Westorientierung versus Islam?

Die Türkei zwischen Westeinbindung, Islamismus und eigener Identität

Nicht nur BeobachterInnen der EU-Politik oder der Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Irak stellen sich in jüngerer Zeit immer wieder die Frage, ob die Türkei politisch und gesellschaftlich eher

... eher dem Orient oder dem Westen zuzuordnen ist. Die Positionierung zwischen Osten und Westen ist auch die entscheidende Frage in der innergesellschaftlichen Diskussion um den zukünftigen Weg der Türkei, um die politische Entwicklung wie kulturelle Identität der Gesellschaft. Hilal Onur beschreibt die historische Vorgeschichte dieses Zwiespaltes und arbeitet die wichtigsten politischen und religiösen Strömungen in der heutigen türkischen Gesellschaft heraus.
Neben der kontroversen Diskussion über Säkularismus und Islamismus ist die Frage nach der geistigen Orientierung der Gesellschaft und der politischen Ordnung in Richtung Ost oder West eine Herausforderung, die die türkische Gesellschaft bis heute beschäftigt. Die Verwestlichungsidee entwickelte sich parallel zur fundamentalen kulturellen Wandlung am Ende des 19. Jahrhunderts und wurde mit der türkischen Republik weiter strukturiert und fortgesetzt. Heute befindet sich die Türkei in einer Diskussion, wie die Intention der Verwestlichung verstanden werden sollte - institutionelle Verwestlichung in staatlichen Teilgebieten oder westliche Orientierung der gesamten Gesellschaft auf dem dornigen Wege zu EU.
Westliches Diktat
Nach der Gründung der Republik im Jahre 1923 wurde die Verwestlichung als eine ideologische Zielsetzung des jungen türkischen Staates zu einem Primat der Politik. Dieses Primat war in den Augen der Kemalisten ein notwendiger Schritt zur Modernisierung aller Werte und Normen sowie der Produktionsweisen der als rückständig begriffenen Gesellschaft, deren soziale Beziehungen vom Islam bestimmt waren. Wurde nach Ahmet Insel im 19. Jahrhundert "die Verwestlichung als ein Mittel der Opposition gegen den Stillstand der osmanischen Staatsordnung" eingesetzt, spricht er in seiner Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage von einer "neuen Phase", in der der autoritäre Staat mit seiner einheitlichen kemalistischen Ideologie "die Verwestlichung der Gesellschaft diktiert".
Traditionalität oder Modernisierung - diese Kontroverse sucht auch heute noch nach einer Antwort. Die Positionierung weiter Teile der Gesellschaft zur Förderung der Modernisierung, die auch von den herrschenden Schichten mitgetragen wird, ist zu befürworten. Zweifelhaft ist aber die Rolle der Intellektuellen bei der Umsetzung, die darin bestand, mit Hilfe staatlicher Instanzen der im Traditonellen verhafteten Gesellschaft westliche Wertvorstellungen aufzuoktroyieren. Damit wurde die Gesellschaft auch der eigenen Geschichte beraubt, es sollte eine neue, "unbefleckte Generation" erzogen werden. Dieses Diktieren neuer, der eigenen Lebensweise fremder Werte, drängte einen Teil der Gesellschaft zur Konservierung alter Weltvorstellungen. Im eigenen traditionell befehlsorientierten und passiven Status verhaftet, verwandelten die Intellektuellen den Diskurs über die Verwestlichung in eine dogmatische Ideologie. In ihrem Abhängigkeitsverhältnis von der staatlichen Autorität und der totalitären Ideologie des Kemalismus haben die Intellektuellen den Grundstock gelegt für den auch heute noch unvollendeten Verwestlichungsprozess und die divergierenden kulturellen und politischen Ortsbestimmungen der Türkei sowie für die zunehmende Diskrepanz in der Gesellschaft zwischen Traditionalität und Moderne. Der Staat zog sich eigene, westlich geprägte Eliten heran, "Ankara wurde zum intellektuellen Zentrum der westlichen Erziehung."
