Linke in Lateinamerika

Editorial

Politische BeobachterInnen gleich welcher Couleur sind sich einig: Seit einigen Jahren geht ein Linksruck durch Lateinamerika. Nach dem Fall der Militärdiktaturen und der Welle der Re-Demokratisierung in den 1990er Jahren sei das "der aktuelle Großtrend in Lateinamerika" (Tagesspiegel). Inzwischen gelten zwei Drittel der lateinamerikanischen Länder als mehr oder minder links regiert. Und es werden immer mehr. Im Laufe des Jahres 2006 könnten sogar in konservativen Hochburgen wie Peru und Mexiko Präsidenten gewählt werden, die zumindest im Vergleich zu ihren Konkurrenten irgendwie "links" sind. Schon blicken viele Linke in Europa oder Asien sehnsuchtsvoll nach Lateinamerika und wollen die dortigen Entwicklungen am liebsten internationalisieren.

Manche Kommentatoren haben gar ein neues Zeitalter ausgerufen: Den "Postneoliberalismus". Tatsächlich ist der bis dato vorherrschende Neoliberalismus, der in Ländern wie Chile früher und konsequenter als anderswo durchgesetzt wurde, in fast ganz Lateinamerika in Verruf geraten. Freihandels- und Privatisierungsdogmen, IWF-Diktate und US-Dominanz stoßen auf Ablehnung, denn die damit verbundenen Wirtschafts- und Währungskrisen haben große Teile der Bevölkerungen hart getroffen. Kein Wunder, dass sie bei den meisten Wahlen die neoliberalen Kandidaten abstraften.
Das neue Lied bleibt auch bei der Weltbank nicht ungehört. Sie hat in einem aktuellen Bericht eingeräumt, dass die "Armut das Wachstum behindert". Deshalb fordert Guillermo Perry, Chef-Ökonom der Weltbank für Lateinamerika, eine "breit angelegte Attacke gegen die Armut". Er empfiehlt eine neokeynesianisch gefärbte Kurskorrektur: Der Staat solle künftig in Bildung und Infrastruktur investieren und Armen Zugang zu Krediten ermöglichen, begleitet von einer effektiven Sozialpolitik. Perry: "Armutsbekämpfung ist nicht nur gut für die Armen, sondern auch für das Geschäft und die ganze Gesellschaft." Das klingt beinahe, als habe die Weltbank bei Brasiliens Präsident Lula abgeschrieben.

Oder war es umgekehrt? Linke Kritiker der Linksregierungen in Lateinamerika waren jedenfalls schon nach kurzer Zeit sehr ernüchtert über den ihrer Ansicht nach ausbleibenden radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Ob in Brasilien, Argentinien oder Uruguay - volkswirtschaftliche Stabilität, verlässlicher Schuldendienst und kontinuierliche Freihandelspolitik sind auch bei den linken Regierungen nach wie vor die Grundpfeiler allen politischen Handelns. Die Armen werden mit Almosen und Krediten abgespeist und die aufmüpfige Basis durch Pöstchen und ein bisschen Staatsknete eingebunden, ganz im Sinne von Weltbank & Co. Denn die Partizipation armer Bevölkerungsschichten ist nicht inkompatibel mit neoliberalen Maximen, solange sie der Wirtschaft dient und den Staat entlastet.

Doch auch jene Staatschefs, die sich als unbeugsame Gegner des Neoliberalismus inszenieren, sind in der lateinamerikanischen Linken umstritten. Der Staatssozialismus eines Fidel Castro gilt ohnehin als Auslaufmodell, und Venezuelas Präsident Hugo Chávez ist vielen nicht geheuer. Zu linksnationalistisch und populistisch trete er auf, argumentieren libertäre Bewegungslinke ebenso wie sozialdemokratische Chávez-Gegner, die die repräsentative Demokratie schätzen gelernt haben. Letztlich sei Chávez ein Militär, der nur deshalb auf dem Ticket eines pan-lateinamerikanischen Antiimperialismus unterwegs sei, weil er daraus momentan den größten politischen Gewinn ziehen könne.

"Die" lateinamerikanische Linke ist also nicht nur höchst heterogen, sondern hinsichtlich vieler Grundfragen teilweise sogar regelrecht gespalten. Das zieht sich in abgemilderter Form auch durch diesen Themenschwerpunkt. Positive Einschätzungen linker Ansätze in Bolivien, Mexiko oder Venezuela treffen auf desillusionierende Bilanzen aus Argentinien, Uruguay und - Venezuela.

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