Verschiedene Welten?

Gewerkschaften in der europäischen Krise

DAS ARGUMENT 301/2013 ©, S. 181-199

In den Idealen und der Rhetorik von Gewerkschaften spielt internationale Solidarität eine gewichtige Rolle. Ihre Praxis jedoch bewegt sich zu allererst innerhalb der Nationalstaaten, in denen sie im 20. Jahrhundert ihre bedeutendsten Erfolge erreichen konnten. So ist auch das vielbeschworene ›Europäische Sozialmodell‹ keine gemeinschaftliche europäische Errungenschaft, sondern ein gedachter oder gewünschter gemeinsamer Nenner der existierenden nationalen Sozialstaaten in Europa. Dasselbe gilt für Tarifvertragssysteme, das Streikrecht oder die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bildung betrieblicher Interessenvertretungen. Ausgerechnet diese nationalen Errungenschaften werden jetzt wenn nicht durch, so doch mit Hilfe der EU und ihrer Institutionen unterminiert (Wickham 2012). Seit 2010 wird im Namen Europas in den Krisenländern das radikalste Sozialabbau- Programm der EU-Geschichte durchgesetzt.

In Deutschland und der kleiner werdenden Gruppe der übrigen sogen. ›Kernländer‹ der Eurozone dagegen, aber auch und vor allem in Nordeuropa können die Gewerkschaften und die Masse ihrer Mitglieder noch den Eindruck haben, in einer anderen Welt zu leben. Die nationalen gewerkschaftspolitischen Konfliktfelder driften auseinander. Doch die krisenverschärfende Krisenbekämpfungspolitik in der EU konfrontiert herkömmliche Modelle von Gewerkschaftspolitik mehr und mehr mit ihren nationalstaatlichen Grenzen. Dies ist das Thema des vorliegenden Aufsatzes.

Um zu zeigen, wie sehr die europäische Krisenpolitik die Schicksale der Gewerkschaften verschiedener Länder miteinander verknüpft, konzentriere ich mich im Folgenden einerseits auf die Gewerkschaften einiger von der Krise besonders betroffener Länder, und andererseits auf die deutschen Gewerkschaften. Die europäische Politik wird heute derart weitgehend durch Entscheidungen der Berliner Regierung und Interessen der deutschen Wirtschaft dominiert, dass die zukünftige politische Entwicklung in Deutschland eine Schlüsselrolle für den von den Gewerkschaften auf Kongressen oder in Resolutionen geforderten ›Kurswechsel‹ in Europa spielt. Für die deutschen Gewerkschaften erwächst daraus die Frage, welchen praktischen Beitrag sie zu diesem Kurswechsel leisten können.

 

1. Gewerkschaften und Arbeitsmarktinstitutionen

Die Fähigkeit von Gewerkschaften, Druck auf Arbeitgeber oder Regierungen auszuüben, beruht in letzter Instanz auf der Zahl ihrer Mitglieder und auf deren Möglichkeiten, Produktions- und Dienstleistungsprozesse zeitweilig zum Erliegen zu bringen. Diese beiden Quellen gewerkschaftlicher Kraft werden in der Literatur als »Organisations-« oder »Vereinigungsmacht« und »strukturelle« oder »Arbeitsmarkt-Macht« bezeichnet. Letztere kann auf einem hohen Organisationsgrad unter kurzfristig schwer ersetzbaren Beschäftigten in bestimmten Schlüsselfunktionen beruhen (z.B. Lokführer), hängt aber grundsätzlich davon ab, ob eine hohe Beschäftigungsquote die Marktmacht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften generell erhöht (zum sog. Machtressourcen-Ansatz vgl. Brinkmann u.a. 2008). Im Laufe des 20. Jahrhunderts gelang es den Gewerkschaften, diese beiden Machtressourcen durch das Erringen institutionell abgesicherter Einflussmöglichkeiten – also »institutionelle Macht« – zu erweitern. Diese nicht originäre, sondern mittelbare Quelle gewerkschaftlichen Einflusses wird im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes stehen.

