Wie wir in die Offensive kommen
Von Ralph Guth, Elisabeth Klatzer, Lisa Mittendrein, Alexandra Strickner, Valentin Schwarz
Die Europäische Union steckt in der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen. Mit dem Brexit wird die EU-Integration erstmals rückgebaut. Die Ungleichheit in Europa nimmt zu, zwischen Arm und Reich ebenso wie zwischen Regionen und Ländern. Das Wohlstandsversprechen der EU gilt für immer weniger Menschen. Statt Integration bringt die EU heute vor allem Spaltung. Wir haben die neoliberale Ausrichtung der Europäischen Integration immer kritisiert und eine Vielzahl von Alternativen und Reformen vorgeschlagen. Das Projekt EU selbst haben wir dabei aber grundsätzlich befürwortet. Die Ereignisse der letzten Jahre machen diese Einschätzung aber immer komplizierter. Gleichzeitig bildet die EU einen unhintergehbaren Rahmen unseres politischen Handelns. Die endlosen Debatten innerhalb der Linken um »pro« oder »contra« EU lähmen uns in einer Zeit, in der wir dringend politisch in die Offensive kommen müssen. Wie das gehen kann, wollen wir in zehn Thesen diskutieren.
Vorab ist jedoch klar: Im Streiten um ein gutes Leben für alle – und darum geht es uns – ist die EU keine Verbündete. Und das wird sich auch nicht so schnell ändern. Ihr heutiger neoliberaler Charakter ist als Folge historischer Entwicklungen und politischer Auseinandersetzungen in den Verträgen und Institutionen festgeschrieben. Ihre Funktionsweise schirmt sie vor Veränderungen von unten gezielt ab. EU-Kommission und Europäische Zentralbank (EZB) müssen sich keinen demokratischen Wahlen stellen, bei jeder echten Änderung ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich. Eine grundlegende Reform bräuchte daher linke oder progressive Regierungen in allen oder zumindest den zentralen Mitgliedsstaaten. Das ist unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich.
Erstens gibt es auf EU-Ebene kaum Ansatzpunkte für Veränderung von unten. Die EU-Kommission als mächtige Exekutive ist für Kapitalinteressen bestens zugänglich, nach unten jedoch abgeschirmt. Das EZB-Mandat schreibt eine neoliberale Geldpolitik ohne demokratische Eingriffsmöglichkeit fest. Zweitens meinen zwar viele, für eine EU-Reform müssten sich nur die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten verändern, doch das ist leichter gesagt als getan. Denn die ökonomischen und sozialen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Interessen sind tief in gesellschaftliche Institutionen eingeschrieben. Bessere Wahlergebnisse reichen nicht aus, um sie zu verändern. Drittens stabilisiert die EU die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und verhindert Veränderung teilweise sehr aktiv – siehe Griechenland. Viertens können einzelne linke Regierungsprojekte nicht jahrzehntelang warten, bis sich die Verhältnisse auch anderswo ändern, sondern müssen eigenständig Schritte setzen können.
Die EU ist aber auch kein äußerer Feind, von dem wir uns durch einen Austritt einfach lösen könnten. Die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Tiefe der neoliberalen Reformen der letzten Jahrzehnte, die enorme Konzentration von Vermögen und wirtschaftlicher Macht sowie die Meinungsherrschaft der Rechten und Neoliberalen verhindern das. Es ist schwer vorstellbar, dass ein einzelnes Land nach einem Austritt besser in der Lage wäre, progressive Politik umzusetzen. Wenn also die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist – was dann? Hier gilt es neue Wege und Strategien zu entwickeln, mit denen wir in die Offensive kommen. Nur dann haben wir eine Chance, Menschen für unsere Ideen zu begeistern und gemeinsam die Gesellschaft zu verändern.
