Kampf um die Mitte - gegen Rechts?

Wie ernsthaft betreibt die politische Klasse in der Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus?

Fakt ist: In der Bundesrepublik Deutschland hat die Gewaltkriminalität mit rechtsradikalem und antisemitischem Hintergrund in den letzten Monaten eine neue Qualität erreicht. Fakt ist ferner, dass die Aktivitäten zum Verbot der Nationaldemokratischen Partei (NPD), die vielfältigen Protestveranstaltungen gegen den rechten Ungeist und die Aufforderung zur Zivilcourage gegen neofaschistische, rassistischen Umtriebe nicht verdecken können, dass auch bei den etablierten Parteien manifeste Symptome von Rassismus und Antisemitismus festzustellen sind. Fakt ist schließlich: Auch in anderen europäischen Ländern registrieren wir eine Zunahme von rechtsextremistisch motivierten Verbrechen und zunehmenden Wählerzuspruch für rechtspopulistische Parteien: jüngst in Belgien, im kommenden Jahr in Italien.

Wachsende Teile der gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit sind gegenüber dieser Entwicklungstendenz und den darin eingeschlossenen Gefährdungen in den letzten Monaten sensibilisiert worden. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, alltäglicher Rassismus werden genausowenig einfach hingenommen wie die Gewalt- und Terrorakte mit entsprechendem Hintergrund. Bestritten werden kann allerdings auch nicht, dass die staatlichen Pressionsmaßnahmen widersprüchlich und halbherzig sind. So wurde erst Mitte Oktober die Verurteilung eines Journalisten durch das höchste Gericht aufgehoben, der in einer Zeitung getitelt hatte: "Kulturamt: ein Jude?". Können Appelle an die "anständigen Bürgerinnen und Bürger" eine glaubwürdige Aufforderung sein, den "braunen Spuk" zu verscheuchen, wenn zugleich in der polizeilichen Alltagsarbeit beispielsweise bei Abschiebungen von Flüchtlingen oder straffällig gewordenen "Ausländern" rassistische Gewaltakte beobachtet werden? Ein Innenminister mit beeindruckender politischer Karriere - angefangen als kritischer Anwalt im Deutschen Herbst, über die Alternative Liste Berlin, die grüne Partei bis zur Sozialdemokratie -, der sich mit Plädoyers für weitere Beschränkungen des Asyl-Rechts und Zuzugsbegrenzungen für Ausländer ("das Boot ist voll") profiliert, ist ebenfalls kein Garant für eine Politik, die einen offensiven Ausbau einer multikulturellen Zivilgesellschaft betreibt (so gerne man sich auch dieser Begriffe bedient). Auch die Unterscheidung zwischen "nützlichen Ausländern" und "Ausländern, die uns nützen" stammt von einem Landesinnenminister, der sich zugleich als Initiator eines NPD-Verbotes feiern lässt.

Wie ernsthaft wird die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus betrieben?

Kann sich also in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Befreiung von Rassismus und Neofaschismus durchsetzen, wenn Teile der wirtschaftlichen und politischen Elite von solchen Bewusstseinsformen angefressen sind? Die Frage kann auch anders gestellt werden: Wie ernsthaft wird die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus betrieben, wenn das Gerangel um das NPD-Verbot mehr von taktischen Kalkülen motiviert und eben kein Symbol für Antirassismus und Antifaschismus ist. Prantl hat doch recht: "Der Antrag ist auch ein Mittel, den Platz der SPD in der politischen Mitte auszubauen. Mit dem Verbotsantrag weist sich die SPD nicht nur als regierende, sondern auch als staatstragende Partei aus. Und weil der bayerische CSU-Innenminister Beckstein mit von der Partie ist, kann die CDU ihrem Unmut darüber nicht einmal so richtig Luft machen." (SZ, 21./22.10.)

Offenkundig fällt es der politischen Klasse schwer, ein breiteres Angebot zur gesellschaftlichen Integration der in Deutschland lebenden Ausländer zu entwickeln und landesweit anzubieten. Die zaghafte Reform des Staatsbürgerrechts hat jedenfalls nicht die wünschbaren Effekte freigesetzt. Wenn es allerdings schon Probleme mit einem ausreichenden Angebot an Sprachkursen gibt, dann muss sich niemand wundern, wenn die Rede von "deutscher Leitkultur" als Aufforderung zur Assimilation und Unterwerfung interpretiert wird.