Sie kann aber nur errungen oder verteidigt werden, wenn eine vierte, häufig weniger beachtete Machtressource ins Spiel kommt: die Fähigkeit zur politischen Mobilisierung der eigenen Mitglieder oder größerer Teile der Gesellschaft. Institutionelle Macht ist vor allem gebunden an die Existenz von nationalen oder von Branchen- Tarifverträgen – ergänzt durch die Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die den Anreiz für Arbeitgeber zur Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden mit dem Mandat zu Tarifverhandlungen stärkt. Indirekte Wirkungen gehen von der Existenz gesetzlicher Mindestlöhne aus sowie von der Höhe und Art der Arbeitslosenunterstützung, die auf die Höhe des sog. ›Reservationslohns‹ zurückwirken. Hinzu kommen grundlegende Arbeitsmarktregulierungen wie Art und Umfang des gesetzlichen Kündigungsschutzes und gesetzliche Mindeststandards (z.B. ›equal pay‹ bei der Leiharbeit oder die Regulierung befristeter Arbeitsverträge). Auch gesetzliche Informations- oder gar Mitbestimmungsrechte betrieblicher Interessenvertretungen beeinflussen direkt oder indirekt gewerkschaftliche Verhandlungsmacht.

Selbstverständlich unterscheiden sich Existenz, Ausgestaltung und Stärke dieser Institutionen von Land zu Land. In welcher Konstellation auch immer: von der Stärke oder Schwäche institutioneller Machressourcen der Gewerkschaften hängt es ab, ob die Qualität der Arbeitsbedingungen in erster Linie durch das Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt bestimmt ist oder ob der Warencharakter der Arbeitskraft bis zu einem gewissen Grad begrenzt werden kann. Nur über institutionelle Macht können Gewerkschaften zur Verallgemeinerung von Arbeitsstandards unmittelbar beitragen. Doch wenn institutionelle Macht nicht durch organisatorische und strukturelle Macht sowie durch politische Handlungsfähigkeit und Mobilisierungskraft untermauert wird, wird sie auf längere Zeit ausgehöhlt und brüchig. Und Gewerkschaften, die ihre institutionellen Machtressourcen verloren haben, geraten in eine »Münchhausen-Position, aus der sie sich allein durch erneute, besser: neuartige Machtentfaltung herausziehen können« (Müller-Jentsch 2006, 1243). Dann sind sowohl Qualitäts- als auch Quantensprünge in der Entwicklung der übrigen Machtressourcen erforderlich, um gesellschaftliche Marginalisierung zu verhindern.

 

2. Am bröckelnden Rand

Die Brisanz des wechselseitigen Zusammenhangs gewerkschaftlicher Machtressourcen für die Zukunft der Gewerkschaften in den Euroländern wird deutlich, wenn wir uns ansehen, wie die Gewerkschaften einiger südeuropäischer Länder in die gegenwärtige Krise hineingegangen sind.

Stärken in der Schwäche – Bei allen Unterschieden im Detail besteht eine Gemeinsamkeit der Gewerkschaften der südeuropäischen ›Peripherie-Länder‹ in der ungleichen oder einseitigen Verteilung ihrer Machtressourcen. So verfügen die italienischen Gewerkschaften zwar immer noch über vergleichsweise starke strukturelle und organisatorische Machtressourcen, doch sind diese – neben dem öffentlichen Dienst – weitgehend auf den traditionell hoch industrialisierten nördlichen Teil des Landes beschränkt. Die organisatorische und strukturelle Macht der iberischen und auch der griechischen Gewerkschaften sind in hohem Maße auf Großbetriebe und auf bestimmte Branchen (wie das öffentliche Verkehrswesen) konzentriert.1