Die staatlich diktierte Modernisierung ist eng mit der Integration der Türkei in das kapitalistische System verbunden. Nach Ansicht der kemalistischen ReformistInnen und Intellektuellen konnte diese Integration nur dann erfolgreich vorangetrieben werden, wenn primär das Alltagsleben der traditionell ausgerichteten Gesellschaft im Sinne der kapitalistischen Lebensformen transformiert wurde. Aber Reformbewegungen hinsichtlich der Verwestlichung des Alltagslebens erhielten teilweise karikaturistische Konturen. Mit Hilfe von symbolischen Mitteln versuchten die Intellektuellen, eine Akzeptanz der neuen Kultur in der Gesellschaft herzustellen. Ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise ist die "Hutreform": Im Jahre 1924 wurde der Fes - die traditionelle Kopfbedeckung im Osmanischen Reich - von der kemalistischen Regierung unter Mustafa Kemal Atatürk verboten und per Gesetz das Tragen des Filzhutes verordnet. Die von der neuen Kopfbedeckung vorangetriebene Veränderung des Alltagsbildes sollte die formale und zügige Angliederung der türkischen Bourgeoisie und der Gesamtgesellschaft an den als Verwestlichung gepriesenen Weltmarkt symbolisieren. Wurde mit dem Westen - im Sinne westlicher Ideologien - mit Fortschritt und Zivilisation assoziiert, so wurden östliche Werte als Beharrung und gesellschaftlicher Stillstand interpretiert.
Strukturelle Divergenzen
Die latent vorhandene Gegenwehr der TraditionalistInnen gegenüber Verwestlichungstendenzen wurde erst im Jahre 1947 mit dem Wahlerfolg einer traditionell konservativen Partei wieder Gegenstand der Diskussion. Fortschrittliche Intellektuelle hatten jedoch von Anfang an auf den autoritaristischen Charakter der Republik aufmerksam gemacht, wie der Dichter Orhan Veli: ´"In einem wahrhaft demokratischen Land kann das Gebet nicht per Gesetz verordnet werden. Aber wir sind auch nicht ein aufrecht demokratisches Land. Wir sind ein Land, das sich in der Revolution befindet. Daher haben wir vieles mit Gesetzen vorgeschrieben. War die Schrift in anderen Ländern eine historische und akademische Tätigkeit, wurde sie in unserem Land per Gesetz bestimmt. Gehört die Bekleidung in anderen Ländern nur in den ethischen, traditionellen Bereich, so wurde sie in unserem Land vom Gesetz geregelt. Wurde in anderen Ländern die Demokratie mit dem Blut geschaffen, wurde sie bei uns per Gesetz eingeführt." Die gesetzlich verordnete Modernisierung löste eine duale kulturelle Phase und eine zwiespältige politische Identität aus: In staatlichen Bereichen wurde den Gesetzen entsprechend gehandelt, in außerstaatlichen gesellschaftlichen Bereichen jedoch wurden Nischen geschaffen, in denen alte Traditionen gepflegt und weiter entwickelt wurden. Im Zentrum dieses Zwiespalts und der Entfremdung empfand die Gesellschaft die Intellektuellen zumeist als integrative Organe des Staatsapparats und so wurden sie als Feinde der Religion, der Gesellschaft und der Geschichte begriffen. Dieses Verständnis musste schließlich zum Stillstand der kemalistischen Modernisierungsstrategie führen, die das religiöse Moment und die vielfältigen Ethnien sowie die bis dahin vorhandene multikulturelle Basis aus den politischen Bereichen auszugrenzen versuchte. Die Schwäche der offiziellen Ideologie ließ in der Verwestlichungsphase die Voraussetzung für neue Formen der gesellschaftlichen Organisation entstehen.
Mit dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahre 1946 wurde die Verwestlichung nunmehr von ökonomisch und ideologisch unterschiedlichen Klassen und Gruppen diskutiert. An die Stelle des korporatistischen Ansatzes zur Förderung der Verwestlichung, der sich innerhalb der bürokratischen Intelligenz im Staatsapparat konzentrierte, kristallisierte sich nun eine Verwestlichungsdefinition jener Klassen heraus, die sich ökonomische Profite erhofften. Dogan Avcioglu begründet die politische Niederlage der staatlich verordneten Verwestlichung insbesondere mit der mangelnden Wiederspiegelung der ökonomischen Reform in der gesellschaftlichen Struktur. Die neuen ökonomischen Strukturen wurden auf nicht reformierte gesellschaftliche Bereiche aufgepfropft.