Weder EU idealisieren noch den Austritt dämonisieren
»Ich bin für die EU, aber …«, ist für viele Progressive eine Art Mantra. Kritik gestatten sie sich nur, wenn sie zugleich gebetsmühlenartig ihr Bekenntnis zur EU wiederholen. Doch die EU ist nicht inhärent gut oder progressiv. Der verbreitete Bekenntniszwang erschwert die notwendige, tief greifende Kritik und nützt den neoliberalen Eliten, die ihr europäisches Projekt im Interesse von Reichen und Großunternehmen vorantreiben.
Wir dürfen uns auch nicht zwingen lassen, die EU blind zu verteidigen, wenn sie von rechts angegriffen wird. Nur mit eigenständigen Analysen und Positionen, die sich nicht am politischen Koordinatensystem der Eliten orientieren, können wir politisch wirksam handeln. Tun wir das nicht, entfernen wir uns immer mehr von der gesellschaftlichen Realität. Denn die Erzählung von der fortschrittlichen EU, die unser aller Leben verbessere, hat nichts mehr mit dem Alltag der meisten Menschen zu tun.
Wer die EU kritisiert, wird schnell als nationalistisch gebrandmarkt und mit der Rechten in einen Topf geworfen. Doch nicht jede EU-Kritik ist nationalistisch, ebenso wenig wie jeder Bezug auf politisches Handeln im Nationalstaat. Auch wenn wir beispielsweise den Austritt in Österreich für keine sinnvolle Forderung halten, kann die Debatte darüber anderswo progressive Spielräume eröffnen. Der Euro ist nicht alternativlos und es gibt eine rege wissenschaftliche Auseinandersetzung zu alternativen Formen der Währungskooperation. Führen wir eine offene Debatte zu EU und Euro und überwinden wir die Stigmatisierung jeder Kritik als »antieuropäisch«.
Die EU nicht ungewollt legitimieren
Die EU soll dies, die EU muss das. Forderungen dieser Art gehören für viele progressive Organisationen zum Alltag, erzeugen aber oft mehr Schaden als Nutzen. Ein Beispiel: Eine echte progressive EU-Sozialpolitik, die diesen Namen verdient, ist völlig unrealistisch. Fordern wir die EU-Kommission trotzdem dazu auf, erreichen wir in der Sache nichts, legitimieren aber ihre Funktionsweise als undemokratische Institution. Gleichzeitig bestärken wir ihren Zugang, soziale Fragen der Wettbewerbslogik unterzuordnen, und verdecken, dass ihre Politik für den Abbau sozialer Rechte steht. Das bedeutet nicht, dass wir niemals Forderungen an die EU-Ebene richten sollen. Doch wir sollten genau abwägen, wann wir das tun und warum.
Im Rahmen einer starken Kampagne können wir die EU-Institutionen, aber auch nationale Regierungen durchaus unter Zugzwang setzen. Ist unsere Bewegung stark genug, lassen sich so Zugeständnisse erzwingen. Manchmal gibt es im neoliberalen Gefüge der EU progressive Fenster, in denen unsere Forderungen durchsetzbar sind. Leider ist das selten der Fall. Auch aussichtslose Forderungen an die EU-Institutionen können fallweise strategisch sinnvoll sein, um sichtbar zu machen, dass sie gegen die Interessen der breiten Bevölkerung handeln.
In bestimmten Fällen können wir versuchen, noch weiter zu gehen und die Politik der EU aktiv zu delegitimieren. So entschieden sich Ärzte ohne Grenzen 2016, wegen der menschenrechtswidrigen EU-Flüchtlingspolitik keine Gelder der EU und der Mitgliedsstaaten mehr anzunehmen. Damit setzen sie ein starkes Zeichen, dass ihr humanitärer Auftrag mit der EU-Flüchtlingspolitik nicht vereinbar ist.
