Neapel sehen und sterben

Seit 14 Jahren kämpft Süditalien mit dem Müllnotstand.

Eine fast undurchschaubare Verflechtung organisierter Kriminalität mit korrupter und entscheidungsloser Politik und Gleichgültigkeit gegenüber dem Problem der Müllentsorgung hat über Jahre und Jahrzehnte verheerende Zustände verursacht.

Wenn man durch die italienische Hauptstadt Rom flaniert, stößt man beinahe an jeder Ecke auf steinerne Gebotstafeln aus dem 18.Jahrhundert an den Häuserwänden. Darauf bittet der "Illustrissimo Presidente delle strade" (eine Art Bürgermeister) die Bewohner, keinen Müll auf die Straße zu werfen, eine durchaus gängige Praxis, nicht nur in den südlichen Städten dieser Zeit. In der Regel drohen diese Schilder mehrere "Scudi" Strafe an. In Rom hat sich die Lage seither verbessert, ähnliche Schilder in Neapel - mögen sie je existiert haben - zeigen bis heute keine Wirkung.

In den ersten Wochen dieses Jahres glich die Berichterstattung aus Neapel und der umliegenden Region Kampanien einer Kriegsberichterstattung. Angesichts der lang angekündigten und sich stets wiederholenden "Emergenza" (Notstand) schickte Premierminister Prodi das Militär, um die Lage in Griff zu bekommen. In den Nachrichten sah man stets dieselben Bilder von Müllbergen am Straßenrand, Straßenblockaden, wütenden Protestierende, Militärfahrzeugen und Soldaten. Feuerwehrleute versuchten im Fernsehen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie ihnen zu Hilfe kommen und die Feuerwehr in Zukunft nicht mehr körperlich angreifen sollte.

In Pianura, einem der "Hotspots", wurden Journalisten attackiert, ein 25-jähriger Mann wurde festgenommen, weil er einen Bus gekapert und später angezündet hatte. Erschreckende Bilder. Der Grund: In Pianura, einem Stadtteil Neapels mit rund 50000 Einwohnern, sollte eine bereits seit über zehn Jahren geschlossene Mülldeponie als Notlösung herhalten. Angesichts der erschreckend hohen Anzahl von Erkrankungen wie Krebs und Asthma ist es kein Wunder, dass die Bevölkerung rebelliert. Das Terrain ist zudem vollkommen ungeeignet für eine Deponie, was auch der Grund für die Schließung war.

Die Gewalt übertrug sich auf andere Teile Italiens, zuallererst auf Sardinien, die erste Region, die sich mit Kampanien solidarisch erklärte und sich deshalb über das Verbot hinwegsetzte, jedwede Art von Müll einzuführen. Eine friedliche Blockade am Hafen wurde überschattet von Ausschreitungen sog. "Ultràs", rechtsgerichtete Fussballanhänger der Mannschaft Cagliari, die schon seit langem mit den "Tifosi" von Napoli verfeindet ist. Doch die Gewalt kam zunächst von oben. Zur Lösung des Problems setzte die Regierung Prodi den ehemaligen Polizeichef Giovanni De Gennaro als Sonderkommissar ein - angesichts der komplexen Lage eine weithin kritisierte Wahl. De Gennaro war Polizeichef, als man mit brutaler Härte gegen die Protestierenden gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua vorging.

14 Jahre Notstand

Die "Emergenza" in Kampanien gibt es offiziell seit 14 Jahren. Am 11.Februar 1994 wurde der Posten eines sog. "Commissario straordinario", Sonderkommissars, geschaffen. In den ersten beiden Jahren des Notstands konzentrierte man sich darauf, neue Mülldeponien zu finden. 1996 schritt die Regierung erneut ein, 1997 entstand dann endlich so etwas wie ein Plan für die Region. Damals wie heute schien die Lösung in Müllverbrennungsanlagen zu liegen. Ursprünglich waren 15 solcher Anlagen geplant, nach und nach wurden daraus sieben Depots und zwei Verbrennungsanlagen.

