Andere Räume, Räume der Anderen

In einem kleinen Absatz versteckt, fast am Ende seines Buches Politik der Unreinheit, erwähnte Paul Mecheril eine mögliche Anwendung von Michel Foucaults Begriff der "Heterotopie" auf die

Einwanderungsgesellschaft. Die von ihm in diesem Buch konzipierte Politik sei kein bloßer Wunschtraum, schrieb er, sondern knüpfe an beobachtbaren Formen des Gelingens an: "Sie nimmt ihren Ausgangspunkt an vorhandenen Anderen Orten. Die Utopie hat keinen Ort, sie ist der Unort, der Ohneort. Andere Räume dagegen sind Heterotopien, verwirklichte, verortete und verlandschaftete Utopien, real gewordene Räume eines anderen Lebens." Wie diese Orte genau aussehen, darüber ließ Mecheril seine LeserInnen weitgehend im Unklaren - er bemerkte bloß, dass die Politik der Unreinheit anschließe an das in diesen Räumen "vernehmbare Krächzen, an die unbeholfene Souveränität und an die kraftvolle Kraftlosigkeit". Als ich diese Stelle las, war mir Foucaults Aufsatz nicht bekannt, doch der Gedanke eines "anderen Raums" fügte sich augenblicklich mit Gedanken zusammen, die ich mir in einem anderen Zusammenhang gemacht hatte - da ging es um Kulturpolitik in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, genauer gesagt, um das Verhältnis zwischen abstrakt und konkret in dieser Kulturpolitik. Tatsächlich hat alle bisherige Kulturpolitik in Deutschland stets mit abstrakten Konzepten gearbeitet - wenn man so will mit "Utopien". Diese Utopien hatten Namen wie "Integration" oder "multikulturelle Gesellschaft" und trugen implizit eine weitere Utopie in sich: Die Utopie einer funktionierenden, einheimischen Gesellschaft, welche einen Umgang finden musste mit "Fremdheit", Differenz und anderen Problemen, die durch die Einwanderung von "Ausländern" erzeugt worden waren. Entsprechend zu diesem Akzent auf dem Abstrakten gab es eine Ignoranz gegenüber dem Konkreten - also den kulturellen Artikulationen der MigrantInnen selbst. Selbstverständlich wurden die Bemühungen von MigrantInnen in der Hochkultur zur Kenntnis genommen, manchmal sogar deren Popmusik. Aber die "Niederungen" des Kulturgeschehens spielten keine Rolle - Kulturvereine, Sportvereine, "Männercafés", Gastronomie im Allgemeinen, Diskotheken etc. All diese Ausdrucksformen wurden gewöhnlich unter Folklore vermerkt, in den letzten Jahren aber zunehmend negativ als Bestandteile einer potentiell gefährlichen "Parallelgesellschaft" abgewertet. Nun sind es aber gerade diese "Niederungen", in denen sich MigrantInnen Raum angeeignet haben, die für eine Konzeptualisierung der Einwanderungsgesellschaft entscheidend sind. Wenn man im marxistischen Sinne einmal voraussetzt, dass sich in den aktuellen Verhältnissen stets auch Kräfte artikulieren, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen, dann wäre das Verständnis für die "Niederungen" der erste Schritt zur einem Wandel, der von der Praxis ausgeht und nicht von normativen Setzungen, die bereits das Ziel des Prozesses bestimmen. Über diese Räume gibt es freilich bislang nur sehr wenige Analysen - im deutschsprachigen Bereich fehlen die Cultural Studies der Praxis der EinwandererInnen.

Als mir der Kölnische Kunstverein im Rahmen des "Projektes Migration", dessen Ergebnisse derzeit in einer großen Ausstellung in Köln zu sehen sind, anbot, eine Vortragsreihe zu kuratieren, nahm ich dies zum Anlass, um den Gedanken der "Heterotopie" mit anderen zu diskutieren. In von mir moderierten Paargesprächen wollte ich mit so unterschiedlichen DenkerInnen und PraktikerInnen wie Paul Mecheril und Hito Steyerl, Santina Battaglia und Cem Özdemir, Erol Yildiz und Ljubomir Bratić sowie Nora Sternfeld und Hussein Ertunc und Miranda Jakisa von der Mannheimer Gruppe Die Unmündigen den Gehalt des Begriffes ausloten.