Eine wichtige gemeinsame Schwäche der südeuropäischen Gewerkschaften geht auf die Spaltung der Arbeitsmärkte dieser Länder zurück: Die Kluft zwischen fest Angestellten und prekär Beschäftigten ist tief, und die Gewerkschaften sind in erster Linie unter den vergleichsweise gut geschützten Stammbelegschaften – und hier in besonderem Maße denen im öffentlichen Sektor – verankert. Die breiten ›Ränder‹ des Arbeitsmarkts sind mit ihren befristet oder informell Beschäftigten wiederum mehrheitlich von Frauen und jungen Menschen bevölkert – eine für die Zukunft gewerkschaftlicher Organisationsmacht extrem problematische Konstellation. So haben – um das extremste Beispiel zu nennen – die griechischen Gewerkschaften nach eigenen Angaben kaum Mitglieder, die jünger als 35 Jahre sind (Prokovas 2011). Dennoch verfügten die Gewerkschaften dieser Länder bis in die jüngste Vergangenheit hinein über ein hohes Maß an institutioneller Macht. Dies soll hier am Beispiel der beiden Länder skizziert werden: Spanien und Griechenland. Die spanischen Gewerkschaften spielten eine wichtige Rolle beim Aushandeln der strategischen Kompromisse zur Gestaltung von Gesellschaft und Arbeitsmarkt im Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie (zum Folgenden: Banyuls u.a. 2009). So verfügten sie bislang trotz (außer in Großunternehmen) geringer betrieblicher Verankerung und einem insgesamt niedrigen Organisationsgrad von 16 % über umfangreiche Verhandlungsrechte auf sektoraler und nationaler Ebene.

Die Branchen-Tarifverträge etablierten auf Grund des ›erga omnes‹-Prinzips soziale Mindeststandards für alle abhängig Beschäftigten, so dass im Jahre 2010 85 % der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten (Schulten 2012). Die begrenzte gewerkschaftliche Verhandlungsmacht gegenüber den privaten Arbeitgebern wurde teilweise durch auf politische Mobilisierungskraft gegründete Verhandlungsmacht gegenüber den nationalen Regierungen kompensiert. Diese wurde immer dann durch Großdemonstrationen und Generalstreiks revitalisiert, wenn die Regierungen die Gewerkschaften von politischer Einflussnahme auf Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen ausschalten wollten (Hamann u.a. 2012).

In diesem Spannungsfeld pendelten die beiden großen spanischen Gewerkschaften seit Mitte der 1980er Jahre auf nationaler Ebene zwischen Massenmobilisierungen gegen neoliberale Arbeitsmarktreformen einerseits und Kompromissen über die ›Flexibilisierung‹ des Arbeitsmarkts in Form von ›Sozialpakten‹ andererseits, die sowohl mit sozialdemokratischen als auch konservativen Regierungen vereinbart wurden (Rohlfer 2012). Letztlich konnten sie, vermittelt über verallgemeinernde Institutionen wie eine hohe Tarifbindung, von wenigen Säulen gewerkschaftlicher Macht ausgehend soziale Mindeststandards für größere Teile der abhängig Beschäftigten durchsetzen oder verteidigen.

Auch in Griechenland gibt es kaum Verhandlungen auf betrieblicher Ebene, auch wenn der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Durchschnitt etwas höher ist als in Deutschland (zum Folgenden: Karamessini 2009). Anders als in Spanien gelang die Vereinbarung nicht nur branchenspezifischer, sondern auch branchenübergreifender Mindeststandards im Wesentlichen über Verhandlungen in den (mit einem Organisationsgrad von 36 %) gewerkschaftlich am besten organisierten Sektoren des öffentlichen Sektors. Die dort Beschäftigten waren im Vergleich zu denen in weiten Teilen der Privatwirtschaft, aber vor allem den vielen prekär Beschäftigten deutlich besser sozial abgesichert, und das Hauptaugenmerk der Gewerkschaften war stets auf die Bastionen ihres Einflusses und die unmittelbaren Interessen der dortigen Kernbelegschaften konzentriert. Doch zugleich konnte auf diesen wenigen starken Säulen gewerkschaftlicher Organisations- und struktureller Macht ein Schutzschirm mit Basisstandards errichtet werden, der sich sogar auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn erstreckte (Kretsos 2011). Das politische Fundament dieser institutionellen Macht war sowohl die politische Nähe der größten nationalen Gewerkschaften zu den klientelistischen Regierungsparteien, in erster Linie der sozialdemokratischen PASOK, als auch ihre Mobilisierungskraft v.a. in öffentlichen Transport- und Energieunternehmen, die darin zum Ausdruck kommt, dass in Griechenland mit Abstand die meisten Generalstreiks aller EU-Länder stattfanden.2

