Wege und Irrwege linker Politik

Sechs Thesen zur Zukunft der neuen Linkspartei.

"Die Linke", als Zusammenschluss von LPDS und WASG will und wird sich bis Juni 2007 als Partei konstituieren. Ein Neuanfang in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik soll gemacht werden. Von einer allgemeinen politischen Aufbruchsstimmung in diesem Zusammenhang ist allerdings wenig zu spüren.

Ernste Differenzen gibt es um das Profil dieser Partei und um ihre Glaubwürdigkeit. Nichts spricht dafür, dass diese Differenzen mit dem Gründungsparteitag ausgeräumt sind. Auch die Glaubwürdigkeitsfrage wird bleiben. Die folgenden Thesen verstehen sich als Plädoyer für eine ernsthafte Debatte, die nicht mit dem Gründungsparteitag enden wird.

1
Es geht um eine Verständigung über den Charakter einer linken Partei als Interessenvertreterin der abhängig arbeitenden Klasse.

Sowohl-als-auch-Parteien gibt es in der Bundesrepublik genug. Es fehlt eine linke Partei, die ohne Wenn und Aber die Interessen der abhängig Arbeitenden und Arbeitslosen vertritt.
Eine linke Partei muss sich auf die Seite der abhängig arbeitenden Klasse und der sozial Ausgegrenzten stellen, deren soziale und politische Rechte in einem zunehmend entfesselten Kapitalismus sukzessive weggeräumt werden. Das ist zugleich ihre machtpolitische Grundlage. In dem Maße, wie sie diese Interessen konsequent vertritt und dabei auch die Betroffenen mobilisiert, selbst für ihre Interessen zu kämpfen, wächst ihr politischer Einfluss als Einfluss nicht nur einer Parlamentspartei, sondern einer gesellschaftlichen Kraft. Wenn sie das unterlässt, ist ihr Niedergang vorprogrammiert.

2
Eine Partei der Linken bedarf eines realistischen Grundverständnisses des Wesens und der Möglichkeiten von Politik in der kapitalistischen Gesellschaft.

Nicht die Politik bestimmt im Kapitalismus die Grundlinien der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft, vor allem der Modus der Kapitalakkumulation. Parteien nehmen punktuell und in mehr oder weniger engen Grenzen Einfluss auf die Staatspolitik.

Ein Grundfehler der meisten Politiker der sich neu formierenden Linken ist ein verkürztes Politikverständnis und zum Teil auch eine offensichtliche Überschätzung der Möglichkeiten von Regierungspolitik. Sie folgen als Oppositionspolitiker zumeist dem üblichen Schema des vorherrschenden politischen Denkens. Für gesellschaftliche Fehlentwicklungen wie Massenarbeitslosigkeit, allgemeine soziale Verunsicherung und Massenarmut werden die regierenden Politiker und Parteien verantwortlich gemacht. Dies führt dazu, dass "der Kapitalismus" nie selbst auf der Anklagebank sitzt. Es wird über politische Versäumnisse und politische Fehler diskutiert, wo man eigentlich über die Überlebtheit eines Gesellschaftssystems sprechen müsste, dessen Existenzweise fortschreitende Ungleichheit, soziale Verunsicherung, Arbeitslosigkeit und immer neue Kriege sind.

Staatspolitik ist weder eine autonome Sphäre noch eine Willensfrage. Parteien beeinflussen Staatspolitik. Sie machen sie nicht. Die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamiert und protokolliert nur "das Wollen der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Karl Marx). Gerade heute beinhaltet Staatspolitik in besonders krasser Weise eine Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals, die Verabschiedung von Regularien, um die Profitrate zu erhöhen, um ein ungehemmtes Wirken des Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation herbeizuführen. Wer entgegen diesem "Wollen" als Regierungspolitiker Politik macht, dem wird alsbald das Ende der Fahnenstange gezeigt: mittels Interventionen der Unternehmerverbände und Konzernmanager, über Medienkampagnen und gegebenenfalls auch mittels Kapitalflucht.

Natürlich ist der Staat und die von ihm betriebene Politik auch eine Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft, ein Klassenkräfteverhältnis und ein Feld der Klassenauseinandersetzung. Aber das ist in sichtlicher Weise nur dann der Fall, wenn die abhängig arbeitende Klasse selbst unübersehbar die politische Bühne betritt.

3
Um als linke Partei die Gesellschaft verändern zu können, muss diese Partei zunächst einmal ein reales Bild der Gesellschaft und ihres Entwicklungsgangs haben.

Eine richtige Analyse der heutigen kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland und in der Welt sowie des nationalen und internationalen Klassenkräfteverhältnisses ist unabdingbare Voraussetzung einer tauglichen linken Politik.