Doch zunächst: Wie taucht der Begriff Heterotopie eigentlich bei Foucault auf? Er schrieb: "Es gibt gleichfalls (...) wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können". Nun hat dieser Begriff der Heterotopie mit jenem, der in Bezug auf die Einwanderungsgesellschaft sinnvoll erschien, nur wenig zu tun. Denn für Foucault sind jene Heterotopien keine Räume, die durch die Aktivität der Anderen gestaltet werden, sondern Orte, die von der jeweiligen Kultur "etabliert" werden - gewissermaßen als Ergänzung in einem vorhandenen System, als "Illusionen" wie die Kolonie oder "Kompensationen" wie das Bordell. Insofern hat Nora Sternfeld während der Veranstaltung ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass Foucault letztlich "Auslagerungsräume" für das Andere beschrieben hat und hat diesen Räumen ganz bewusst "Einforderungsräume" entgegengestellt - bewusst geplante politische Eingriffe in den öffentlichen Raum wie etwa die Wiener Wahl Partie.
Tatsächlich muss man Foucault den Begriff der Heterotopie entwenden, um den Aspekt der Selbstorganisation und des "Raumgreifens" in den Heterotopien zu zeigen. Letzteren Aspekt findet man allerdings bei Henri Lefebvre, der den Begriff der Heterotopie in Die Revolution der Städte verwendet. "Anomische Gruppen", meint er dort, "formen heterotopische Räume, deren sich herrschende Praxis früher oder später erneut bemächtigt." Den Begriff der Heterotopie stellt er dem Begriff der Isotopie gegenüber: "Isotopien: Orte des Gleichen, gleiche Orte. Nahe Ordnung. Heterotopien: der andere Ort und der Ort des Anderen, das ausgeschlossen und gleichzeitig einbezogen wird. Ferne Ordnung." Bis zum 16. Jahrhundert sei die Stadt selbst im Vergleich zum Land eine Heterotopie gewesen. Danach dann sei die Heterotopie in die Vorstadt ausgewandert, wo sich eine Bevölkerung unterschiedlicher Herkunft zusammenfand - Fuhrleute, Handelsgehilfen, Halbnomaden.
Lefebvre spricht von den Heterotopien auch als "vieldeutigen Räumen". Diese Vieldeutigkeit ist nicht verwunderlich, denn die Heterotopien sind Orte, die von jenen geschaffen wurden, die einbezogen sind und gleichzeitig ausgeschlossen werden. Ausschluss durch Einbeziehung ist ein Charakteristikum des Rassismus und die Räume sind vieldeutig, weil sie in dieser Ambivalenz entstehen. In einem Aufsatz für den Sammelband Globalkolorit, den Ruth Mayer und ich herausgegeben haben, hatte Imran Ayata einen Raum der Heterotopie mit all seinen Widersprüchen beschrieben - das türkische Männercafé. Sein Text begann mit der Erzählung alltäglicher Ausgrenzungserlebnisse. Personen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland permanent nach ihrer Herkunft gefragt, wobei diese Frage keineswegs naiv ist: Sie "entfremdet" Personen von der Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit und verweist sie an einen anderen Ort. Das Männercafé ist für Ayata ein Ort, an dem er diesen Zuschreibungen entgehen kann - da die Herkunft keine Rolle spielt, ermöglicht ihm der Aufenthalt dort ein Ausleben seiner Individualität. Diese Sichtweise steht selbstverständlich im diametralen Gegensatz zum hegemonialen Blick, der in den Männercafés nichts als homogene Orte der Abgrenzung zu erkennen vermag. Freilich verschweigt Ayata keineswegs, dass diese Heterotopie selbst kein harmonischer Raum ist - sie ist von Machtbeziehungen durchzogen. So werden etwa Frauen auf spezifische Weise ausgeschlossen. Dennoch bildet das Männercafé eine Art Schutzraum für migrantische Männer und offenbar sind solche Räume durchaus notwendig. Als zum Beispiel während der Veranstaltung im Kunstverein Santina Battaglia sehr ausführlich über die Zumutungen referierte, die Zuschreibungen bezüglich der Herkunft für MigrantInnen bedeuten, da regte sich im einheimischen Teil des Publikums ganz erheblicher Widerspruch - einem Großteil der Personen fühlte sich angegriffen und bestand schlicht und ergreifend darauf, dass die Frage "Woher kommst Du?" legitim sei, obwohl fast alle Personen mit migrantischem Hintergrund darauf hinwiesen, dass die Frage für sie unangenehm sei. Die beleidigten Reaktionen und die gängige Unterstellung der "Überempfindlichkeit" entwerten die Erfahrungen der Personen mit Migrationshintergrund und erzeugen Polarisierungen, welche diese Personen wiederum in eine Sprecherrolle hineindrängen, die auf die Herkunft reduziert ist. Im Feminismus der siebziger Jahre wurde das "Unter-sich-sein" als Taktik diskutiert, um dominanten männlichen Sprechweisen zu entgehen. In diesem Sinne sind auch die Heterotopien Orte, an denen ein selbstorganisiertes "Unter-sich-sein" stattfindet, dass so nur im Kontext der Einwanderungsgesellschaft funktioniert.
