Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns

Bildung und Postkoloniale Kritik

Die Transformation des Hier und Jetzt ist ohne Bildungsprozesse nicht denkbar, und so ist es auch kaum ein Zufall, dass Befreiungsbewegungen häufig bedeutsame reformpädagogische Ideen hervorgebracht

haben. Auch innerhalb postkolonialer Kritik finden sich eine Reihe pädagogischer Überlegungen, die bisher allerdings nur wenig Beachtung erfahren habe. Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak, die sich selber als Lehrerin be-zeichnet, beschreibt Bildung als einen dialektischen Prozess von Lernen und Verlernen (Spivak 1996). Immer wieder hebt sie in ihren Texten und Interviews hervor, welche Möglichkeiten postkoloniale Kritik für eine pädagogische Reflexion bereit hält und umgekehrt, wie notwendig pädagogische Reflexionen für die Inganghaltung von Dekolonisierungsprozessen sind. In diesem Zusammenhang wird Bildung und werden Bildungsinstitutionen nicht in simplistischer Manier als bloß befreiend gefeiert, sondern immer gleichzeitig einer rigorosen Kritik unterworfen.
Postkoloniale Theorie interessiert sich insbesondere für die epistemische Gewalt - das was Spivak einmal provokativ als mind-fucking charakterisiert hat. In den Analysen wird deshalb die Bedeutung von Bildung für Demokratisierungs- und Dekolonisierungsprozesse betont und zugleich pädagogische Unternehmen als risikoreich ernst genommen. Fragen, die sich dabei einstellen sind etwa: Wie können die Ausgegrenzten erreicht werden, ohne ihnen dabei gleichzeitig eine spezifische Perspektive aufzuzwingen? Wie können Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die sich einer Disziplinierung des Geistes widersetzen? Ist eine gewaltfreie Pädagogik möglich? Wie können Räume des Denkens geschaffen werden, die dissensfreundlich sind?

Bildung und Zivilisierungsmission

Für Edward Said sind Kulturproduktionen immer auf engste mit dem politischen Charakter der Gesellschaft verwoben, und es ist gerade die Unsichtbarkeit dieser Beziehung, die diese für die ideologischen Arenen so nützlich machen. Imperiale Diskurse propagierten ein metaphysisches Recht des Imperiums zur gewaltsamen Unterdrückung der Kolonisierten, was wiederum eine dichte Bezugnahme zwischen imperialen Zielen und einer nationalen Kultur notwendig machte, die über eine weit verbreitete Rhetorik der Universalität von Kultur besiegelt wurde (vgl. Said 1993). Kulturproduktionen können infolgedessen nie unschuldig sein, zeigen sie sich doch gezeichnet durch die hegemonialen Strukturen, in denen sie hervorgebracht wurden. Als eines der wichtigsten politischen Ziele bezeichnet Said deswegen die "De-Universalisierung" der imperialen Kultur, die durch möglichst konkrete Kontextualisierungen und Bildungsprozesse erreicht wird. Die konkrete Kontextualisierung einer jeden kulturellen Produktion untergräbt die unangezweifelte Annahme des universellen Charakters, indem sie die Quellen derselben offen legen.
Die Rolle, die der Kultur und auch der Bildung als Stützpfeiler des Imperialismus zukommt, kann, so Spivak und Said unisono, unmöglich überbewertet werden, wird der Imperialismus doch erst durch diese als zivilisatorische Mission eingeschrieben. Kultur erscheint als moralische Macht, die eine Art ideologische Befriedung herstellt, die u. a. durch Bildungsprozesse vermittelt wird (vgl. auch Viswanathan 1987). Das autoritative Gebäude selbstherrlicher Kultur, das im 19. Jahrhundert von Europa ausgehend aufgebaut wurde, erwies sich als dermaßen stabil, dass seine Beteiligung an der imperialen Zivilisierungsmission nie wirklich hinterfragt wurde. Dekolonisierungsprozesse müssen deswegen geradezu zwangsläufig die Dekolonisierung von Bildung miteinschließen. Insofern problematisiert postkoloniale Pädagogik zu Recht die in das Bildungsprojekt eingebettete gelernte Vergessenheit und thematisiert die Komplizenschaft mit den imperialistischen und nationalistischen Projekten. Dabei ist es unmöglich, über Dekolonisierung der Bildung nachzudenken, ohne die sozialen Strukturen, in denen Bildung eingelassen ist, mit zu berücksichtigen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist getan, wenn die eigene soziale Positionierung und Privilegierung hinterfragt wird. Wie bin zu dem oder der geworden, der oder die ich jetzt bin? Und auf wessen Kosten bin ich das geworden? Welche Perspektiven versperren mir meine eigenen Privilegien? Was ist für mich nicht wahrnehmbar? Welche Räume darf ich betreten? Wem bleiben dieselben versperrt?

