Prekarität in gemischten Gruppen

Bereits zum zweiten Mal ist nun auch in Wien das Vereinigte Prekariat am MayDay auf die Straße gegangen. Wie vereint es tatsächlich ist, beantwortet Encarnación Gutiérrez Rodríguez im Gespräch.

an.schläge: Seit einigen Jahren wird in immer mehr europäischen Städten mit Protestmärschen und -veranstaltungen am 1. Mai der "EuroMayDay" begangen. Demonstriert wird gegen die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen, von der immer mehr Menschen betroffen sind. Wie beurteilst du diese Allianzen? Ist die Prekarität einer Migrantin ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis tatsächlich mit der einer Freelancerin aus dem Kulturbereich vergleichbar? Und wenn nicht: Macht Solidarität die Nivellierung unterschiedlicher Prekaritätserfahrungen wett?

Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Das Thema Prekarisierung ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren sehr beliebt. Wie du schon sagst, scheint es unterschiedliche gesellschaftliche Positionen miteinander zu verbinden. Als wir, eine Gruppe von Aktionsforscherinnen1, MAIZ, Precarias a la Deriva, die Berliner Gruppe Respekt u.a., 2004 einen Workshop zu Prekarisierung und Migration aus feministischer Perspektive in Zusammenarbeit mit der Rosa Luxemburg Stiftung organisierten, haben wir genau das diskutiert: die unterschiedliche gesellschaftliche Position, in der einerseits eine prekär arbeitende Forscherin oder Dozentin, eine Künstlerin oder eine selbstständige Journalistin und andererseits eine ohne Papiere lebende Migrantin stecken. Mir lag sehr daran, den unterschiedlichen Zugang zu politischen, zivilen und sozialen Rechten und Ressourcen für eine europäische, weiße Staatsbürgerin und eine Migrantin mit einem muslimischen, afrikanischen, osteuropäischen oder lateinamerikanischen Hintergrund zu thematisieren. Zwar verbindet alle die Deregulierung und Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt. Doch während die einen als "professionelle Wissens-, Informations-, Medien- oder Kulturproduzentinnen arbeiten können, dürfen MigrantInnen mit einem ähnlichen Bildungshintergrund nicht in diesen Berufssparten arbeiten. Sie werden in den hochprekären, mindestbezahlten Arbeitsmarkt ohne jeden Arbeitsschutz abgeschoben. Eine Migrantin, deren Schicht um vier Uhr morgens anfängt und um neun Uhr abends oder noch später aufhört, die lange Arbeitswege in die "Global Cities" wie Madrid, Berlin, Rom und London zurücklegen muss, die mit einem Patchwork von "wohlmeinenden" bis "zu den Knochen ausbeutenden" ArbeitgeberInnen zu kämpfen hat, damit frau oder mann auch am nächsten Tag wieder eingestellt wird, die mit einer kollektiven Strategie der Subsistenz für die Familie im Migrations- und Herkunftsland, die nachgeholt werden soll, aufkommt und das auf der Basis einer restriktiven Asyl- und Migrationspolitik - diese Frau gleichzusetzen mit einer weißen Westeuropäerin, zumeist aus der Mittelschicht stammend, die in England bei Pizza-Hut gearbeitet hat, in Paris Au-Pair war oder im Hotel in London für einige Zeit als Putzfrau arbeiten musste und heute aktiv in unterschiedlichen politischen Projekten und autonomen Initiativen ist und nebenher als Lehrbeauftragte, Freischaffende Journalistin oder Kulturproduzentin tätig ist - das kommt definitiv nicht ganz hin. Dieser Versuch der Allianzbildung auf der Ebene der Annahme einer ähnlichen Arbeits- und Lebenslage erinnert mich an Debatten um Rassismus in gemischten Gruppen, wo dann alle über ihre Ausschlusserfahrungen sprechen und die minoritären Frauen in der Runde schweigen.
Das Phänomen der Prekarität ist für Frauen ja durchaus kein neues. Sollte die Bewegung deshalb nicht mehr von feministischer Praxis und Theoriebildung lernen?
Es haben mittlerweile einige Debatten um die ungleichen Positionen von Prekären stattgefunden2, obwohl diese Beiträge zumeist keine feministische Analyse beinhalten. Und es gibt eine Intervention von Respekt Berlin, die sie letztes Jahr in Form eines Manifests verfasst haben.
