So also sieht im 21. Jahrhundert die Krise aus oder zumindest das, was
davon bisher zu sehen ist. In den Talkshows sitzen Dutzende von Professoren,
Unternehmerverbandsvertretern und Wirtschaftsjournalisten
und erklären dem aufgestörten Publikum die Finanzkrise und deren Folgen:
Sie sei weltweit, und die USA seien eigentlich hauptschuldig, weil
dort die wohlfeilen Hypothekenkredite an Leute gegeben wurden, die sie
sich eigentlich nicht leisten konnten, anschließend die Banken aus den
papiernen Schuldtiteln neue »Finanzprodukte« fabrizierten, die weltweit
als Wertpapiere gehandelt wurden. Und dann brach das Ganze zusammen.
Wie jedes Pyramidenspiel, das nach dem Schneeballprinzip aufgebaut
wurde, könnte man sagen; nur das ist im Fernsehen so nicht zu
hören. Wenn schon die Großbanken einander und dem von ihnen geschaffenen
System mißtrauen, sollen wenigstens die Kleinsparer vertrauensselig
bleiben, so das Ziel der öffentlichen Beruhigungstaktik. Der
Radiomoderator sagt derweil den Titel von Roger Whittaker Wenn es dich
noch gibt mit der Bemerkung an, dies sei die Frage des Kleinanlegers an
seine Großbank. Während die neoliberale Propaganda die Köpfe der
Mehrheit der Menschen nie wirklich erreichte, ist das Krisenbewußtsein
längst Alltagskultur.
Von fast sechshundert Milliarden US-Dollar ist die Rede, die bereits ausgebucht
werden mußten, darunter 340 Milliarden in den USA und 230 Milliarden
in EU-Europa. (Das ist der Stand zum Zeitpunkt des Schreibens die-ses Textes.) Wenn das Heft beim Leser ankommt, sind es vielleicht tausend
Milliarden. Dann können wir sicher sein, daß die Krise die sogenannte
Realwirtschaft gepackt hat und damit unzählige Arbeitsplätze
weltweit. Es könnte schlimmer kommen, sagen dann wieder die Talkshow-
Professoren, und siehe: Es kommt schlimmer.
Die Großmedien, die noch bis gestern den Neoliberalismus als alternativlos
predigten, verkünden heute sein definitives Ende. Als hätten sie
es schon immer gewußt. Ebenso die Politik. Gordon Brown erklärt zur
Begründung der Teilverstaatlichung der größten britischen Banken, das
internationale Finanzsystem sei zusammengebrochen. Angela Merkel
sagt, die soziale Marktwirtschaft sei »das beste Wirtschafts- und Sozialmodell,
das es gibt«. Das gelte es nun in seiner internationalen Dimension
zu gestalten. Norbert Blüm, ebenfalls CDU und einst sechzehn Jahre
lang Kohls Arbeitsminister, zitiert in der Süddeutschen Zeitung sich selbst
– den berühmten, später im Kabarett gern zitierten Satz: »Die Renten sind
sicher« – jetzt im Präteritum: »Die Rente war sicher.« Dann aber »rückten
die Finanzkapitalisten an – und redeten der Menschheit ein, Zocken sei
lukrativer als Arbeiten«. Er verweist zu Recht darauf, daß 97 Prozent des
weltweiten Finanzkapitals mit der Wertschöpfung in der Realwirtschaft
nichts mehr zu tun haben. Aber hatte nicht auch schon die Kohl-Regierung
mit den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in Deutschland
zu tun? Mit »Rückgabe vor Entschädigung«, Privatisierung der Post, den
»vier Freiheiten« in der EU, die die Wirtschafts- und Währungsunion,
aber keine Sozialunion geschaffen haben, um nur einiges zu nennen?
Es ist an der Zeit sich zu erinnern, daß das Eigentum nach Marx Ausdruck
der gesellschaftlichen Beziehungen ist; »außerhalb dieser Beziehungen
ist das bürgerliche Eigentum nichts als eine metaphysische oder
juristische Illusion«. Was war eigentlich dieser Neoliberalismus? In den
sechziger und siebziger Jahren, sozusagen am Ende des »Fordismus« – das
heißt, des kapitalistischen Regulationssystems, das Massenproduktion,
Massenkonsum, »Normalarbeitsverhältnisse« bei nahezu Vollbeschäftigung
und Wohlfahrtsstaatlichkeit verband – hatte die Arbeiterschaft in
Westeuropa und Nordamerika eine relativ starke Position erreicht.
