Wer braucht das Gefängnis?

Strafrecht, Strafvollzug und Alternativen

Politisch ist mit dem Strafvollzug schon lange kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Draußen halten aus dem öffentlichen Diskurs ist die Devise. Gefängnis interessiert höchstens, wenn es darum geht, dass Gewalt- und Sexualstraftäter (1) möglichst lang hinter Gittern bleiben. Es ist denn auch kein Zufall, dass die letzte politisch tatsächlich geführte Debatte auf der Empörung eines Opfers fußte: der Empörung über die vorzeitige Entlassung eines Sexualstraftäters aus dem Fußfessel-Hausarrest. Zwischen den Zeilen war das auch eine Debatte über den Zweck des Strafens: Wann dürfen alternative Strafen angesetzt werden? Was ist der Sinn einer Strafhaft? Und: Ab wann ist der Zweck der Strafe verfehlt? 

Vor zehn Jahren wäre die Debatte noch gänzlich anders verlaufen. Damit ist nicht gemeint, dass die Fußfessel damals noch nicht im Einsatz war. Sondern, dass die gesellschaftliche Verständigung über das Strafen sich in den letzten Dekaden erheblich verschoben hat – nicht nur hierzulande, sondern in allen westlichen Ländern. Vor allem im Bereich der Gewalt- und Sexualstraftaten sind die Forderungen nach harter Bestrafung lauter geworden, und die Einführung der Fußfessel zeigt, dass neue Maßnahmen dazu gekommen sind. Es sind hier wie dort drastische Einzelfälle, die – medial entsprechend aufbereitet – Evidenz für die Notwendigkeit härteren Durchgreifens liefern sollen. Das betrifft vor allem bestimmte Tätergruppen wie Gewalt- und Sexualstraftäter, die einer helfenden Zuwendung nicht zugänglich zu sein scheinen. 

ZWISCHEN BEHANDLUNG UND SICHERHEIT 

Der Strafvollzug in Österreich soll Verurteilten zu einer „rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten Lebenseinstellung verhelfen“ (§ 20 StVG); es geht also um „Wiedereingliederung“. Doch genau dieses Moment scheint derzeit zurück zu treten, zu Gunsten von Sicherheit und Gesellschaftsschutz. In den meisten westlichen Ländern galt bis in die 1980er-Jahre hinein das Prinzip des Behandlungsvollzugs: Resozialisierung, Alternativen und Maßnahmen abseits der Freiheitsstrafe sollten Täter_innen möglichst vor den negativen Auswirkungen des Gefängnisses – und damit vor Rückfällen – schützen. Hierdurch sah man auch den Gesellschaftsschutz gewährleistet. 

Wenn auch freilich alte und neue Orientierungen immer noch nebeneinander stehen: Weniger Behandlung, mehr Strafe, das ist das, wohin sich viele Strafrechtssysteme seit einigen Jahren bewegen. Österreich hat ebenfalls nachgezogen – wenn auch politisch von einem ungewöhnlichen Ausgangspunkt aus. Es war Justizminister Broda, der die Politik ab Mitte der 1970er-Jahre mit seiner abolitionistischen Vision einer gefängnislosen Gesellschaft in Atem hielt. Er hat damals einiges erreicht: Haftstrafen wurden teilweise durch Geldstrafen ersetzt und die vorzeitige Entlassung etabliert, Homosexualität und Abtreibung entkriminalisiert bzw. straffrei gestellt. Ein Banküberfall, eine Entführung und ein Sexualmord bereiteten der Reformperiode Ende der 1970er-Jahre dann jedoch ein schnelles Ende. Seitdem unterliegt der österreichische Strafvollzug dem Zug der Zeit. 

Die Veränderung der Strafrechtssysteme in vielen Ländern führt dazu, dass viele dem Strafrecht und einer harten Kriminalpolitik mittlerweile eine Ersatzfunktion zusprechen: jene der neoliberalen Regulierung sozialer und ökonomischer Prekarität, die vor allem Randgruppen rigider ausgrenzt und öfter inhaftiert. Für Österreich ist das nicht falsch, aber zu relativieren. Weltweit nimmt die Gefängnispopulation zu. Dazu tragen die USA, England und Wales mit bei, aber auch einige mittel- und osteuropäische Länder. Dort wachsen die Haftraten enorm, teilweise zusammen mit der Zahl der Gefängnisse. Für Österreich ist aber zu beobachten, dass die Zahlen weitaus weniger stark anwuchsen und momentan relativ stabil sind: Österreich liegt mit seiner Haftrate im europäischen Mittelfeld. 