Eine Partei, die die Welt schönredet und die harten Realitäten des heutigen Kapitalismus verkennt bzw. nur selektiv zur Kenntnis nimmt oder glaubt, die Formulierung allgemeiner Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität sei identisch mit einer Handlungsorientierung für linke Politik, wird unweigerlich scheitern.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismusversuchs als globaler Alternative zum Kapitalismus am Anfang des letzten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts ist die Welt wieder zurückgekehrt zu den kapitalistischen Verhältnissen am Anfang dieses Jahrhunderts, allerdings einer Welt des Übergangs von der Fließbandfertigung des Fordismus zum "Hightechkapitalismus" (W.F.Haug) unter Bedingungen einer anderen internationalen Kräftekonstellation und ungleich gefährlicheren Massenvernichtungswaffen, mit erheblichen Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals, mit tiefen sozialen Umwälzungen, mit einer außerordentlichen Schwäche der Kräfte des Klassenwiderstands zumindest in Europa und Nordamerika.

Wir haben es zu tun mit einer anhaltenden Kapitaloffensive auf der Grundlage einer stabilen Herrschaftskonstellation zugunsten des Kapitals im Innern wie in den internationalen Beziehungen. Diese Offensive geschieht im Rahmen der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie, aber sie unterminiert zugleich diese Demokratie. Die abhängig arbeitende Klasse ist nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz konfrontiert mit einer deutlichen Verschärfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, mit einer Entfesselung der dem Kapitalismus immanenten Gesetzmäßigkeiten. Angesichts schwacher Gewerkschaften, einer Zersplitterung der Linkskräfte, eines weitgehend fehlenden Medieneinflusses der Linken und eines nur noch in Rudimenten vorhandenen Klassenbewusstseins ist sie politisch weitgehend einflusslos und in der Defensive.

4
Der Erfolg einer linken Partei steht und fällt innenpolitisch mit ihrer Fähigkeit, den Sozialstaat zu verteidigen.

Wer eine strategische Wende, einen grundlegenden Politikwechsel erreichen will, muss erst einmal seine politischen Hausaufgaben im aktuellen Kampf gegen Neoliberalismus, also gegen Privatisierung, Sozialabbau und Massenentlassungen machen. Wer dies nicht oder unzureichend tut, der wird auch keine strategische Wende herbeiführen.

Linke Politik ist heute und auf absehbare Zeit maßgeblich Verteidigungskampf gegen die neoliberale Kapitaloffensive. Der in den 50er bis 70er Jahren erreichte Klassenkompromiss des Sozialstaats war das Resultat von zwei Faktoren: zum einen der mit Massenproduktion, einer prosperierenden Wirtschaft und einer Erhöhung der Massenkaufkraft verbundenen fordistischen Produktionsweise und zum anderen einer historisch außergewöhnlichen Stärke der Gegenkräfte, besonders international. Die fordistische Produktionsweise ist in der Krise. Der Ausbruch eines beachtlichen Teils der Menschheit aus dem kapitalistischen Weltsystem ist vorläufig beendet.

Der antineoliberale Grundkonsens muss das identitätsstiftende Markenzeichen einer neuen Linken sein. Dieses Markenzeichen darf aber keineswegs als Aufruf zur politischen Konturenlosigkeit missverstanden werden. Ein solches Bündnis wird nur Erfolg haben, wenn es einher geht mit einer radikalen Kritik der gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Verhältnisse, mit der Revitalisierung von Klassenkampfbewusstsein und Klassenhandeln der abhängig Arbeitenden sowie der sozial Ausgegrenzten und - keineswegs zuletzt - mit einer Europäisierung und Internationalisierung des Widerstands von unten.

5
Eine linke parlamentarisch wirksame Partei, die es nicht zu verhindern vermag, dass die Interessen ihrer Funktionsträger sukzessive ihre Politik bestimmen, wird unweigerlich ihre Funktion als Interessenvertreterin der abhängig Arbeitenden verlieren.

Eine linke erfolgreiche Partei trifft in der Bundesrepublik auf ein parlamentarisches System mit einer enormen Integrationskraft. Von ihrer Struktur und Funktion her ist jede Parlamentspartei weitaus mehr eine Institution der Vertreterdemokratie und des Vorfelds staatlicher Macht denn eine gesellschaftliche Basisorganisation. Wenn die demokratische Kontrolle von unten ausbleibt, gilt: Je größer ihre wahlpolitischen Erfolge sind, desto größer wird die soziale Schicht, die von der Partei lebt und dabei ihre eigenen Interessen entwickelt. Je mehr sich diese Interessen verfestigen, desto schwächer wird der Einfluss der Basis. Die Interessen ihrer Führungsgruppe koppeln sich sukzessive mit den Interessen der ökonomisch Herrschenden.