Als Folge der von der Verfassung von 1961 eingeleiteten relativen Freiheiten hinsichtlich der Meinungs- und Artikulationsvielfalt und als Reaktion auf das Verwestlichungsdogma entstand die Theorie der türkisch-islamischen Synthese. Das zentrale Merkmal dieser Theorie ist die Kritik des Totalitätsanspruchs der Verwestlichung, dem eine duale Theorie entgegensetzt wird, die einerseits die Übernahme westlicher Normen und Werte in den Bereichen der Technologie und Verwaltung befürwortet und andererseits gleichzeitig die Wahrung der traditionellen Werte der Gesellschaft fordert. Als wichtigste Strömung ist hier die Gruppe der Nationalkonservativen zu nennen, deren Hauptansatz das Primat des Islamismus und des türkischen Nationalismus ist. "Die Religion war eine Institution, die der Gesellschaft ihre Identität verlieh, aufgrund ihres göttlichen Ursprungs konnte es im Islam keine Reform geben. Darüber hinaus haben die Türken ihre nationale Identität bewahren können, da sie Moslems sind." Diese islamistisch geprägte konservativ-nationalistische Ideologie beansprucht, eine Alternative zu der kemalistischen Ideologie zu sein. Der Kemalismus könne den gesellschaftlichen Konsens nicht garantieren und folglich nicht mehr den ideologischen Rahmen für den Zusammenhalt gesellschaftlicher Gruppen und Klassen bilden.
Gemeinsamkeit Etatismus
Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 gehörten die Nationalkonservativen zu den wenigen Organisationen, die von Repressionen verschont blieben und ihre Theorie weiterentwickeln konnten. Das ist hinsichtlich der Ziele der Militärs nicht verwunderlich, sollte doch die Theorie der türkisch-islamischen Synthese die ideologische Grundlage ihrer politischen Macht darstellen. Die VertreterInnen der türkisch-islamischen Synthese gehen von einer Vereinbarkeit der religiösen Struktur der türkischen Gesellschaft mit den westlichen Werten aus. Nur diese Einheit könne die Verwestlichung erfolgreich zum Abschluß bringen. "Zum Erreichen des modernen Zivilisationsstandes genügt die Übernahme der Technik und Zivilisation des Westens. Die westliche Kultur wird unsere Reise auf dem Weg in die Zivilisation höchstens blockieren. Die nationale Kultur kann sich nicht ändern, ihr Charakter bleibt bestehen und wird bereichert."
Trotz der vehementen Kritik der Nationalkonservativen am Kemalismus besteht eine zentrale Gemeinsamkeit in einem Gesellschaftsmodell, das die Sicherung des Staatsapparates in das Zentrum stellt. Das wesentliche Kennzeichen beider Richtungen ist die charakteristische Priorität des Staates. Plädiert der Kemalismus für das Primat des Säkularismus in der Republik, fordern die Nationalkonservativen das Primat des theokratischen, islamistischen Staates. Auch hier wird die Kontinuität türkischer Intellektueller einmal mehr deutlich: Im Zentrum der ideologischen Tätigkeit der Intellektuellen liegt keineswegs ein freier Gedanken- und Meinungsaustausch, sondern immer wieder die Tabuisierung des Staates, der bestehenden staatlichen Strukturen. Nicht zuletzt diese kontinuierliche Haltung türkischer Intellektueller verhinderte und verhindert das Entstehen einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung. "Die verdorbene nationale Kultur muß, entsprechend dem Plan der nationalen Kultur, durch staatliche Hand repariert und mit staatlicher Gewalt geschützt werden. (...). Denn wichtig und primär ist die Realität von "Nation-Staat"."
Diesem Verständnis entsprechend ist der abstrakte Staat als einzige Instanz dazu berufen, auch entgegen Widerständen und der inneren Dynamik der Gesellschaft, seine eigene Gewalt und Autorität sowie seine neue Ideologie der türkisch-islamischen Synthese durchzusetzen. Die VertreterInnen dieser Gruppe, in der sich insbesondere die islamistischen IdeologInnen organisierten, sehen zur Institutionalisierung ihrer theokratisch ausgerichteten Staatsordnung eine streng hierarchisch organisierte Instanz vor, die sie allein im Staat gewährleistet sehen. Von der Abhängigkeit der kemalistischen Intellektuellen vom Staat und seinen Institutionen können sich daher auch nationalkonservative und islamistische DenkerInnen nicht freisprechen.
