Als Individuen konnten einzelne ostdeutsche Sozialwissenschaftler durchaus in der neuen Zeit überleben, geachtet von Westkollegen, auch gefragt, aber letztlich nur als Randfiguren.
Wolfgang Küttler spitzte das Schicksal der ostdeutschen Sozialwissenschaftler zu. Als Individuen konnten einzelne von ihnen durchaus in der neuen Zeit überleben, geachtet von Westkollegen, auch gefragt, aber letztlich nur als Randfiguren.
Ihr Nachwuchs, heute selbst im reiferen Wissenschaftleralter, hatte dagegen kaum eine Chance - und sie konnten für ihn ebenso wenig tun wie für ihre einstigen Institute. Das ist bedauerlich für die Betroffenen, aber ein Verlust für die deutsche Wissenschaft. Nicht zuletzt sind dadurch ganze Denktraditionen ausgemerzt worden.
Von diesem kritischen Befund war viel auf der von der Initiative Sozialwissenschaftler Ost (ISO) organisierten Konferenz zu hören.1
Am 30. November 2002 versammelten sich im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) knapp vier Dutzend Sozialwissenschaftler, vornehmlich aus den neuen Bundesländern, zu einer Konferenz über die Ausgrenzung der ostdeutschen Intellektuellen und mögliche Chancen ihrer Reintegration in die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft. Die Betroffenen treibt diese Ausgrenzung bis heute um. Stefan Bollinger mahnte: "Ohne Intellektuelle, die mit den Bürgern der neuen Bundesländer Erfahrungen gemein haben, die Westdeutsche so nicht machen konnten, wird die politische Kultur beider Deutschländer eher weiter auseinanderdriften denn zusammenwachsen. " Aber weder bei den meisten westdeutschen Kollegen noch bei der Wissenschaftsbürokratie stößt dieses Problem derzeit auf offene Ohren. Hatten die Veranstalter noch im Frühjahr 2002 aufmunternde Worte aus dem Umfeld des Bundestagspräsidenten und freundliches Interesse aus dem Bundesbildungsministerium und einigen ostdeutschen Landesministerien erhalten, so hat sich der Wind nach den Bundestagswahlen wieder gedreht. Augenscheinlich sind die ostdeutschen Wissenschaftler keine Wählergröße, auf die besonders Rücksicht genommen werden muß. Der prominenteste westdeutsche Teilnehmer, der Präsident des WZB, Jürgen Kocka, einst verantwortliches Mitglied des Wissenschaftsrates, erinnerte, daß es auf der Grundlage der Empfehlungen an Bund und Länder ein Programm der Überführung und Integration ostdeutscher Sozialwissenschaftler in das gesamtdeutsche Wissenschaftssystem gegeben hat. Seine heutige Einschätzung fällt zwiespältig aus: Diese Vorschläge hätten teilweise funktioniert, aber teilweise seien sie auch erheblich hinter den gesteckten Zielen zurückgeblieben. Teile des Programms, so das Wissenschaftlerintegrationsprogramm (WIP), seien weitgehend gescheitert. Das sei vor allem ein individuelles Problem vieler Betroffener, das durch unterschiedliche und kontroverse Gründe zu erklären sei. Da wurde die Vereinigung allein durch Ausdehnung des westdeutschen Modells auf die DDR vollzogen, die ostdeutschen Wissenschaftler mußten auf einem Markt konkurrieren, auf den sie schlecht vorbereitet waren. Dieser Markt selbst sei aber ohnehin im Umbruch und in einem Schrumpfungsprozeß. Immerhin gab es einige Ausnahmen, insbesondere das von Kocka mit verantwortete Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam, in dem eine Integration stattgefunden habe. Bezüglich künftiger Handlungsmöglichkeiten überwog Skepsis. Neue Stipendien und Programme werde es kaum geben. Letztlich gehe es um individuelle Lösungen. Vor allem seien die positiven Errungenschaften wie die geisteswissenschaftlichen Zentren zu verteidigen. Schließlich sollten Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten unter Ausnutzung der ostdeutschen Potentiale ausgebaut werden.