Womit hängt überhaupt diese neuere Welle von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und nationalistischem Größenwahn zusammen? Schaut man sich die verschiedenen Phänomene und Symptome näher an, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass "sich ein Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste auf unterschiedlichen Ebenen erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so dass neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden... Damit werden die Spannungen zwischen den Prinzipien von kapitalistischer Ökonomie, die auf den Stärkeren setzt und Ungleichheit als Antriebsmechanismus einsetzt, sowie der Demokratie, die auf Gleichheit basiert, weiter erhöht." (Wilhelm Heitmeyer, Soziale Desintegrationsprobleme, Anerkennungszerfall und Rechtsextremismus. Überlegungen zu gesellschaftlichen Ursachen und dem problematischen Umgang mit dem Rechtsextremismus, Manuskript, Berlin 2000, S. 7.)

Selbst die SPD tendiert dazu - in ihrer praktischen Politik wie auch in ihrer laufenden Programmdiskussion -, die Zunahme sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzungen hinzunehmen, soweit damit ein höheres Wirtschaftswachstum und eine Verstärkung der Akkumulationsdynamik des Kapitals erreicht werden kann. Ausländerfeindlichkeit wird eher als eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort, denn als Angriff auf eine demokratische Zivilgesellschaft angesehen. Die große Mehrheit der Bevölkerung macht sich über die Entwicklungstendenzen des "Turbokapitalismus" keine Illusionen. Zwei Drittel der Bevölkerung erwarten wachsende soziale Differenzierung, soziale Kälte und Egozentrik, vermehrte soziale Spannungen und grassierende Unsicherheit. Wenn über die Hälfte der Bevölkerung davon ausgeht, dass sich künftig nur noch die "Starken" durchsetzen, während die "Schwachen" auf der Strecke bleiben, dann ist diese Zukunftsangst ein fantastischer Nährboden für Anerkennungszerfall und Rassismus. Der aggressive gewalttätige Rechtsextremismus ist eine existenzielle Gefahr für klar identifizierbare Minderheiten wie Ausländer, Obdachlose usw. (Macht-)Politisch brisanter ist jedoch, dass damit der Boden planiert wird für die vermeintlich aufgeklärtere, moderarate Variante des Rechtspopulismus, die als Vlaams Block in Belgien, als Nationale Front in Frankreich, als Freiheitliche Partei in Österreich oder als Alleanza Nazionale in Italien schon viel zu viel Terrain gewonnen hat.

Die generelle Abwertung der Politik - und damit vor allem der Parteien -, die wir als Begleitphänomen zu verschärfter Konkurrenz, erhöhtem Leistungsdruck, sozialer Instabilität und als unsicher erfahrenen Zukunftsperspektiven feststellen, erhöht die Chancen für charismatische Führer und selbsternannte "Saubermänner" zur Ausmistung des politischen Augiasstalls. Die sozialistische Linke muss breite gesellschaftliche Bündnisse im Kampf gegen gewalttätigen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus unterstützen. Selbstverständlich müssen alle rechtsstaatlich möglichen Instrumente (bis zum Parteienverbot) in dieser Auseinandersetzung gegen Gewalt und Terrorismus eingesetzt werden. Allerdings lässt sich rechte Gewalt durch "Wegsperren" allein nicht beseitigen. Wer deshalb für politische "Resozialisierung" von Rechtsextremisten eintritt, der muss auch dafür sorgen, dass die ökonomischen Existenzbedingungen und die gesellschaftlichen Chancen für Benachteiligte und Verunsicherte verbessert werden. Gerade die sozialistische Linke muss sich um so mehr für tiefgreifende Reformen in den Steuerungsbedingungen und Verteilungsverhältnissen - auch was die internationalen Ursachen der Migrationsprozesse angeht - einsetzen, weil dies von den anderen gesellschaftlichen Kräften kaum zu erwarten ist.

Bernhard Müller ist Redakteur von Sozialismus.