Zwar ist auch hierzulande ein gesellschaftlich verschärftes Strafbedürfnis zu beobachten, das sich aber eher auf den Bereich der Medien und Politik beschränkt. Die Strafrechtssysteme sind von punitiven Tendenzen mittlerweile zwar spürbar berührt worden, aber sie sind so gebaut, dass mediale Diskurse und Politik, anders als in manchen anderen Ländern, weitgehend keine unmittelbare Durchschlagkraft haben. Österreichs Strafvollzug tendiert in ein punitive Richtung, aber er tut das gemäßigter und widersprüchlicher als etwa in den USA, und anders als dort ist der Strafvollzug kein Industriezweig, mit dem Geld gemacht wird. 

WER SITZT? 

Nach wie vor sitzen im österreichischen Strafvollzug, nicht anders als anderswo, vorrangig marginalisierte Gruppen ein. Vor allem Migrant_innen, besonders wenn der Aufenthaltsstatus unsicher ist, sind seit dem Jahr 2000 stark überrepräsentiert, sie kommen heute fast an die 50 Prozent-Marke heran. Das gilt besonders für gerichtliche Gefangenenhäuser, also für die kurzen Haftstrafen. Aber auch die U-Haft spielt eine große Rolle: Man inhaftiert hier öfter, weil aufgrund der als geringer angenommenen sozialen Einbindung in Österreich häufiger von einer Fluchtgefahr ausgegangen wird. 

Zwar ist der durchschnittliche Insasse derzeit immer noch österreichischer Staatsangehöriger und männlich. Schätzungsweise 30 Prozent der Inhaftierten aber sind Drogenuser_innen, und besonders viele Strafen werden wegen „kleineren“ Eigentumsdelikten abgesessen. Was sich im Gefolge der punitiven öffentlichen Diskussionen in Österreich hingegen verändert hat, das ist die gestiegene Aufmerksamkeit für die kleine Gruppe der Gewalt- und Sexualstraftäter_innen, für die härtere Gesetze eingeführt und längere Strafen verhängt werden, während in den anderen Bereichen mehr alternative Strafen greifen. Auch im Maßnahmenvollzug gehen die Zahlen nach oben. 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Haftraten nicht unbedingt etwas mit Kriminalitätsentwicklungen zu tun haben. Wie viele Menschen und welche von ihnen ins Gefängnis kommen, ist stark davon abhängig, wie im Strafrechtssystem mit Kontrollen, Verdacht und Anzeigen umgegangen wird. Das fängt bei der polizeilichen Anzeige an und geht bis zum Richter_innenspruch. Auf allen Ebenen gibt es Interpretations- und Ermessensspielräume; auf jeder Stufe können sich die Verantwortlichen in vielen Fällen noch gegen eine Kriminalisierung entscheiden. Polizeiliches Wegsehen etwa ist ein solches Mittel, die Einstellung des Verfahrens oder die Maßnahmenauswahl im Falle eines Schuldspruchs, z. B. als Bewährungsstrafe. Auf derartige Spielräume versucht aktuell eine Kampagne gegen Racial Profiling in Deutschland (2) einzuwirken. Sie zeugt von dem Versuch, dem polizeilich oft rassistisch gefärbten Ermessen entgegenzutreten. 

MUSS DAS GEFÄNGIS GERETTET WERDEN? 

Um Bilanz zu ziehen: Strafvollzug perpetuiert soziale Ungleichheit. Und was noch unerwähnt blieb: Er traumatisiert, ebenso wie er als Stigma nachhaltig anhaftet. Das erschwert es, nach dem Gefängnis wieder ein „normales“ Leben zu führen. Beides haben wir kürzlich im Skandal um die Vergewaltigung eines Jugendlichen in U-Haft gesehen. Hier wurde wieder einmal deutlich, dass sogar schwerste physische Gewalt zur Gefängnisnormalität gehört. Schließlich sei, so Justizministerin Karl, Strafvollzug „kein Paradies“ (3). Und ihre Aussage, dass unter Unschuldsvermutung einsitzende U-Haft-Insass_innen „schwere Straftaten“(4) begangen hätten, zeigt an, welch eine enorme negative Symbolwirkung vom Gefängnis ausgeht. Zwar wird nicht unbedingt mehr inhaftiert. Wer aber einsitzt, der erlebt immer öfter einen Verwahrvollzug. Wären die Inhaftierten nicht Gefangene, sondern Patient_innen in einem Krankenhaus – solche Umstände würden jedes Management sofort zur Schließung ihrer Einrichtung veranlassen. 

