Trojanisches Pferd Genomsequenzierung

Gesamtgenomanalyse und genetische Verantwortung

Glaubt man Verlautbarungen aus Humangenetik und Labormedizin, wird die Sequenzierung des gesamten Genoms bald ein Routineverfahren in der klinischen Praxis. Verschiedene Fachgesellschaften nehmen diese Aussichten zum Anlass, das Recht auf Nichtwissen zu torpedieren. Ein Blick auf aktuelle Konstruktionen genetischer Verantwortung.

 

+++++      Der Schwerpunkt im aktuellen GID: Biologisierung der Armut: www.gen-ethisches-netzwerk.de/gid/220

 

Gesamtgenom-Techniken können in unterschiedlichen Zusammenhängen Anwendung finden“, so die European Society of Human Genetics (ESHG) in kürzlich veröffentlichten Empfehlungen, und jeder dieser Kontexte, so betont die ESHG, „wirft andere Fragen auf“.(1) Dass, und vor allem, wie diese Fragen in der Humangenetik und angrenzenden Professionen aufgeworfen, diskutiert und beantwortet werden, verdient Beachtung. Noch werden das Whole Genome Sequencing beziehungsweise das Whole Exome Sequencing (WGS und WES; siehe Kasten auf Seite 34) an PatientInnen nur im Rahmen von Studien eingesetzt, und bisher führen auch nur einige wenige Labore die Verfahren durch. Aber der Nachweis ihres klinischen Nutzens gilt als erbracht, Kontroversen darüber finden nicht statt.(2) Vielmehr haben nicht nur die ESHG, sondern auch das American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) oder die britische PHG Foundation bereits jetzt Empfehlungen ausgearbeitet, die sich mit Problemen der Gesamtgenomanalyse befassen, ohne die Sinnhaftigkeit ihrer klinischen Anwendung auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.

Die Pflicht zum Wissen

In Frage gestellt werden vielmehr einige Grundprinzipien, die im Laufe jahrelanger Auseinandersetzungen erstritten worden sind, insbesondere das Recht auf Nichtwissen. Dieses Recht stehe, so die ESHG, „nicht automatisch über der Verantwortung der Professionellen, wenn es um die Gesundheit des Patienten selbst oder die naher Verwandter geht“.(3) Auch das ACMG sieht eine „Fürsorgepflicht” der Ärzteschaft, die an die Stelle von „Belangen der Autonomie” von PatientInnen trete.(4)

Konkret geht es dabei um ein Problem, mit dem prinzipiell zu rechnen ist, sollten Verfahren zur Sequenzierung des gesamten Genoms tatsächlich routinemäßig Anwendung in der klinischen Praxis finden: Dass genetische Eigenschaften entdeckt werden, die für die Gesundheit relevant sind, nach denen aber gar nicht gesucht worden ist. Kliniker und Labormediziner, so ESHG und ACMG, müssten PatientInnen und ihre Familien über solche Zusatzbefunde in Kenntnis setzen, um „Schaden von ihnen abzuwenden“.(4)

Gesundheitsrelevante Zusatzbefunde sind bei einer Gesamtgenomanalyse wahrscheinlich, weil alle codierenden Abschnitte der DNA auf Abweichungen hin untersucht werden. Wolle man die Wünsche der PatientInnen in Bezug auf solche potenziellen Zusatzbefunde genauso berücksichtigen wie bei herkömmlichen Gentests üblich, so das ACMG, hieße dies, dass in der Beratung eine „möglicherweise überwältigende Anzahl von genetischen Konditionen“ berücksichtigt werden muss. Das sei weder praktikabel noch ermögliche es wirklich informierte Entscheidungen.(4) Deshalb hat die Fachgesellschaft, in der neben GenetikerInnen und BiochemikerInnen auch genetische BeraterInnen organisiert sind, eine „Minimum“-Liste von 57 bekannten genetischen Varianten erstellt. Zusatzbefunde bei einer Gesamtgenomanalyse, die sich auf dieser Liste finden, sollen im Laborbericht auf jeden Fall erwähnt werden, „unabhängig von den Präferenzen des Patienten“.(5)