Standpunkte anderer Länder und sozialer Gruppen einbeziehen
Viel zu oft verallgemeinern Politiker*innen, Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen ihre Sicht der EU. Doch wie wir sie erleben, hängt stark von unserer sozialen Herkunft und unseren Lebensumständen ab. Haben wir Sprachkenntnisse, finanzielle Mittel und Kontakte, um die Reisefreiheit auszukosten, oder schränken uns Geldsorgen oder Betreuungspflichten ein? Studieren wir an der Uni und haben wohlhabende Eltern, die uns ein Erasmus-Auslandssemester ermöglichen? Oder sind wir von Arbeitslosigkeit und Lohndumping bedroht? Manche können die Vorteile der EU nutzen, doch das gilt nicht für die Mehrheit der Menschen. Nur wenn wir das anerkennen, können wir eine sinnvolle EU-Strategie entwickeln.
Auch die EU-Debatten sozialer Bewegungen unterscheiden sich je nach Land. Zum Beispiel profitieren Österreichs Großunternehmen von Binnenmarkt und Osterweiterung, während EU-Kritik hierzulande vor allem von rechts kommt. Beides prägt die progressive EU-Debatte. In Südeuropa hingegen sind die Folgen von Euro und Kürzungspolitik für die Mehrheit der Menschen desaströs. Es gibt starke soziale Bewegungen, die Konflikte auf der Straße sichtbar machen. Unter diesen Bedingungen ist die Auseinandersetzung mit dem Euro-Austritt in Griechenland etwas völlig anderes als in Österreich, nämlich eine mögliche Alternative zur Kürzungspolitik. Auch für Portugal, das eine starke Linke hat, aber innerhalb der Eurozone zum Niedriglohnland degradiert wurde, kann der Austritt eine Perspektive sein. Wie auch immer wir die EU einschätzen: Wir müssen anerkennen, dass Menschen mit denselben politischen Zielen in anderen Ländern unter anderen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen leben – und so auch zu anderen Schlüssen kommen können.
An welche politische Ebene richten wir unsere Forderungen?
Viele Probleme unserer Zeit sind global und progressive Kräfte hoffen auf internationale Lösungen. Nur eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik könnte sicherstellen, dass Menschen hier Schutz und Sicherheit finden. Um die Finanzmärkte wirksam zu regulieren, bräuchte es internationale Abkommen, und auch den Klimawandel können wir nur koordiniert bekämpfen. Doch all das geschieht nicht oder unzureichend. Nur auf europäische oder gar globale Lösungen zu warten hilft uns nicht weiter. Das macht uns handlungsunfähig und verstellt den Blick darauf, dass politische Veränderung auch an anderer Stelle beginnen kann. Arbeiten wir nicht auf jener Ebene, die in der Theorie die beste wäre oder die uns die Gegenseite vorgibt, sondern dort, wo wir am wirksamsten etwas erreichen können. Ein Beispiel: Im Kampf gegen TTIP und CETA haben wir nicht darauf gehofft, die EU-Kommission zu bekehren, sondern Gemeinden mobilisiert, um Druck auf nationale Regierungen zu machen. Lange bevor es einen globalen UN-Klimavertrag gab, bemühten sich viele Kommunen um die Energiewende. Und in Frankreich ermöglicht ein neues Gesetz, Konzerne für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu bringen, auch wenn diese im Ausland begangen wurden. Nun wäre es klarerweise wünschenswert, eine solche Regelung auf EU-Ebene zu verankern. Doch hätten die Bewegungen in Frankreich darauf gewartet, wäre dieses Gesetz wohl nie zustande gekommen.
Allzu oft verweisen Politiker*innen auf die Notwendigkeit einer Lösung auf EU-Ebene, um sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen. Doch diese ist nicht automatisch der beste Ansatzpunkt. Wir können politische Veränderungen auch auf anderen Ebenen vorantreiben.