Die LPDS hat vor allem in den ostdeutschen Ländern ein erhebliches Stück dieses Weges bereits zurückgelegt. Ihre Parteitage werden von den politischen Funktionsträgern und deren Mitarbeitern beherrscht. Ihre Programmatik ist bereits Mitte der 90er Jahre von der richtigen Losung "Veränderung beginnt mit Opposition" abgerückt. Im Jahre 2002 wurde sie Regierungspartei in Berlin, unterschrieb einen Koalitionsvertrag mit einem Bekenntnis zur "westlichen Wertegemeinschaft" und zur NATO, bewies auch in Regierungsverantwortung "unter schwierigen Bedingungen Politikfähigkeit" (Chemnitzer Programm vom Oktober 2003), verhielt sich in der Regierung hinsichtlich der neoliberalen Kapitaloffensive kaum anders als die mit ihr regierende SPD. Bereits im Bundestagswahlkampf 2002 strebte sie nach Regierungsnähe auf Bundesebene.

Das besonders seit dem Jahre 2004 merkliche, aber immer noch bescheidene und vage Streben eines Teils der abhängig arbeitenden Klasse nach politischer Eigenständigkeit trifft auf eine sich formierende Linkspartei, die einerseits eine Chance darstellt, dieses Streben weiterzuentwickeln und in den politischen Auseinandersetzungen zur Geltung zu bringen, aber andererseits in einem nicht unerheblichen Maße bereits zu einer Partei mit einem Gebrauchswert für das Kapital geworden ist. Die antikapitalistischen Kräfte kommen nicht umhin, diesen Widerspruch deutlich zu machen. Auftretende Konflikte, wie in Berlin, müssen sie austragen. Solange es Sinn macht, ist die demnächst sich konstituierende Partei "Die Linke" als Operationsbasis für eine konsequente Politik gegen Neoliberalismus, Kriegsführungspolitik und Kapitaloffensive zu stärken.

6
In der Auseinandersetzung um ein tragfähiges Politikkonzept der Linken stehen sich zwei politische Konzepte gegenüber: das Konzept konsequenter Opposition und des Ausbau von Gegenmacht einerseits und das Konzept des "strategischen Dreiecks" andererseits.

Das in den Eckpunkten für "Die Linke" enthaltene Politikkonzept stellt sich als Konzept der Abwehr der neoliberalen Konterreformen dar, zugleich aber auch als Konzept politischer Gestaltung jetzt und heute. Es setzt auf ein "strategisches Dreieck". Außerparlamentarischer und gewerkschaftlicher Widerstand und über den Kapitalismus hinausweisende Reformalternativen einerseits und Regierungsbeteiligung anderseits werden als Einheit deklariert. Die Herbeiführung einer politischen Wende wird zur strategischen Aufgabe erklärt. Wenn es "die Veränderung der Kräfteverhältnisse nach links und die Einleitung eines Politikwechsels" fördere, wird Regierungsbeteiligung befürwortet.

Der Begriff der politischen Wende dagegen wird seitenlang untersetzt durch ausführliche Reformalternativen. Damit wird suggeriert, es gehe um demnächst machbare, Zug um Zug realisierbare politische Angebote an potenziell vorhandene Koalitionspartner.

An diesem Punkt, dem Einbau der Regierungsbeteiligung, verliert das Konzept des "strategischen Dreiecks" seine Tauglichkeit und Glaubwürdigkeit. Auch die "harten" Kriterien einer Zulässigkeit von Regierungsbeteiligungen in der LPDS durch das Chemnitzer Programm (die Übereinstimmung der "Arbeit in der Exekutive mit ihren strategischen Zielen") hat in der Regierungspraxis nicht die Teilhabe an der neoliberalen Politik verhindert. Wenn es zur Regierungsbeteiligung kommt, so lautet die politische Erfahrung, treten die beiden anderen Punkte des "strategischen Dreiecks" (außerparlamentarischer Kampf und Reformalternativen) nicht mehr in Erscheinung. Das nunmehr in den "Eckpunkten" abgegebene Versprechen, Regierungsbeteiligung werde es nur bei "Einleitung eines Politikwechsels" geben, legt, wie gerade in Berlin geschehen, die Definitionsmacht über die Machbarkeit eines Politikwechsels in die Kompetenz der Parteiführung auf Landes- oder Bundesebene.

Heute, da die vereinigte Macht von Kapital und Kabinett sukzessive die Rücknahme des Klassenkompromisses betreibt und die Möglichkeit sozialer Verbesserungen gegen Null tendiert, gibt es aber nur einen erfolgreichen Weg der Einflussnahme auf die Politik: die abhängig arbeitende Klasse als eigenständige politisch-organisatorische und geistig-kulturelle Gegenmacht gegen das politische System der neoliberalen Kapitalherrschaft zu entwickeln und in Stellung zu bringen.