Theodor Bergmann und Jörg Roesler stellten die Verwerfungen im deutschen Einigungsprozeß in einen historischen Kontext. Während Roesler insbesondere am Beispiel Elsaß-Lothringens nach 1871 auf die ungute deutsche Tradition des Anschlusses mit ihrer gegen die einheimischen Intellektuellen gerichteten feindlichen Politik verwies, brachte Bergmann seine Erfahrungen als Emigrant und politisch wie rassistisch Verfolgter ein.2 Er machte eine schonungslose Rechnung über die Art und Weise der vorgeblichen Entnazifizierung des westdeutschen Hochschulsystems auf, in dem die meisten "alten Nazis" einen Neuanfang fanden. Mit Blick auf die deutsche Einheit kritisierte er, daß nun der Marxismus außerhalb aller Wissenschaft gestellt wurde, was mindestens der Einseitigkeit der DDR entspricht. Und in bezug auf die nun triumphierende Totalitarismustheorie zog er den Schluß, daß diese nicht allein die beiden Diktaturen gleichsetze, sondern die ostdeutschen Intellektuellen offenbar schlechter behandele als einst die Nationalsozialisten. Das bestätigten in der Diskussion auch die Betroffenen.3 Hubert Laitko sprach von "Sozialdarwinismus pur". Wenn die ISO eine Gruppe von ca. 200 Wissenschaftlern integrieren will, ein Zehntel des einstigen WIP, und dafür konkrete Vorschläge unterbreitet, dann wäre dies eine sehr überschaubare Aufgabe, die pro Bundesland 15 Personen betreffen würde und insofern faßbar bliebe.
Die anwesenden ostdeutschen Politiker, allesamt von der PDS, sahen nur begrenzte Möglichkeiten der Unterstützung. Der sächsische Landtagsabgeordnete Werner Bramke erinnerte, daß Wissenschaftspolitik Ländersache sei, dieses Problem aber nur mit einer Bundesinitiative zu lösen wäre, denn es trifft mehrere Bundesländer und sei eine gesamtstaatliche Herausforderung. Hier könnte er sich durchaus ein fraktionsübergreifendes Vorgehen vorstellen. Um etwas zu bewegen, müßten die Wissenschaftsgremien in die Pflicht genommen werden, nicht zuletzt der Wissenschaftsrat.
Es bedürfe konkreter Studien zur Situation der ostdeutschen Sozialwissenschaftler, die in die Öffentlichkeit gebraucht werden müssen. Nicht zuletzt gehe es um die Zukunft der Universitäten, die in den gegenwärtigen Diskussionen geschwächt werden sollen. Mit geeigneten An-Instituten könnte hier etwas bewegt werden.
Nicht zu vergessen sei auch, daß die ostdeutschen Nachwuchswissenschaftler keine Lobby haben. Eine Schlüsselfrage bleibe, daß viele ostdeutsche Wissenschaftler zu passiv, auf die eigene Arbeit konzentriert sind und sich zu wenig - auch in eigener Sache - zu Wort melden.
Berlins Wissenschafts-Staatssekretär Peer Pasternack (für PDS), selbst ausgewiesener Forscher zu Hochschulentwicklung und -transformation, betonte, daß es nichts bringe, alte Versprechungen ernst zu nehmen. Der Wissenschaftsrat habe nur Empfehlungen ausgesprochen und die politischen Akteure mußten damit umgehen. Die Erwartungen an den rot-roten Senat in Berlin sind verständlich, aber die Haushaltskrise
war Bedingung für die Koalition und nicht umgekehrt. Gegenwärtig könne die Koalition nur versuchen, das Bestehende zu sichern, jedes Mehr an Stellen bedeute den
Verzicht bei anderen. Es gibt Verpflichtungen für jene, die da sind. Um zusätzlich etwas zu tun oder Prioritäten zu ändern, muß dies zwischen den Parteien festgeschrieben werden. Er erinnerte daran, daß 1998 versucht wurde, für das Problem eine Teillösung zu finden, diese aber schließlich durch den sachsen-anhaltischen SPD-Staatssekretär gekippt wurde. Ohne politischen Druck auf und über die beiden Koalitionsparteien wird es auch in Berlin keine Veränderungen geben.