Der bisherige Konsens, dass PatientInnen nach einer genetischen Beratung selbst entscheiden, was sie wissen wollen und was nicht, wird mittels der Gesamtgenomanalyse also massiv in Frage gestellt. Geht es nach ACMG und ESHG, so werden PatientInnen lediglich darüber informiert, dass Zusatzbefunde anfallen können. Was sie zu wissen bekommen, entscheiden andere: ÄrztInnen sollen nach erfolgter Genomanalyse auswählen, welche Zusatzbefunde mitgeteilt werden müssen und welche nicht. Die Autonomie von PatientInnen werde insofern gewahrt, als diese die Gesamtgenomanalyse ja ablehnen können, wenn für sie „die Risiken möglicher Zusatzbefunde schwerer wiegen als die Vorteile der Untersuchung“.(6)

Familiäre Verantwortung

Die ESHG empfiehlt immerhin noch, im Beratungsgespräch vor der Untersuchung über allgemeine Kategorien möglicher Zusatzbefunde und ihre Implikationen zu informieren, und im Gegensatz zum ACMG spricht sie sich auch dafür aus, dem Problem der Zusatzbefunde möglichst auszuweichen: Wenn es die klinische Fragestellung erlaubt - etwa bei einer relativ eindeutigen Verdachtsdiagose - sollten nur die Teile der DNA sequenziert beziehungsweise analysiert werden, die zu ihrer Abklärung notwendig sind. Grundsätzlich sieht aber auch die ESHG eine Pflicht zur Mitteilung von Zusatzbefunden, wenn sie „auf ernste Gesundheitsprobleme hinweisen“, und zwar „entweder bei der getesteten Person oder ihren nahen Verwandten“.(3)

Die Tendenz, PatientInnen nach einem positiven Gen­test­ergebnis in die Pflicht gegenüber Familienmitgliedern zu nehmen, ist nicht ganz neu. So hatte schon die Gendiagnostikkommission (GEKO) das Gendiagnostikgesetz in einer Weise ausgelegt, die das Recht auf Nichtwissen relativiert, sobald Verwandte ins Spiel kommen: „Ergeben sich aus dem Befund“, heißt es in einer Richtlinie der GEKO von 2011, „Hinweise, dass genetische Verwandte der betroffenen Person Trägerinnen oder Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaft sein können, sollten die genetisch Verwandten durch die ratsuchende Person auf die Möglichkeit einer genetischen Beratung hingewiesen werden“. Geht es gar um vermeid- oder behandelbare Erkrankungen, „ist der betroffenen Person zu empfehlen, den Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen“.(7)

Die Konstruktion einer solchen familiären Verantwortung differenziert sich mit der Gesamtgenomanalyse nun weiter aus: Das ACMG betont, dass Zusatzbefunde nicht nur unabhängig von den Präferenzen, sondern auch vom Alter der PatientInnen mitgeteilt werden sollen. Konkret geht es hier um Tests an Kindern. Wird bei ihnen im Rahmen einer Gesamtgenomanalyse zur Diagnostik bestehender Krankheitssymptome zusätzlich eine Anlage für eine erst später im Leben ausbrechende Erkrankung gefunden, die auf der Liste des ACMG steht, soll dieser Befund mitgeteilt werden, und zwar deshalb, weil er für die Eltern relevant sein kann. Schwerer als das Recht des Kindes, im Erwachsenenalter zu bestimmen, was es über seine genetischen Risiken wissen will und was nicht, wiegt laut ACMG der mögliche Vorteil der Befundmitteilung für die „zukünftige Gesundheit“ - des Kindes und seiner Eltern.(4)

Reproduktive Interessen

Die ESHG formuliert das vorsichtiger: Die Gesamtgenomanalyse bei Kindern werfe unter anderem die Frage auf, wie einerseits „künftige Autonomierechte“ eines Kindes respektiert werden können, ohne ihm „etwas vorzuenthalten, das eine lebensrettende Information sein kann“, dabei aber zugleich „mögliche gesundheitliche oder reproduktive Interessen von Familienmitgliedern zu berücksichtigen“.(3)