Aber es geht in der Thematisierung um Prekarität nicht nur um die unsicheren Arbeits- oder Aufenthaltsverhältnisse. Es geht auch um die Thematisierung dieser differenten Formen, die über den Abbau eines Sozialstaates, die Veränderung von Zeit- und Raumdimensionen durch virtuelles Arbeiten, die Fusionierung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, die verstärkte Einbindung subjektiver, intellektueller und kreativer Fähigkeiten in die bezahlte Arbeit erzeugt werden. Demnach umfasst der Begriff der Prekarisierung nicht nur die vergeschlechtlichten, sexualisierten, rassifizierten, ethnifizierten und ungeschützten minderbezahlten Jobs im privaten Haushalt, in der Sexindustrie, im Gastronomie- und Hotelsektor, in Call Centers, der Medien- und Kommunikationsindustrie, sondern auch die Verflüssigung identitärer, räumlicher und zeitlicher Bezüge. Diese Differenzen können nicht mittels der Benennung einer gemeinsamen Klassenlage zusammengebracht werden. Gerade nach den Auseinandersetzungen, die seit den 1970er Jahren von Feministinnen, People of Color-Bewegungen, der Krüppelbewegung und Queer-Gruppen initiert werden, wird eine Strategie, die die differenten Hierarchien und Dominanzverhältnisse auf eine einzige Gemeinsamkeit oder Formel reduziert, hinterfragt. In diesen Auseinandersetzungen wird Prekarisierung und ihre vielfältigen Artikulationen beispielsweise unter dem Begriff der Multitude von Theoretikern wie Antonio Negri und Michael Hardt thematisiert.
Antonio Negri definiert die Multitude als ein Bündel heterogener kollektiver Kämpfe, die in der Umbruchphase von Fordismus zu Postfordismus entlang neuer antagonistischer Konfliktlinien erzeugt werden, wie zum Beispiel die Frauen-, Friedens-, Ökologie- und globalisierungskritische Bewegung, aber auch die unterschiedlichen Formen der kollektiven Organisierung von Arbeit und Leben wie sie zum Beispiel in MigrantInnennetzwerken stattfindet. Diese unterschiedlichen Stränge sozialen Protestes und von Alltagspraktiken gehen nicht immer zusammen. Sie sind nicht als ein kollektiver Akteur zu denken, eher entsprechen sie unterschiedlichen Perspektiven, die sich widersprechen und im Widerstreit miteinander stehen. Antonella Corsani merkt an, dass die Politik der Multitude erst durch das Aufkommen feministischer und postkolonialer Kritik sowie der Queer-Bewegung denkbar wurde. Diese Bewegungen haben insbesondere in den 1990er Jahren die Idee einer universellen politischen Identität beziehungsweise Identität als Bezugspunkt politischer Praxis in Frage gestellt. Unterschiedliche Feministinnengruppen und selbstorganisierte Migrantinnengruppen thematisierten mittels des Slogans des "movement of the movements" die heterogene, singuläre und zugleich kooperative Zusammensetzung der feministischen, queeren und antirassistischen Bewegungen im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung. Diese Bewegung, die an das Konzept der Multitude anschließt, dekonstruiert sie zugleich, indem sie an die feministischen, antirassistischen und queeren Kämpfe der 1970er, 1980er und 1990er Jahre anknüpft.
In diesem Sinne betonen Precarias a la Deriva3 in ihrer militanten Untersuchung zur Prekarisierung die Singularität der Lebenssituationen von Frauen. Diese können nur kollektiv im Sinne eines Austauschs von Interventionsstrategien sein.
Der Auseinandersetzung der Precarias folgend, ist also eine Betrachtung des Konzeptes der Multitude und der Prekarisierung unter queer, feministisch und postkolonial kritischen Gesichtspunkten dringend geboten. Denn die Multitude als ein undifferenziertes Feld der Differenzen, der Singularitäten, der globalen Subjektivitäten einzuführen, ohne dabei die Gesellschaft strukturierenden Hierarchien zu benennen, verwässert das Bild der möglichen Allianzen im Wissen um Unterschiede, wie es Audre Lorde in ihren Gedanken über Allianzen im Feminismus zum Ausdruck brachte.
Eine Betrachtung also, die intendiert, unterschiedliche Kämpfe in eine universalen Einheit zu verpacken, blendet die Mechanismen der Macht und Herrschaft aus, die auch innerhalb der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bewegungen zu finden sind. Eine Auseinandersetzung um Prekarisierung, die die konkrete Frage der materiellen Distribution, der Aporien zwischen Norden und Süden, der vergeschlechtlichten Subalternen, der unterprivilegierten Queers nicht stellt, versäumt es, die eigene mögliche Position hegemonialen Sprechens zu erkennen.

1 Luzenir Caixeta u.a.: Hogares, Cuidados y Fronteras/Home, Care and Borders/Zuhause, Sorge und Grenzen. Madrid: Cruz Roja, 2004

2 vgl. die Diskussion in der Berliner Zeitschrift Arranca!

3 Precarias a la Deriva: A la Deriva. Por los circuitos de la
precariedad femenina. Madrid: Traficantes de Sueño, 2004

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at