Mittlerweile findet man eine scheinbar ethnisch codierte Gastronomie, die sich primär an Personen mit Migrationshintergrund richtet, nicht nur in den Vierteln mit hohem Migrantenanteil, sondern auch in den Innenstädten. Auf der Veranstaltung hat Erol Yildiz beispielsweise berichtet, dass die Restaurants in der "türkisch" geprägten Keupstraße im Kölner Viertel Mülheim in postmoderner Weise mit Elementen des "Türkisch-Seins" spielen, die kaum noch als Tradition, sondern als modische Accessoires gelten können. Zudem zeigen die BesitzerInnen immense Eigeninitiative und Unternehmergeist. Der Diskurs freilich über die Keuptstraße erklärt den Ort unentwegt zum "Ghetto". Die Heterogenität der Städte wird in Deutschland per se als Niedergang betrachtet - der Blick richtet sich kaum einmal auf das, was funktioniert, sondern grundsätzlich auf das Problematische. Mit diesen Beispielen ließe sich endlos fortfahren. Ohnehin ist die ganze Bedeutung von Kultur im Leben der Einwanderer ist eine Reaktion auf die staatsbürgerliche und politische Ausgrenzung in der Bundesrepublik. Kulturvereine waren eine Möglichkeit der Selbstorganisation angesichts einer Umgebung, die an "Integration" nicht das geringste Interesse zeigte. Die Kulturvereine wie etwa die frühe Griechische Gemeinde haben die Bedeutung von Kultur weitgehend verändert - Kultur wurde zu einem Feld, das sich transnational spannte und das eine soziale Einbettung in den Prozess der Migration und des Exils hatte. In der Praxis der Heterotopie entfaltet sich also ein Kulturbegriff, der traditionelle Vorstellungen weit hinter sich ließ und Zukünftiges vorwegnahm.

Um die Heterotopien als reale Praxis mit all ihren Widersprüchen zum Ausgangspunkt einer Diskussion über die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft zu machen, muss man aber noch viel mehr über diese Orte wissen, die heute oft genug einfach nicht ernstgenommen werden. Lieber befasst man sich mit der Literatur von Personen mit Migrationshintergrund - also ihrem Beitrag zu einer traditionellen bürgerlichen Verkehrsform. Bei der Veranstaltungsreihe hatte ich darauf gebaut, mit der Vorgabe des Konzeptes der Heterotopie ein Gespräch anzuregen, das zu diesem Wissen beitragen kann. Abschließend denke ich jedoch nicht, dass das gelungen ist. Ein Grund scheint mir zu sein, dass der politische Druck von außen in Deutschland und in Österreich weiterhin so groß ist, dass man nicht so recht dazu kommt, die anderen Räume auszuloten. Man ist so sehr damit beschäftigt, die nächste inkompetente, weltfremde und hysterische Debatte über Kopftücher, "Parallelgesellschaften", "Visa-Affären", "Ehrenmorde" etc. abzuwehren, dass es im öffentlichen Rahmen einer solchen Veranstaltungsreihe sehr schwierig ist, sowohl die aktuelle Praxis zu analysieren als auch in die Zukunft hinein zu denken. Aber möglicherweise war das Zustandekommen der Reihe selbst schon durchaus ein Erfolg - schließlich unterhielten sich auf den Podien ganz bewusst nur Minderheitenangehörige und somit waren die Gespräche eine Art öffentliches "Unter-sich-sein" in bewusster Abgrenzung zu einem Diskurs, der Minderheitenangehörige gerne von Diskussionen über "Integration" ausschließt, weil ihnen bei diesem Thema mangelnde Objektivität unterstellt wird. Insofern sollte die Veranstaltung zu einer parteilichen Subjektivierung beitragen und war möglicherweise, wie Paul Mecheril bei der ersten Runde bemerkte, selbst schon eine Form der Heterotopie.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Raum greifen", Winter 2005/2006.