihrer früheren Publikation: „ ...je weniger die Menschen machen können, was sie wollen, umso weniger wollen sie wollen (sich ernsthaft etwas wünschen). Und wie sollen die Menschen machen, was sie wollen, wenn sie gar nicht wissen (wollen), was sie wollen.“ (Adamczak 2006, S 79)
Das Begehren aber, das Wünschen und die Utopie ist der Wirklichkeit nicht einfach idealistisch entgegengestellt, sondern finden ihre Voraussetzungen – wie könnte es anders sein – in eben dieser Wirklichkeit (der historischen Konstellation, den herrschenden Kräfteverhältnissen etc.)
Die „Wünsche, Träume, Bedürfnisse“ können zwar aus den „gesellschaftlichen Widersprüchen schöpfen, einen progressiven Überschuss entwickeln, aber sie können sich nie gänzlich emanzipieren, können nie vollkommen abheben von den materiellen Bedingungen, denen sie entstammen, es können nicht die Gedanken, Ideen, Bilder einer anderen Wirklichkeit, einer anderen gesellschaftlichen Organisation sein. Stattdessen sind es immer die Bedürfnisse der heutigen Subjekte, in all ihrer Beschränktheit, die die Bilder einer unbeschränkten Zukunft befriedigen sollen. Es ist immer die Vergangenheit, die nach der Zukunft greift.“ (Adamczak 2006, S 60f)
Aus den Fragen, die sich aus der Vergangenheit ergeben, folgen also Fragen für die Zukunft. Wenn wir voranschreiten wollen, kommen wir nicht umhin, zu fragen, wie wir voranschreiten wollen. Genau dieses fragende Voranschreiten ist es, das manchmal immer noch nicht gelingt, nicht in Hanlosers Rezension und in so vielen anderen politischen Versuchen auch nicht.
Hanloser vermisst in „gestern morgen“ die „theoretische Klärung der angerissenen Fragen“. Auch wenn die Autorin bei Lesungen selbst kritisiert, dass die Debatten aus der Zeit der russischen Revolution – beispielsweise über die NEP oder über die nachholenden Industrialisierung – in ihrem Buch nur holzschnittartig behandelt werden, so würde durch deren genauere Behandlung zunächst keine Klärung eintreten, sondern lediglich eine Vertiefung der Probleme. Eine Klärung gibt es möglicherweise in den angerissenen Fragen, aber es gibt keine dialektisch-materialistische Methode, keine noch so präzise Geschichtswissenschaft, die zu klären vermag, was die Revolution, ohne Konterrevolution zu werden, hätte tun sollen. Wirklich blöd, aber es ist so.
Aber es wäre falsch, und ich wiederhole mich, das Buch wegen dieser Grundannahme als pessimistisch einzuschätzen. Es ist nicht nur ein „Fragen-Buch“, sondern auch ein Buch zur Konstruktion eines kommunistischen Begehrens sowie ein Buch des Aufbegehrens, denn „die Aporie ist nicht, wie das eine bestimmte Philosophie will, bereits Antwort auf ein Problem, sondern ist das nach Antwort verlangende Problem selbst. Alles begehrt auf, alles muss aufbegehren gegen diese Aporie, die zum Aufgeben überreden zu wollen scheint, weil sich in ihrer logischen Form die historische Ausweglosigkeit sedimentiert. Aber auf dem Terrain der Geschichte gibt es kein Gesetz, das länger gültig wäre als bis eben heute. Es gibt geschichtliche, gemachte Bedingungen, unter denen das Rätsel der Revolution sich lösen lassen muss. Aber das Lösen des Rätsels selbst ist zumindest eine Bedingung für das Gelingen der Revolution – der nächsten Revolution.“ (S 150)
Unumgänglich, gegen die beschriebene Aporie aufzubegehren: Zum Jahreswechsel 2008/2009 fand anlässlich des fünfzehnten Jahrestages der Erhebung in Chiapas das „primer festival mundial de la digna rabia“ – das „world's first festival for dignified rage“ statt. Aus dem Ankündigungs- Kommuniqué: „Let our rage grow and become hope. Let our dignity take root again and breed another world. If this world doesn't have a place for us, then another world must be made. With no other tool than our rage, no other material than our dignity.“ (http://dignarabia.ezln.org.mx/) Wir könnten auch sagen: „Wenn die letzten Revolutionen keinen Platz für uns hatten, müssen wir eben eine neue – sprich ganz andere! - Revolution machen!“
Zum Glück haben wir also nicht alles verpasst. Ganz im Gegenteil! Wir befinden uns heute im Spannungsfeld der Adamczakschen Fragen. Wie könnte es auch anders sein? Der Wunsch, diese ganz andere Revolution zu machen, muss sich nun mal mit den herrschenden Verhältnissen konfrontieren.