Mit neoliberalen Regeln brechen
Neoliberale Politik ist so tief in den Verträgen und Strukturen der EU verankert, dass alternative Wirtschaftspolitik fast unmöglich wird. Wir müssen aufhören, dieses Regelwerk als unumstößlich zu betrachten. Investitionen in die soziale Infrastruktur sind nur möglich, wenn wir die Budgetregeln missachten. Um die Energieversorgung unter demokratische Kontrolle zu stellen, müssen wir uns über den Liberalisierungszwang der EU hinwegsetzen. Und wir können kooperative und ökologische Wirtschaftsformen nur fördern, indem wir das EU-Wettbewerbsrecht brechen.
Dieser strategische Ungehorsam eröffnet neue Perspektiven für linke Regierungen auf allen Ebenen, aber auch für soziale Bewegungen. Lassen wir Politiker*innen nicht länger mit Sachzwang-Argumenten davonkommen. Wir können in der EU bleiben, ohne uns allen problematischen Regeln zu unterwerfen. Wenn wir sie erfolgreich brechen, schaffen wir neue politische Spielräume. Das Konzept des strategischen Ungehorsams ermöglicht es, über abstrakte Kampagnen gegen EU-Regeln wie das Wettbewerbsrecht oder den Fiskalpakt hinauszugehen und so die neoliberalen Grundfesten der EU zu politisieren. Wenn EU-Recht eine sozial gerechte, nachhaltige und demokratische Politik verunmöglicht oder Lebensbedingungen verschlechtert, dann hat eine gewählte Regierung die Pflicht, diese Regeln zu missachten. Und wir haben das Recht, genau das von ihr zu verlangen.
Auch Städte, Gemeinden und Regionen sind politische Akteure
Wenn wir also auf EU-Ebene wenig erreichen können – bleibt dann nur der Nationalstaat? Keinesfalls. Auch Städte, Gemeinden und Regionen sind politische Ebenen, auf denen wir unsere Forderungen durchsetzen können. Vorreiterinnen dieser Idee sind jene Bewegungen in spanischen Städten wie Barcelona und Madrid, welche die Stadt als Ausgangspunkt für eine andere Politik nutzen. Angelehnt an el municipio, die Gemeinde, nennen sie sich »munizipalistisch«. Sie entwickeln ihre Politik aus dem Alltag und Lebensumfeld der Menschen und versuchen von unten Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu erarbeiten. Statt darauf zu warten, dass der spanische Staat Flüchtlinge aufnimmt, versucht Barcelona, das selbst zu tun. Die Städte werden damit zum Hebel im Kampf gegen die Politik der Zentralregierung und möglicherweise auch die der EU.
Im Widerstand gegen Privatisierung und Liberalisierung können Städte und Gemeinden in Zukunft eine zentrale Rolle einnehmen. Die EU schreibt Liberalisierungen vor und die Folgen werden auf lokaler Ebene am meisten spürbar. Dazu kommt, dass Alternativen dort oft am einfachsten umsetzbar sind.
Städte können somit als Orte des Experimentierens dienen, für politische Maßnahmen wie für neue demokratische Formen. Gegen die EU-Handelspolitik beispielsweise vernetzen sich EU-weit TTIP-freie-Kommunen. Auch im Kampf für die Rechte von Flüchtlingen und gegen Abschiebungen sind kleine Gemeinden immer wieder Vorreiterinnen. Städte, Gemeinden und Regionen können darüber hinaus neue Formen der Zusammenarbeit erproben, denn internationale Kooperation ist nicht auf Nationalstaaten beschränkt.
Internationale Kooperation neu denken
Globale Solidarität und internationale Zusammenarbeit sind Grundwerte der globalisierungskritischen Bewegung. Die EU vereinnahmt diese Werte für sich, lebt aber höchstens einen Internationalismus des Kapitals. Lassen wir uns davon nicht beirren. Wir können internationalistisch sein, ohne die EU zu verherrlichen. Arbeiten wir stattdessen an neuen Modellen internationaler Zusammenarbeit, die an der EU vorbei- und über sie hinausgehen. Lernen wir von den Erfahrungen anderer Weltregionen, etwa von ALBA in Lateinamerika. Statt schrankenlosem Handel, der nichts mit solidarischer Kooperation gemein hat, steht dort das Prinzip der Komplementarität im Vordergrund, also der gegenseitigen Ergänzung. Importiert wird, was nicht selbst hergestellt werden kann.