Neben dieser Richtung gibt es eine zweite Strömung, die explizit für ein schariatisches, theokratisches System eintritt. Diese sich selbst als "islamistische Intellektuelle" bezeichnende Gruppe hat zur Ausgangsthese ihrer Politik die Behauptung gemacht, dass "linke Intellektuelle" die gesellschaftliche Kultur beherrschten. Diesem Umstand wollen sie ihre Weltanschauung, ein komplexes Weltbild aller religiösen und weltlichen Bereiche, entgegenhalten. Mit dem Angriff auf den "Säkularismus" - ein zentrales Dogma des Kemalismus - versuchen diese TheoretikerInnen, alle mittlerweile gesellschaftlich verankerten Werte und Begriffe zur Disposition zu stellen. Zentrale Angriffspunkte der Kritik sind neben dem Kemalismus die Gesellschaftsanalyse der türkischen Linken, der Marxismus, der Feminismus, die Menschenrechte und die Demokratie in ihrem Gegensatz zur Scharia, zum theokratischen Modell des Islam.
Diese religiöse Weltanschauung, ein vom republikanischen System ausgegrenzter und somit von der Gesellschaft marginalisierter Ansatz, hat heute in der Türkei nicht nur in der politischen Diskussion zunehmende Bedeutung, sondern auch in der Administration. Mit ihren intellektuellen Strukturen treibt sie einerseits die Stabilisierung der islamischen Kultur voran und rekrutiert andererseits Funktionäre für die Staatsführung.
Spielarten des Islamismus
Unter den islamistischen TheoretikerInnen, die über die islamistische Forschung hinaus innerhalb der Gesellschaftswissenschaften Positionen besetzen wollen, gibt es zur Frage der Verwestlichung divergierende Theorien. Während einige Islamisten die Übernahme der westlichen Technologie befürworten, aber westliche Kulturgüter ablehnen, widersetzen sich andere Islamisten strikt dem Westen und westlichen Werten. Nur in der Frage der Kultur sind sich alle islamistischen Strömungen einig: Die türkische Gesellschaft muss auf einer einzigen Kultur basieren, der göttlichen Kultur und ihrem Wertesystem. Die präislamische Kultur der Türkei vor dem Osmanischen Reich wird von den IslamistInnen vollständig verdrängt. Diese Ausgrenzung historischer Tatsachen stellt die IslamistInnen in eine Linie mit den von ihnen kritisierten KemalistInnen. So wie die präislamische Kultur für die Islamisten heute kein Gegenstand des Diskurses ist, sind es die Kemalisten gewesen, die eine 600jährige islamische Kultur der osmanischen Gesellschaft verleugneten und den traditionellen Kulturbegriff der Gesellschaft in der Ära nach der Republik zu revidieren versuchten.