Hier klingt bereits an, dass die Diskussion über Zusatzbefunde bei der Gesamtgenomanalyse noch weitere Hintertüren bereithält, die ihrer Öffnung harren. Wird das Verfahren bei Kindern zu diagnostischen Zwecken eingesetzt, können Zusatzbefunde zum Beispiel auch etwas über eine Anlageträgerschaft der Eltern aussagen - nämlich dann, wenn beim Kind eine genetische Veränderung gefunden wird, die mit einer rezessiv vererbten Erkrankung in Zusammenhang steht. Und das betrifft dann weniger die gesundheitlichen als vielmehr die „reproduktiven Interessen“ der Eltern.

Letztere erfahren ohnehin eine ganz neue Berücksichtigung, sollte die Gesamtgenomanalyse sich tatsächlich zu einem bezahlbaren Standardverfahren entwickeln. ACMG und ESHG listen schon jetzt eine Reihe von klinischen Anwendungen auf, bei denen sie Beratungsbedarf sehen, so etwa die „präkonzeptionelle“ Gesamtgenomanalyse  - das sind vor allem universelle Heterozygotentests (s. S.34) - oder der Einsatz des Verfahrens zu prädiktiven Zwecken beim Fetus, beim Neugeborenen, bei Kindern und Erwachsenen. „Das Zeitalter der genomischen Medizin hat begonnen“, so fasst es das ACMG zusammen. „Wir gehen davon aus, dass damit die herkömmliche medizinische Praxis weiterhin kontinuierlich in Frage gestellt wird.“(8)

 

Uta Wagenmann ist Mitarbeiterin des GeN und Redakteurin beim GID.

 

Fußnoten:

(1) European Society of Human Genetics (diverse AutorInnen): Whole-genome sequencing in health care. Recommendations, in: European Journal of Human Genetics 2013; 21; S. 581. Übersetzung der Autorin.

(2) Die ESHG führt diverse Studien an, die den klinischen Nutzen von WGS bewiesen hätten. Vgl. ebda., S. 584, Endnoten 6 bis 16. In den USA startet derzeit ein Forschungsprojekt, in dem der klinische Nutzen der Gesamtgenomanalyse bei Neugeborenen mit den bisher üblichen Untersuchungsmethoden im Rahmen des Neugeborenen-

Scree­nings verglichen wird. Vgl. dazu Kurzmeldung auf Seite 30 in diesem Heft.

(3) ESHG, a.a.O., S. 583. Übersetzung der Autorin.

(4) American College of Medical Genetics and Genomics: Recommendations for reporting of incidental findings in clinical exome and genome sequencing, in: Genetics in medicine, Vol. 15, Number 7, Juli 2013, S. 568, im Netz unter www.acmg.net oder unter www.kurzlink.de/gid220_k.

(5) Ebda., S. 569 ff. Die ACMG betont, die Liste sei als Ausgangspunkt für die Auswahl und Weitergabe von Zusatzbefunden zu verstehen, sie erfordere mit zunehmendem Wissen „laufende Veränderungen“. Ebda., S. 571.

(6) So wörtlich das ACMG, a.a.O., S. 568. Vgl. auch ESHG, a.a.O., S. 582.

(7) Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission über die Anforderungen an die Qualifikation zur und Inhalte der genetischen Beratung, veröffentlicht und in Kraft getreten am 11.07.11, in: Bundesgesundheitsblatt 11/2011, S. 1250, im Netz unter www.rki.de oder www.kurzlink.de/gid220_j.

(8) ACMG: Incidental findings in clinical genomics: a clarification, Genetics in Medicine, Vol. 15, Nr. 8, August 2013, S. 665, im Netz unter www.acmg.net oder unter www.kurzlink.de/gid220_l. Übersetzung der Autorin.