Die Idee dahinter schien einfach: In den Depots sollten die - nunmehr berühmt gewordenen - Ökoballen hergestellt werden, leicht transportierbare, verbrennbare, rund zwei Kubikmeter große Mülleinheiten. In der Ausschreibung für den Bau dieser Anlagen gab es keinerlei Vorgabe bezüglich des Standorts, ein Industriegebiet sollte es sein, die Firma die den Zuschlag erhielt, sollte darüber entscheiden dürfen. Den Auftrag erhielt die Firma FIBE, Teil des FIAT-Konsortiums, für eine technisch veraltete Anlage, die sie binnen eines Jahres errichten wollte. Kurz darauf wurde ihr der erste Aufschub gewährt. Bis heute ist keine der geplanten Anlagen errichtet worden.

Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen FIBE, viele ihrer leitenden Angestellten stehen, wie auch einige der Sonderkommissare, unter Anklage. Unter anderem wird ihnen schwerer, andauernder Betrug vorgeworfen. Bei der Herstellung der sog. Ökoballen wurden die bestehenden Normen nicht beachtet. Das heißt, die schätzungsweise rund 4,3 Millionen Tonnen "Öko"ballen sind tickende Zeitbomben. Die Gefahr, dass bei ihrer Verbrennung gefährliche Dämpfe entstehen, ist groß, erst kürzlich musste eine Müllverbrennungsanlage in Umbrien geschlossen werden, weil sie mit Dioxin und radioaktiven Materialien verseucht ist.

Zudem sind die Ökoballen eine Profitquelle für Unternehmen der Camorra, denn sie müssen ja irgendwo gelagert werden und das geschieht auf Grundstücken, die die Camorra in weiser Voraussicht Landwirten abgekauft hat, die vor dem Ruin standen - nicht zuletzt wegen der starken Verschmutzung ihrer Anbauflächen.

Das andere Ei des Kolumbus, die Mülltrennung, die im Gegensatz zu den Verbrennungsanlagen tatsächlich nutzbringend wäre, weil sie die Müllmenge deutlich verringert, wurde ähnlich effizient angepackt. Vor einigen Jahren stellte die Region Kampanien 2400 Mülltrenner ein. Seither sind sie jedoch arbeitslos, ihnen fehlt die nötige Infrastruktur. Einige von ihnen haben bereits mehrmals darauf aufmerksam gemacht, andere haben sich mittlerweile selber die nötigen Dinge organisiert.
Dass Mülltrennung auch in Kampanien funktionieren kann, zeigen einige wenige sog. "vorbildliche Gemeinden". Doch bislang hat keiner der Sonderkommissare der Mülltrennung eine Chance gegeben.

Der wahre Notstand

Seit 14 Jahren gibt es nicht nur Sonderkommissare, sondern auch eine parlamentarische Untersuchungskommission. Die macht es nicht einfacher, die Mechanismen und Ursachen des permanenten Notstands zu verstehen. Vertreter von "La verità delle contrade", ein Zusammenschluss von Experten- und Bürgerinitiativen Kampaniens, sprechen von einem "wahren" und einem "falschen" Notstand. Der wahre Notstand besteht nicht in den Müllhaufen auf den Straßen, sondern in den Millionen Tonnen Giftmüll, die irgendwo, meist auf illegalen Müllhalden, liegen und langsam aber stetig die Nahrungskette vergiften und zu eklatanten Gesundheitsschäden führen.

Im Vergleich zum restlichen Italien sterben in Kampanien 12% mehr Frauen und 10% mehr Männer an Krebs. Die erschreckendste Zahl nennt Roberto Saviano, Autor des Bestsellers Gomorrha über die kampanische Camorra: 84% mehr Missbildungen bei Neugeborenen. Das sind Zahlen der staatlichen italienischen Gesundheitsbehörde und der Weltgesundheitsorganisation. Der Giftmüll - Industrieabfälle, radioaktiver Müll usw. - stammt aus Norditalien und Nordeuropa und gelangt meist über dunkle Kanäle nach Kampanien.

Während Regionen wie Sardinien die Einfuhr von Müll generell verbieten, gibt es in Kampanien zwar auch ein Verbot für die Einfuhr von Müll, aber auch eine Ausnahme - und die gilt allein für Giftmüll. In Schlacken- oder Schlammform landet er in Becken, die offiziell als Fischteiche angelegt wurden, oft wird er normalem Müll beigemengt (siehe die Ökoballen) oder einfach auf illegalen Deponien gelagert, wobei eine evtl. Verschmutzung von Grundwasser für die "Ökomafia" noch nie ein Hindernis war.