Sinn und Zweck des Gefängnisses scheinen vom Effektivitätsargument aus gesehen – gelinde gesagt – etwas unklar. Umstritten ist auch, inwieweit die Androhung einschließender Exklusion präventiv eine konforme Lebensweise zu vermitteln vermag, denn darum geht es dem Strafrecht ja auch. Nicht zuletzt, und das ist hier ausschlaggebend, scheint der Strafvollzug über die Jahre auch nicht wesentlich humaner geworden zu sein; und es ist fraglich, ob er das jemals werden kann, ist doch der Freiheitsentziehung immer schon inhuman. Angesichts dessen muss man sich fragen, ob man nicht ohne Strafrecht besser dran wäre. Die Vorstellung von Strafe durch Einschluss aber ist derart tief verankert, dass eine Welt ohne Gefängnis kaum denkbar erscheint. 

Abolitionistische Forderungen sind in Debatten um den Strafvollzug kaum noch präsent. Gäbe es solche, würden die wohl als utopisch abgetan. Längst scheint vergessen, dass das Gefängnis ein durch und durch modernes Phänomen ist, dass es also etwas zu tun hat mit ganz bestimmten historisch-sozialen Verhältnissen, aus denen es stammt, und in deren Fußstapfen wir heute stehen. Erst mit Niederschrift des Strafrechts wurde festgelegt, welche problematischen Ereignisse im Extremfall mit Freiheitsstrafe belegt werden sollen. Erst mit der Entstehung bürgerlicher Freiheiten konnte der Freiheitsentzug zur dominierenden Strafform werden. 

ABOLITIONISTISCHE POSITIONEN 

Insofern ist es nur folgerichtig, dass abolitionistische Positionen, früher wie heute, tatsächlich utopischen Charakter haben. Für radikale Reduktionen bzw. Neuerungen im Strafsystem braucht es die Veränderung auch anderer, sozialer und ökonomischer Bereiche der Gesellschaft. Das wäre etwa eine Gesellschaft, die bessere Möglichkeiten bereithielte, Differenz zu leben, ebenso wie Bedingungen, die es Menschen erlaubten, sich zu ändern bzw. werden zu können, was sie sein wollen. Genauer betrachtet, und das bringt den Abolitionismus auf eine konkrete Ebene, verfechten Abolitionist_innen zumeist auch Reformprogramme: In den 1970er- und 1980er-Jahren z. B. wollte man in einem ersten Schritt nur lange Freiheitsstrafen abschaffen, ebenso die Zwangstherapie im Vollzug. Andere strafrechtliche Mechanismen wollte man auf ein Mindestmaß beschränken. Dafür sollten zivilrechtliche und außerstrafrechtliche Konfliktregelungsmechanismen gefördert werden. 

Radikale Forderungen sind wichtig, um eine Position zu etablieren, von der aus abolitionistische Politiken überhaupt erst einmal denkbar gemacht werden können. Ein Schritt in Richtung Abolitionismus kann es aber durchaus auch sein, zu thematisieren, wie Haft aussieht, wer im Gefängnis einsitzt und wie mit den dort inhaftierten Menschen umgegangen wird – gerade angesichts der im Wandel begriffenen Leitvorstellungen des Strafvollzugs, aber auch in Hinblick auf die für 2015 in Österreich angedachte Strafrechtsreform. Das bedeutet etwa zu thematisieren, dass der geschlossene Vollzug gegenüber dem gelockerten immer noch die Regel darstellt, dass die Einschlusszeiten immer länger werden und dass bei den Ausgaben für Therapie und Nachsorge gespart wird. Dass Anstalten organisatorisch nicht im gleichen Maße die Bedürfnisse von Minoritäten berücksichtigen, so dass diese strukturell benachteiligt sind. 

Es bedeutet zu problematisieren, dass es immer noch keine nächtliche Einzelunterbringung gibt und dass man unabhängige Instanzen für die Rechte und den Schutz Strafgefangener verstärken müsste. Und es ist zu hinterfragen, warum, auch wenn Geldstrafe, Strafaussetzung zur Bewährung und Einstellung unter Auflagen mit etwa 90 Prozent schon lange den wesentlichen Teil der strafrechtlichen Reaktionen ausmachen, der Strafvollzug nach wie vor als Hauptform des Strafens verhandelt werden muss. Wenn es dabei noch gelänge, mitzutransportieren, um was es eigentlich gehen müsste, nämlich zu einer Abschaffung von Institutionen zu kommen, in denen die einen über die Freiheit der anderen entscheiden können, dann wäre schon viel erreicht. 


ANMERKUNGEN 

(1) Im Diskurs sind das nur Männer 

(2) http://www.stoppt-racial-profiling.de 

(3) Ö1 Mittagsjournal, 26.7.2013 

(4) ORF ZIB 2, 26.7.2013