Das Alltagsleben der heutigen Gesellschaft ist aber geprägt durch wesentliche Elemente aller drei historischen Kulturformen aus der präislamischen, osmanischen und republikanischen Epoche. Die diktierte Priorität und Hegemonie einer dieser Kulturerscheinungen ist also immer ein Versuch der Unterdrückung der anderen kulturellen Erscheinungsformen. Die Diskussion um die Verwestlichung ist zunehmend zu einem Bereich geworden, in dem die Gesellschaft der Türkei ihre Identität formuliert. Die Ost-West-Kontroverse umfaßt größere kulturelle Dimensionen. Die "östliche Kultur" der Türkei kann nicht auf die islamische Kultur reduziert werden, da innerhalb dieser Kultur in der türkischen Gesellschaft außer-islamische Komponenten im Vordergrund stehen, wie z.B. der Schamanismus als ursprüngliche Religion der TürkInnen. Im Gegensatz zu den säkularistisch orientierten Intellektuellen operieren islamistische Gruppen in ihren Kulturanalysen mit dem Begriff der "islamischen Kultur", der mit "Kultur" im allgemeinen gleichgesetzt wird. Verwenden die AutorInnen vor dem Begriff Kultur das Adjektiv "westlich", so deuten sie auf die schädlichen Einflüsse der christlich-westliche Kultur hin: "An ihren Füßen Adidas, Nike... T-Shirts, Marlboro im Mund, Coca-Cola in den Flaschen. Jetzt hat auch noch die Fastfood Mode angefangen, McDonalds. Ja, das sind Resultate der Lebensformen, der kulturellen Werte westlicher Zivilisation, die wie ein Regenguß über uns herfallen." Aber nur einige Zeilen weiter relativiert der Islamist Abdurrahman Dilipak diese antiwestliche Haltung: "Natürlich werden wir nicht alles, was aus dem Westen kommt ablehnen. Die Weisheit ist das verlorene Gut des Gläubigen, wo er es findet, nimmt er es auf. Aber natürlich, indem er es im Sinne der religiösen Gebote hinterfragt und alle Faktoren einer fremden Zivilisation aussondert." Nicht alles Westliche ist ihm suspekt. Ein Mercedes beispielsweise fördert die Bequemlichkeit, auch wenn er ein christlich-westliches Produkt ist. Warum keine Nike-Schuhe, wenn ein Islamist damit länger laufen kann? Mit diesem Pragmatismus versucht Dilipak die harten Konturen seiner grundlegend anti-westlichen Ideenwelt zu durchbrechen. Dieser Ansatz kann auch als eine Bemühung hin zur Modernität aus der Prä-Moderne heraus bezeichnet werden.
Im Gegensatz zu Dilipak wirft Ali Bulaç den VertreterInnen der pro-westlichen Kultur eine "östliche" Herangehensweise vor. Bulaç kritisiert die gesellschaftliche und historische Forschung und die Intellektuellen in der Türkei, indem er sie der ausschließlichen und verengten Perspektive der Verwestlichung bezichtigt. "Das primäre Problem der Gesellschaften, die zwanghaft in die Strömung der hegemonialen westlichen Kultur gezwängt werden, ist die Auseinandersetzung zwischen ihr und der von ihr entfremdeten Intellektuellen. So lange diese Auseinandersetzung kein Ende nimmt, werden die Volksmassen, die von den Intellektuellen repräsentierte Kultur weiterhin als "tödlich" empfinden, wohingegen die Intellektuellen (...) die Kultur des Volkes als tot empfinden." Bulaç stellt den Begriff der Kultur in der Frage der Verwestlichung in den Vordergrund und betont, dass gerade die von den pro-westlichen Intellektuellen totgesagte Kultur eine Alternative sei. "In welchem Umfang politische und begriffliche Ungereimtheiten heute auch weiterhin einen Einfluß haben sollten, erscheint der Islam seit den 70er Jahren als eine andere und unabhängige Tatsache auf der Bildfläche, indem er sich jeden Tag aufs neue von der Linken und insbesondere Rechten abhebt und eine unabhängige authentische Entwicklung verfolgt." Die Emanzipation des Islam stelle die Alternative der Gegenwart dar. Er fordert die Rückbesinnung auf den Islam als ein theokratisches System, das er der Verwestlichung in ihrer kapitalitischen Form gegenüberstellt. "Der Islam ist eine Reaktion gegen die international verankerte Ordnung, er ist eine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit, er ist ein alternatives gesellschaftliches Projekt gegen die Modernität, er ist eine andere Form der Transformation der kulturellen und sozialen Institutionen, als eine authentische religiöse Identität ist er aber ganz besonders ein Sich-Orientieren hin auf die Neustrukturierung des menschlichen Lebens." Im Gegensatz zu anderen islamistischen Forschern, die sich kulturell gegen den Westen stellen, aber den technologischen Transfer aus dem Westen befürworten, bedeutet für Ali Bulaç die Verwestlichung eine umfassende Entfremdung, womit er sich in einer Sonderposition auch innerhalb der Islamisten bewegt.
Gibt es Alternativen?