Das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital war aus Kapitalsicht
schädlich, weil es zu wenig Rendite ermöglichte. Der Thatcherismus in
Großbritannien und die Reaganomics in den USA zielten darauf, die starken
Gewerkschaften zu zerschlagen, es folgten die Privatisierungen und
Deregulierungen, die Götzen des Neoliberalismus wurden. Die globalisierten
Herrschaftsstrukturen – weltweit in der Welthandelsorganisation
(WTO) und regional in der EU und ihren Maastricht-, Amsterdam- und
Lissabon-Verträgen – taten ein übriges, um die national organisierten
Gewerkschaften und politischen Parteien weiter zu schwächen.Wenn wir die so entstandene Machtstruktur als gesellschaftliches Verhältnis
denken, so fällt zunächst ins Auge, daß diese Entwicklung der
Weltwirtschaft mit einer ständig wachsenden Zahl von Milliardären einherging,
während es den meisten Menschen in Europa und Nordamerika
bereits vor dem Ausbruch der Krise schlechter ging. Der kritische Ökonom
Joseph Stiglitz verweist darauf, daß es selbst in den USA der Mehrheit
der Menschen schlechter geht als vor acht Jahren.
Wie aber haben diese Verhältnisse funktioniert? Hans-Ulrich Jörges,
Journalist beim Stern, machte bereits Anfang September, als die Krise erst
ein Wetterleuchten war, auf die Diskrepanz zwischen den exorbitant wachsenden
Manager-Jahresgehältern (Ackermann/Deutsche Bank 14,3 Millionen,
Löscher/Siemens 11,5 Millionen usw.) und den Massenentlassungen
aufmerksam. Als eine Ursache für das zerstörerische Funktionieren dieses
Finanzsystems machte er die »Knute der Rendite« aus: Von 189 Dax-
Vorständen in Deutschland sind 123 erstmals in einer Vorstandsposition,
35 Prozent scheitern schon in den ersten 18 Monaten. Deshalb würden die
»Rundum-Sorglos-Pakete« geschnürt und »goldene Fallschirme« aufgespannt,
die Versager auffangen. Wenn neunzig Prozent der Vergütung gewinnabhängig
sind und am Börsenkurs hängen, passiert folgendes: »Wer
morgen schon vor der Tür sitzen kann und so konditioniert ist, nimmt
mit, was er greifen kann. Geht halsbrecherische Risiken ein … Generiert
besinnungslos Wachstum, preßt und spart, beschädigt selbst Produkte.«
Bei Max Weber, dem Säulenheiligen der heutigen Sozialwissenschaften,
hieß es noch, einer »der konstitutiven Bestandteile des modernen
kapitalistischen Geistes« sei die »rationale Lebensführung auf Grundlage
der Berufsidee, … geboren aus dem Geist der christlichen Askese«. In
den einschlägigen, auf Weber fußenden Darstellungen zur Wirtschaftsgeschichte,
die auch den BWL-Studenten zuweilen nahegebracht werden,
wurde denn auch begründet, daß genau deshalb dieser Kapitalismus
nur in Westeuropa entstehen konnte, nicht in China, Indien, dem
Russischen oder dem Osmanischen Reich. Dort hätte die Gier der wirtschaftlichen
Akteure wegen deren ungesicherter wirtschaftlicher und
rechtlicher Lage eine sinnvolle Kapital-Akkumulation verhindert.
Die selbsternannten Herren der Welt, die jetzt gerade stürzen, glichen
eher einem eingesetzten Pascha in einem osmanischen Paschalik als dem
idealtypischen Kapitalisten nach Weber, der Voraussetzung eines funktionierenden
Kapitalismus. Es waren schon sehr faulige Verhältnisse,
die jetzt zusammenrutschen. Was aber wir dafür erhalten werden, ist offen.
Das könnte gut sein, wenn es weltweit eine starke politische und soziale
Alternative gäbe. So aber wirkt es eher bedrohlich. »Es sind jetzt
gute Zeiten für Sozialisten«, sagte jemand zu mir. Vielleicht sind die Leute,
die so denken und reden, ein Teil der Bedrohung, nicht der Hoffnung.