Mehrere Teilnehmer betonten, daß es offensichtlich im bestehenden Wissenschaftssystem selbst kaum Lösungen gibt. Wortführer waren hier bezeichnenderweise Westkollegen, die eine besondere, durchaus kritische, aber kollegiale Affinität für die Ostdeutschen haben. Clemens Burrichter kritisierte die Zielsetzung "Reintegration". Das Selbstverständnis der DDR-Wissenschaftler als Gesellschaftswissenschaftler war deutlich weiter als jenes der westdeutschen Sozialwissenschaftler. "Warum soll man sich in ein fremdes System integrieren?" Doris Elgers forderte eine alternative Freie Universität Potsdam. Fritz Vilmar wandte sich ebenfalls gegen eine "falsche Unterordnung" der ostdeutschen Wissenschaftler. "Dies war nach 1989 für viele Sozialwissenschaftler ein Hauptirrtum." Dagegen werde ein Blick auf moderne Konzepte in der DDR für ein zukunftsfähiges Deutschland gebraucht. Das betreffe sowohl das Einbringen spezifischer DDR-Wissenschaftserfahrungen als auch die differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR und jenen Bereichen, die auch für die Gegenwart zu nutzen wären - vom Schulwesen (Polytechnik) über das Gesundheitssystem (Polikliniken) bis zu den Agrargenossenschaften. Lothar Ebener wies am Beispiel eines von ihm initiierten Instituts für Toleranz auf Möglichkeiten von ostdeutschen Wissenschaftlern, hier der Leibniz-Societät, aber auch ostdeutscher Unternehmer, hin, etwas zu bewegen.
Die Konferenz brachte viele Anregungen, die eigentlich auf den Tisch der Politiker und Verwaltungen gehörten. Dafür aber stehen die Chancen nicht gut. Es wird wohl bei der Selbsthilfe und dem Überlebenswillen der ostdeutschen Intellektuellen bleiben.4
Stefan Bollinger - Jg. 1954; Dr. sc. phil., Politikwissenschaftler; Lehrbeauftragter an der FU Berlin, engagiert in ostdeutschen Wissenschaftszusammenhängen; hauptberuflich Dozent in der Erwachsenenbildung. Wichtige Publikationen: Konflikte, Krisen und politische Stabilität in der DDR (1996); 1989 - eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR? (1999); Hrsg. (mit Fritz Vilmar): Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozial-strukturellen Einrichtungen (2002) und Hrsg. (mit Ulrich van der Heyden) Deutsche Einheit und Elitenwechsel in Ostdeutschland (2002). Zuletzt in UTOPIE kreativ: PDS-Programmatik und das Schlüsseljahr 1989, Heft 141/142 (Juli/August 2002) e-mail: StefanBollinger@compuserve.com
1 Siehe Bollinger, Stefan/Heyden, Ulrich van der/Kessler, Mario: Verlierer der Einheit. Die Geisteswissenschaften aus der DDR, in: hochschule ost, Leipzig, H. 3-4/2000, S. 195-203.
2 Mit anderen Emigranten hat er jüngst zur Unterstützung der ostdeutschen Kollegen aufgerufen. Siehe: Wir, die Unterzeichner, mit der deutschen Kultur und Wissenschaft verbundene Forscher und Universitätslehrer ..., in: Frankfurter Rundschau vom 11. September 2001, S. 4 (Anzeige)
3 Mehrfach wurde darauf hingewiesen, daß namentlich für die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften der DDR nach positiver Evaluierung für einzelne Wissenschaftler und Forschungsschwerpunkte klare Zusagen des Senats existierten, die letztlich nicht eingehalten wurden.
4 Die Initiative Sozialwissenschaftler Ost wird über die weiteren Schritte sowohl zur Herstellung von Öffentlichkeit wie zur Zusammenführung der Betroffenen entscheiden müssen. Ohne immer wieder die Finger auf eine offene Wunde deutschdeutscher Entwicklung zu legen, wird es auch künftig nicht gehen.
in: UTOPIE kreativ, H. 148 (Februar 2003), S. 172-174