Der Tenor islamistischer TheoretikerInnen, den sie jedoch zu umschreiben versuchen und somit das Verständnis ihrer Texte erschweren, ist die Behauptung, dass eine nach westlicher Kultur ausgerichtete und geformte Gesellschaft eine Gefahr für die "islamische Gemeinschaft" ist. Zur Stabilisierung und Reproduktion der islamischen Kultur wird daher die grundlegende Abschaffung aller westlichen Tendenzen gefordert. Diesem islamistischen Ansatz widersetzen sich in ihren theoretischen Auseinandersetzungen die republikanisch orientierten Intellektuellen. Die Reproduktion der islamischen Kultur betrachten diese primär säkularistischen Intellektuellen als ein Moment der Schaffung einer regressiven Gesellschaft. Ihrer Meinung nach birgt jede Islamisierungstendenz eine Gefahr für den Fortbestand der Republik und ihrer neu geschaffenen Kultur. In diesem Sinne fordern säkularistische Intellektuelle unterschiedlicher ideologischer Herkunft die Fortsetzung des Verwestlichungsprozesses und die Wahrung bereits erreichter Fortschritte innerhalb der Gesellschaft. Diese zwei antagonistischen Hauptströmungen der Intellektuellen - die sich selbst in einer Identifikationsphase befinden - treibt die türkische Gesellschaft zunehmend in ein duales System, das auf zwei kontroversen Identitäten basiert. Innerhalb dieses dualen Systems hat sich die Gesellschaft künftig zu entscheiden, ob sie weiterhin die Verwestlichung fördern oder auf den Islamismus zurückgreifen solle.
Aber neben der islamistischen einerseits und der kemalistischen Version andererseits besteht eine dritte Gruppe von Intellektuellen, die mit einem eigenen alternativen Modell die türkische Gesellschaft zu analysieren versuchen. Zu diesen Intellektuellen gehört in erster Linie Kemal Tahir, ein Schriftsteller und Zeitgenosse des berühmten Dichters Nâzim Hikmet. In seinen politischen Romanen und Essays versucht der marxistische Schriftsteller Kemal Tahir den Diskurs über die Verwestlichung außerhalb der Übernahme technischer und/oder kultureller Werte des Westens zu positionieren. Tahir interessiert sich, wie andere Intellektuelle in der marxistischen Tradition, primär für die Herausstellung des dualen Charakters der festgefahrenen Ost-West-Kontroverse. Seiner Ansicht nach sind östliche oder westliche Orientierungsmodelle keine "Kategorien, die als Resultat einer Kultur und Bemühung zu erreichen sind. Sie liegen im Bereich eines historischen Prozesses, einer Wissenskonzentration." Die Kultur resultiert und entspringt für Tahir demnach nicht aus der Imitation des Entwicklungsstadiums oder der ökonomischen Verhältnisse, aus denen die betreffende Kultur sich bildet. Die Kultur ist vielmehr in ein direktes Verhältnis zu den historischen Entwicklungen der jeweiligen Gesellschaften zu setzen. Daher kann von einer gegenseitigen Interaktion kultureller Strukturen ausgegangen werden. Tahir lehnt die Hegemonie einer Kultur über die anderen ab und wendet sich strikt gegen die Idee der Verwestlichung, da sie seiner Auffassung nach ausschließlich ein Modell zur Fortsetzung der imperialistischen Ausbeutung ist. In seiner Untersuchung über die Geschichte der Verwestlichung kritisiert Tahir insbesondere die Intellektuellen, die seiner Ansicht nach der osmanischen und später der türkischen Gesellschaft eine ihr fremde Kultur diktiert haben. Das Diktieren dieser fremden Kultur auf eine historisch östlich ausgerichtete Gesellschaft, die ihre Kultur in einem langen Prozeß herausgebildet hat, deutet für Tahir auf eine Zusammenarbeit mit dem Imperialismus hin: "Die bei uns angewendete und heute noch von manchen intellektuellen und bürokratischen Kreisen beabsichtigte Verwestlichung ist bewußt oder unbewußt eine Agententätigkeit des Imperialismus."
Die Diskussion um verschiedene Komponenten der Verwestlichung stehen in der heutigen Türkei im Zentrum der intellektuellen und gesellschaftlichen Diskussionen. In welcher Form sich diese Diskussion entfalten wird, und in welche Richtung sich die Gesellschaft künftig orientieren wird, sind die grundlegenden Fragen, die die Türkei beantworten muß.
Hilal Onur ist Politikwissenschaftlerin an der Hacettepe Universität Ankara