In Europa könnten Länder oder Regionen beispielsweise gemeinsame öffentliche Betriebe aufbauen, um ihre jeweiligen Stärken zu kombinieren.
Barcelona arbeitet am Aufbau eines Gemeindenetzwerks gegen Privatisierungen. Solche Kooperationen zeigen, dass international nicht immer zwischenstaatlich heißen muss. Rebellische Städte können etwa gemeinsam neue Formen von Stadtbürgerschaft erproben, die Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus politische und soziale Rechte geben. Kooperation muss nicht zwangsläufig in Europa beginnen. Denken wir grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht in erster Linie europäisch, sondern politisch: Verfolgt ein Staat, eine Region oder eine Stadt ähnliche Ziele und ist eine Kooperation sinnvoll? Dann bemühen wir uns darum, auch wenn der Ort außerhalb des geografischen und kulturellen Konstrukts »Europa« liegt.
Machtverhältnisse verändern
Wir brauchen Alternativen zur herrschenden Politik. Oft erarbeiten Organisationen oder Bewegungen perfekte Modelle, wie sich die EU-Politik in einem bestimmten Bereich anders organisieren ließe. Doch nur, weil wir gute Vorschläge haben, werden uns die Eliten nicht erhören. Auch helfen uns detaillierte Konzepte allein nicht dabei, Menschen als Mitstreiter*innen zu gewinnen. Visionen und Vorschläge sind nötig, müssen aber immer in Zusammenhang mit konkreten politischen Auseinandersetzungen stehen. Konzepte für ein gemeinwohlorientiertes Bankensystem sind dann besonders wirksam, wenn reale Bankenrettungen anstehen und wir Widerstand dagegen organisieren wollen. Auch Ideen wie Demokratie oder Solidarität mobilisieren abstrakt und für sich genommen fast niemanden. Erst wenn wir sie mit konkreten Kämpfen wie etwa gegen TTIP und CETA verbinden, können wir Menschen dafür gewinnen, aktiv zu werden. Und globale Solidarität wird greifbar, wenn wir zusammen mit Bäuer*innen und Landarbeiter*innen aus dem globalen Süden gegen Saatgutpatente kämpfen.
Wir setzen politische Veränderung nicht durch, indem wir recht haben, sondern indem wir uns gemeinsam mit möglichst vielen Menschen dafür organisieren. Dafür sind Alternativvorschläge wichtig, aber sie sind nicht alles. Wir müssen die richtigen Auseinandersetzungen führen, die uns helfen, Schritt für Schritt neue Handlungsspielräume zu gewinnen. Wir müssen Alternativen von unten aufbauen, mit denen wir die Vision einer anderen Gesellschaft sichtbar machen. Wir müssen Formen politischen Handelns entwickeln, an denen sich möglichst viele Menschen beteiligen können. Und wir sollten nicht immer mit den größten Fragen und der höchsten Ebene beginnen. Setzen wir dort an, wo wir konkrete Lösungen anbieten und aufbauen können.
Wo lassen sich Handlungsspielräume vergrößern?
Als soziale Bewegungen führen wir wichtige Abwehrkämpfe, um weitere Verschlechterungen zu verhindern. Wir können jedoch nicht gegen alle Angriffe auf soziale Rechte und unsere Lebensgrundlagen kämpfen, sondern müssen Auseinandersetzungen auswählen, die wir zu gewinnen versuchen. Das tun wir klarerweise auf Basis unserer politischen Ziele. Darüber hinaus gibt es drei zentrale strategische Kriterien, nach denen wir die Konflikte auswählen sollten.