Griechenland, vor einigen Wochen. Eine Aktivistin postet: „Es ist eine große Frage, wie zu kämpfen. Das Ziel rechtfertigt nicht die Mittel. Wir können keine faschistischen Wege verwenden um Faschismus zu bekämpfen. Was ist mit Gewalt? Manche Dinge sind so spontan, dass sie uns übernehmen, und dann...Wir können nicht einfach zulassen, dass die Polizei uns verhaftet. Wir tun unser Bestes ... Wir machen Fehler ... Aber wir versuchen zu denken, Theorie zu benutzen, mit Aktionen. Manchmal schlägt es fehl, manchmal funktioniert es. Ich weiß, dass es danach (wann auch immer das meint) leicht sein wird, zu bewerten, zu verstehen und zu kritisieren, aber jetzt ist nicht viel Zeit. Es gibt Fragen: Kann die Utopie einen Platz finden? Kann das Chaos Freund der Ordnung werden? Ich muss jetzt gehen. Ich hoffe nur, dass wir euch stolz machen werden – dich und alle, die mit uns lächeln und unser 'Wir' verwenden können. – Grüße nach Berlin, A.“ (http://alexisg.blogsport.de/2008/12/10/8/) Aktualität der Fragen des Buches in den Kämpfen von heute ...
Unbestritten wird es in allen sozialen Kämpfen Momente geben, in denen es, um das Zuspitzen, Klarmachen und Polarisieren geht; in denen es ganz klare und einfache Wahrheiten gibt, wie z.B.: „Niemand wird abgeschoben!“, „Bewegungsfreiheit für alle!“ oder Ähnliches. Mit der Art von Gewissheit jedoch, die Hanlosers Text vermittelt, halte ich die kollektive Konstruktion eines kommunistischen Begehrens wie auch eine kollektive kommunistische Praxis für nur schwer möglich.
e-Mail: dieterbehr@yahoo.de
Zitierte und im Text erwähnte Literatur:
Adamczak, Bini (2006). kommunismus – kleine geschichte wie endlich alles anders wird. Münster: Unrast
Adamczak, Bini (2007). gestern morgen – über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft. Münster: Unrast
Berkman, Alexander (2004). Der bolschewistische Mythos – Tagebuch aus der russischen Revolution 1920 – 1922. Frankfurt/Main: Edition AV
Anmerkungen:
[1] Ein Überlebender, der Kommunist Peter Gingold, sagte einmal: „Die Stalinorgel hat mir das Leben gerettet!“
[2] „Bis Mitte der 70er Jahre war die 'russische Frage' mit all ihren Konsequenzen das unausweichliche 'Paradigma' der politischen Perspektiven der Linken, in Europa und in den USA, und nur 15 Jahre später nimmt sie sich aus wie die älteste Vorgeschichte. Damals schien das minutiöse Studium jedes einzelnen Monats der Geschichte der russischen Revolution und der Komintern von 1917 bis 1928 der Schlüssel zum Universum des Ganzen zu sein. Wenn jemand die Niederlage der russischen Revolution 1919, 1921, 1923, 1927 oder 1936 oder (gar) 1953 ansetzte, hatte man eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er über so ungefähr jede andere politische Frage auf der Welt dachte: das Wesen der Sowjetunion, China, das Wesen der KPen auf der Welt, das Wesen der Sozialdemokratie, das Wesen der Gewerkschaften, die Einheitsfront, die Volksfront, nationale Befreiungsbewegungen, Ästhetik und Philosophie, das Verhältnis von Partei und Klasse, die Bedeutung der Sowjets und der Arbeiterräte, und ob hinsichtlich des Imperialismus Luxemburg oder Bucharin recht hatte.“ (Goldner zit. bei Adamczak 2007, S 119)
[3] Das in St. Petersburg und Moskau beheimatete KünstlerInnenkollektiv „Chto Delat?“ bezieht sich in seinem Namen auf die Schrift Lenins, aber auch, oder vielmehr in erster Linie, auf das gleichnamige Werk des Schriftstellers Nikolay Chernishevsky. Dmitry Vilensky von „Chto Delat?“: „First I should say that it is quite a common misunderstanding in the West to link the question “Chto Delat?” directly and exclusively with Lenin. In Russia it is quite clear that apart from few revolutionary fanatics and ex-teachers of Marxism-Leninism very few remember this text, but everyone remembers the famous novel by Nikolay Chernishevsky from 1862 with the same title because it is still in the basic school reading program and it has influenced deeply the Russian culture and politics. And for us the reference to Chernishevsky is much more important because at a certain moment we found ourselves thrown back to the period of wild accumulation of capital and new forms of labour slavery. In this situation the development of left movements was in some paradoxical way comparable to the situation of the first Russian Marxist cells in mid-XIX century. And the novel of Chernishevsky actually was a brilliant attempt to write a sort of a manual how to construct emancipatory collectives and make them sustainable in a hostile society.” Vilensky über den Namen seiner Gruppe: “Also it is important to emphasize that “What is to be done?” is the most clear question that represents a leftist approach. It means that we admit that this or that historical situation must be changed but before we act we ask questions and develop a field for intellectual action. The right wing politics on the other hand normally starts with the issue 'Who is guilty?'. And the last important thing for us is that the name of the group was a definite mark of representing our fidelity to a certain tradition – to show exactly which side you are standing on. And it made your position (and still makes) in a Russian and international situation clear to certain degree that helps to establish the space of common that can be shared by anyone who still is interested in these debates and practices.”