Den Geist dekolonisieren

Für Spivak bedeutet Bildung vor allem eine Strategie zur Neuordnung von Begehren, die ohne Druck und Zwang operiert: an uncoercive re-arrangement of desires. Womit eine pädagogische Methodenreflexion immer ein Nachdenken über das, was in den Lernenden wie und mit welchen Konsequenzen neu-geordnet wird, implizieren muss. Im Fokus des Interesses steht dabei, ob das Re-arrangieren der Begehren tatsächlich gewaltfrei bewerkstelligt wurde. Dieses nicht ganz einfache Unterfangen kann nur gelingen, wenn die, die die Rolle der Vermittelnden übernehmen, sich als Teil des Gesamtproblems begreifen und sich nicht nur als Lehrende, sondern auch als Lernende verstehen.
In diesen Zusammenhang ist es instruktiv, die andere Seite des Wissens zu betrachten: die Ignoranz. Wo Spivak von der gestatteten, ja der belohnten Ignoranz spricht - jener Ignoranz also, die nicht blamiert, sondern gegenteilig die eigene Position der Macht stabilisiert -, spricht die kanadische Philosophin Lorraine Code von der Macht der Ignoranz. Eine Ignoranz, die im wissenschaftlichen Diskurs gerne als Objektivität beschrieben wird. 1817 schrieb James Mill etwa die History of India, von der er selbst sagte, dass nur seine vollkommene Ignoranz gegenüber dem indischen Kontext es ihm ermöglichte, dieses so wichtige Buch zu schreiben. For Code ist dieses Beispiel geradezu emblematisch für eine Politik der Unwissenheit.
In Anbetracht der vorherrschenden Ignoranz kann Lernen nur die Dialektik von Lernen und Verlernen bedeuten. Während klassische Pädagogikvorstelllungen versuchen, Ignoranz zu bekämpfen, adressiert eine postkoloniale Pädagogik offensiv die gestattete und bewusst durch Bildung produzierte Ignoranz: jenes Unwissen also, welches sozial belohnt wird und auch nicht Halt macht vor den so genannten Bildungseliten (vgl. Spivak 1999). Lehren wird innerhalb der postkolonialen Kritik zu einer strategischen Frage. Es muss eine konkrete Wahl darüber getroffen werden, was gelehrt und wie es gelehrt wird und es muss reflektiert werden, wie der/die Lehrende sich im Prozess der Vermittlung positioniert und verändert. Anstatt den Lernenden Theorien zu geben, sollte es Spivak zufolge eher darum gehen, zu vermitteln, dass Wissen wie jede andere Strategie nie universal und folgenlos einsetzbar ist. Jede Situation ist einzigartig und fragt nach einer besonderen Taktik, für die Wissen bereitgestellt werden muss. Spivak verdeutlicht dies, indem sie beschreibt, was passiert, wenn die Ränder das Zentrum der Erziehungsinstitutionen betreten, wenn die Unterdrückten nicht mehr schweigen und der akademische Kanon durch dekonstruktive und feministische Lesarten irritiert wird. Die Institutionen, die sie auch als Erziehungsmaschinerie (teaching machine) bezeichnet, werden durch das Einbrechen der Ränder in Bewegung gebracht, so Spivak, und es ist wichtig zu beobachten, wie die einzelne Teile des Erziehungskomplexes darauf reagieren (vgl. Spivak 1993).
Auf der anderen Seite beschreibt sie Lernen als ein Trainieren des Geistes und beharrt darauf, dass die Übung des Geistes harte Arbeit erfordert. In zahlreichen Interviews gibt sie zu bedenken, dass es unsinnig und gefährlich sei, zu glauben, dass es genügen würde, sich "etwas einfallen zu lassen". Wenn es darum geht, die Gedanken zu dekolonisieren, müssen diese vielmehr beständig in Schwingung versetzt werden. Ein kleiner didaktischer Trick hier und da konterkariert eher die Ernsthaftigkeit des Unternehmens, untergräbt das Ziel der Dekolonisierung. Es geht auch nicht um die Proklamierung der Veränderung der Verhältnisse - dies hält Spivak lediglich für eine Geste der Überlegenheit -, sondern darum zu lernen, wie das, was das Hier und Jetzt