Führen wir, erstens, jene Auseinandersetzungen, welche die zentralen politischen Projekte der Herrschenden am meisten stören. TTIP und CETA sind der Beginn einer neuen handelspolitischen Agenda der EU. Wenn wir sie stoppen, bringen wir den ganzen Plan und damit ein langfristiges, globales, neoliberales Projekt zu Fall. Wählen wir, zweitens, jene politischen Auseinandersetzungen aus, mit denen wir neue Handlungsspielräume gewinnen können. Wenn Bewegungen gegen die Privatisierung der Wasser- oder Energieversorgung in ihrer Stadt kämpfen, öffnen sie damit auch den Raum für eine grundsätzliche Diskussion über die demokratische Kontrolle öffentlicher Leistungen. Drittens sollten wir uns für die Kämpfe entscheiden, bei denen wir neue und/oder möglichst breite Allianzen bilden können. Migrant*innen und von Rassismus betroffene Gruppen zahlen den höchsten Preis für neoliberale Kürzungen und autoritäre Politik. Frauen sind mehrfachen Benachteiligungen ausgesetzt und feministische Bewegungen sind wichtige Akteurinnen im Kampf um ein gutes Leben für alle. Auch viele andere sind oft von politischen Prozessen ausgeschlossen – besonders mit ihnen sollten wir gemeinsam kämpfen.
Alternativen von unten
Die herrschenden Eliten haben kein Interesse an einer radikalen Umgestaltung von EU, Wirtschaft und Gesellschaft. Dazu kommt, dass Alternativen zum Kapitalismus heute für die meisten Menschen schwer vorstellbar sind. Schlagworte wie »sozialökologische Transformation« oder »Sozialismus« sind zu allgemein, um zu begeistern. Doch konkrete wirtschaftliche Alternativen existieren bereits. Solidarische Landwirtschaft, Lebensmittelkooperativen, Kollektivbetriebe, Solidaritätskliniken und die Open-Source-Bewegung entziehen sich der Markt- und Profitlogik. Gemeinsam entwickeln sie konkrete Antworten auf die Bedürfnisse von Beschäftigten, Konsument*innen oder den Nutzer*innen öffentlicher Leistungen. Sie ermöglichen es Menschen, abseits von Kampagnen- oder Bildungsarbeit an konkreten politischen Projekten mitzuarbeiten. Und als Modelle alternativen Wirtschaftens machen sie eine andere Welt vorstellbar.
Die spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen (PAH) ermächtigt Menschen im Kampf um ihre Wohnungen. Sie kennen und verteidigen ihre Rechte, verhindern Räumungen, bei Bedarf physisch, und besetzen leerstehende Häuser, damit zwangsgeräumte Familien in ihnen leben können. So macht die PAH greifbar, dass das Recht auf Wohnen für alle gelten muss. Auch in Griechenland setzt ein riesiges Netzwerk an Solidaritätsinitiativen der europäischen Kürzungspolitik eine konkrete Alternative entgegen. Initiativen wie Solidaritätskliniken und Lebensmittelkooperativen lindern nicht nur die unmittelbare Not, sie haben oft auch einen explizit politischen Anspruch: Sie wenden sich gegen die zerstörerische Kürzungspolitik und setzen sich für politische Alternativen ein. Das zeigt: Alternativen von unten weisen nicht nur den Weg in eine andere Welt, sie sind auch ein konkretes Mittel im Kampf gegen neoliberale EU-Politik und die Ideologie dahinter.
Es geht darum, die Europäische Union zu entzaubern und als das zu zeigen, was sie ist: ein im Herzen neoliberales Projekt. Ist der Zauber erst gebrochen, tun sich für Menschen, die sich für ein gutes Leben für alle einsetzen, viele neue Wege auf. Wir hoffen, dass diese Überlegungen viele inspirieren und motivieren, aktiv zu werden.
Erschienen in: Luxemburg 1/2019, S.22-29