1998 legte der damalige Leiter der parlamentarischen Untersuchungskommission auf eindrückliche Weise dar, wie die Camorra Teile der Provinz von Caserta "manu militare", durch Gewalt, kontrolliert. Auf eigens dafür erworbenen Grundstücken werden die Straßen überwacht, auf denen der Müll zu den illegalen Deponien transportiert wird, die Lastwagen werden von Mercedes-Autos eskortiert, die Polizei ist nirgendwo zu sehen. Naturgemäß gibt es keine Demonstrationen gegen diese "Müllfahrten".

Der "falsche" Notstand hingegen sind die Müllberge, die in regelmäßigen Abständen an den Straßenrändern Neapels und anderer Städte Kampaniens wachsen.

Der falsche und der wahre Notstand sind mittlerweile normal. Firmen, die daran verdienen, schießen wie Pilze aus der Erde, und fassen immer stärker Fuß, eigene Bürokratien werden geschaffen, Parasiten und Konsulenten können durch den Notstand ihren sozialen Status beträchtlich steigern. Bei jeder Eskalation des Notstands öffnen sich neue Goldgruben für alle Beteiligten. Unfähige Gemeindeverwaltungen und Politiker ziehen das organisierte Verbrechen an wie der Honig die Bienen, allein im vergangenen Jahr ermittelte die Justiz im Umland von Neapel gegen 83 von 92 Gemeindeverwaltungen. Wegen der Notmaßnahmen, die angesichts des Müllnotstands notwendig werden, nimmt man es mit transparenten Ausschreibungen nicht so genau.

Profitmaximierung

Einer der Gründe für den anhaltenden Notstand ist nicht zuletzt der Müll aus dem Norden, der auf den Mülldeponien Kampaniens landet. Eine korrekte Entsorgung von Giftmüll kostet zwischen 21 und 62 Cent pro Kilo; die Clans bieten dieselbe Leistung für nur rund 10 Cent pro Kilo an. Die legale Verwertung eines Containers mit 15 Tonnen gefährlichen Abfällen kostet legal rund 60000 Euro, illegal jedoch 5000, rechnet Legambiente vor, die maßgebliche italienische Umweltorganisation, die in ihrem letzten Jahresbericht 45,9% aller Umweltverbrechen Italiens in den vier Regionen ausmachte, in denen das organisierte Verbrechen dominiert: Kampanien, Apulien, Kalabrien und Sizilien. Rund 23 Milliarden Euro werden im illegalen Müllgeschäft umgesetzt - vor allem dadurch, dass vielen Unternehmen und Gemeinden aus dem Norden die geringe Abfallkosten sehr gelegen kommen. Wozu lange nachfragen, wenn alles reibungslos läuft?

Waren im Rom des 18.Jahrhunderts noch "Scudi" und vermutlich bestialischer Gestank die Folge illegaler Müllentsorgung, sind die Folgen in Neapel und Kampanien heute die Zerstörung des Rechts auf Gesundheit und die Zerstörung der Zukunft. Wenn Roberto Saviano in seinem Buch Gomorrha über die Verflechtungen zwischen organisierter Kriminalität, neoliberaler Wirtschaftsweise und den Auswüchsen der Globalisierung schreibt und versucht, die Flüsse von Waren, Geld und Kapital zu veranschaulichen, stellt er sich einen Müllberg vor: Nahrungsmittel, Gifte aller Art, Waren, Fälschungen, sogar menschliche Leichname, alles auf einem Haufen, ein stinkender Berg auf dem sich nach und nach alles miteinander vermengt. Dantes Inferno. "Munnezza è oro", brachte es ein reuiger Camorra-Arbeiter auf den Punkt, "Müll ist Gold wert". Zunächst dachte die Polizei, er würde scherzen, als er die profitable Natur jedweder Art von Müll pries. Mittlerweile ist Müll sowohl legal als auch illegal zu einem der größten Industriezweige avanciert, eine der Sparten, die weltweit am anfälligsten für Missbrauch und Korruption sind.

Unterdessen bleibt alles beim Alten. Sonderkommissar De Gennaro hat neue vorübergehende Müllaufbewahrungsstätten ausfindig gemacht, alte Deponien wieder geöffnet, das Zentrum von Neapel weitgehend von Müll befreit. Die Feuerwehr löscht weiter Müllhaufen, die in Flammen aufgehen und die Bevölkerung versucht sich weiter zu wehren. Ob angesichts der schwankenden Regierung Prodi Hoffnung auf dauerhafte Veränderung bestehen kann, ist mehr als fraglich.

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