ausmacht, aus der spezifischen Logik der Marginalisierten heraus erfahrbar gemacht werden kann. Es besteht eine Notwendigkeit für ein unsichtbares Ausbessern (invisible mending). Sie beschreibt diese Form der Bildung als das Einweben unsichtbarer Fäden in die bereits vorhandene Textur. Das dabei entstehende Muster ist nicht vorab bestimmt, und der Prozess des Webens kommt nie zu einem Ende, wobei die Webenden im Prozess gleichzeitig Arbeitende und zu bearbeitender Stoff sind. Um dies bewerkstelligen zu können, wird von denen, die Lehren, vor allem Geduld gefordert, denn die Prozesse verlaufen langsam, ja schleichend, so wie die historische Gewalt, die in die soziale Textur eingelassen ist, beständig und flexibel ist. Wird das angestrebt, was Spivak eine transnationalen Bildung genannt hat, so bleibt die Hinterfragung der eigenen Privilegien Notwendigkeit (vgl. Spivak 1995), denn dann geht es nicht um eine Bildung, die auf bloße Informationsakkumulation aufbaut, sondern um ein Lernen und Verlernen. Der Kunst, die Regeln zu brechen, kommt dabei eine besondere Funktion zu - sowohl die Regeln der wissenschaftlichen Disziplin(ierungen) als auch die Regeln des Erwarteten, des Common Sense, des Normalen. Die Praxis des "Regelnbrechens" beschreibt Spivak folgerichtig als eine ethische Verpflichtung. Die dominanten pädagogischen Strategien innerhalb der Bildungs- und Kulturinstitutionen wie auch die Erwartungen der Lernenden/Studierenden, ihre Vorstellungen darüber, was Lernen bedeutet, behindern jedoch sehr häufig die Infragestellungen des Systems und die in dasselbe eingebetteten Disziplinarmaßnahmen. Wer die Regeln bricht, darf deswegen nicht hoffen, dass das Brechen der Regeln allen attraktiv erscheint. Nicht wenige sind zufrieden mit dem So-wie-es-ist, verweigern den Willen zum Widerstand. So ist für viele die historisch gewachsene Struktur des "Wir und die Anderen" durchaus attraktiv - ganz gleich auf welcher Seite sie stehen, sie profitieren davon. Ein Verlernen zu initiieren bei sich und anderen, erfordert deswegen auch immer eine Art Experimentierfreudigkeit und Räume, die Experimente zulassen. Was dann entstehen kann, sind Funken "gewaltfreier Vermittlung", bei der Dissens konstruktiv wahrgenommen wird und nicht Konsens die Erwartung darstellt.
In gewisser Weise haftet der Spivak'schen Idee postkolonialer Pädagogik ein utopisches Moment an. Dann nämlich, wenn sie sagt, dass es darum geht, das System in Frage zu stellen, ohne ein anderes, besseres zu propagieren. Das klingt nach Ernst Bloch, demzufolge Hoffnung immer enttäuscht werden muss, wird sie sonst doch totalitär (vgl. Castro Varela 2007). So betrachtet weist die Taktik des Lernens und Verlernens und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns in Richtung nicht-dominanter Zukünfte.

Literatur

Castro Varela, María do Mar (2007): Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung. Bielefeld: transcript.
Said, Edward (1993): Culture and Imperialism, London: Chatto & Windus.
Spivak, Gayatri C. (1993a): Outside in the Teaching Machine, New York/London: Routledge.
Spivak, Gayatri C. (1995): "Teaching for the times". In: Jan Nederveen Piet-erse/Bhikhu Parekh (Hg.): The Decolonization of Imagination: Culture, Knowledge and Power, London: Zed, S. 177-202.
Spivak, Gayatri C. (1996): The Spivak Reader. Hg. von Donna Landry/Gerald Maclean. New York/London: Routledge.
Spivak, Gayatri C. (1999): A Critique of Postcolonial Reason: Towards a History of the Vanishing Present. Calcutta/New Delhi: Seagull.
Viswanathan, Gauri (1987): Masks of Conquest: Literary Study and British Rule in India. London: Faber.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Widerstand. Macht. Wissen", Wien, Herbst 2007.