Hier kommt ein südeuropäisches Muster am plastischsten zum Ausdruck: Eine gering entwickelte Verhandlungspraxis auf betrieblicher Ebene wurde dadurch kompensiert, dass die Gewerkschaften Druck auf die Regierung ausübten und, dadurch begünstigt, in Spitzenverhandlungen mit Arbeitgeberverbänden oder auch trilateralen Sozialpakten Mindeststandards durchsetzten, die über das Institutionensystem verallgemeinert werden konnten. Das Ausspielen der größten Stärke der südeuropäischen Gewerkschaften, ihrer politischen Mobilisierungskraft, war also Voraussetzung verschiedenster landesspezifischer Varianten von bi- oder tripartistischer Kooperation auf nationaler Ebene.

Der abnehmende gewerkschaftliche Organisationsgrad, die Spaltung der Arbeitsmärkte sowie diverse ›Flexibilisierungen‹ der Arbeitsmarktregulierung ließen bereits im Jahrzehnt vor der Krise das institutionelle Gerüst gewerkschaftlichen Einflusses brüchig werden. Dennoch prägte es die Rolle der Gewerkschaften noch bis in die Krise hinein. In der ersten Phase dieser Krise, der Großen Rezession der Jahre 2008/2009, wurden die Gewerkschaften auf zentraler Ebene teilweise noch in den gewohnten Bahnen in Konsultationen über die Notmaßnahmen zur Bewältigung des wirtschaftlichen Einbruchs einbezogen, die jedoch »keine klare Richtung und keinen Kompass« erkennen ließen (Banyuls/Recio 2012, 216). Auf betrieblicher Ebene herrschten zugleich unilateral von den Arbeitgebern ergriffene Anpassungsmaßnahmen vor (Glassner u.a. 2011). Doch mit dem Übergang zur zweiten Phase der Krise, der Verlagerung hin zu einer existenziellen Krise der Eurozone im Jahre 2010, schwand der Spielraum für dieses Modell gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Es begann eine »institutionelle Entmachtung durch den Angriff auf arbeitsrechtliche Institutionen« (Lanara 2012, 8). Auf die Große Rezession folgte die Große Aggression.

 

Von der Großen Rezession zur Großen Aggression – Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Etappen der andauernden Krise besteht darin, dass in ihrer ersten Phase, während des wirtschaftlichen Absturzes und des drohenden Zusammenbruchs des weltweiten Finanzsystems, die meisten europäischen Regierungen aktive Maßnahmen der Krisenbekämpfung ergriffen, zu denen in vielen Ländern die Gewerkschaften in unterschiedlicher Intensität beitragen konnten. In der zweiten Phase jedoch, der sich zuspitzenden Krise des Eurosystems, gingen die Regierungen zu einer Politik über, die diese Krise zusätzlich vertiefte. Maßgeblich auf Betreiben der deutschen Bundesregierung, mit großem Engagement ausgearbeitet von der EU-Kommission, in Koordination mit dem IWF im Rahmen der Troika, wurde ein autoritärer Interventionismus etabliert, der massive Kürzungen der Staatsausgaben und die weitere Deregulierung der Produkt- und Arbeitsmärkte ins Zentrum einer neuen wirtschaftspolitischen Steuerung rückt (Bieling 2011; Leschke u.a. 2012). Ihr liegt ein Konzept zugrunde, das die gesamte Bandbreite des bekannten Standardprogramms neoliberal inspirierter ›Strukturreformen‹ umfasst und nicht das Geringste mit dem dramatischen wirtschafts- und strukturpolitischen Reformbedarf insbesondere in den Peripherie-Ländern zu tun hat (vgl. dazu die Länderanalysen in Lehndorff 2012).

Aus Sicht der EU-Kommission (European Commission 2012, iiif) sind »Arbeitsmarktreformen, von denen ex-ante anzunehmen ist, dass sie Beschäftigung fördern«, die Schwächung des Kündigungsschutzes, die Senkung von gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Mindestlöhnen, die Lockerung aller Beschränkungen für die Befristung von Arbeitsverträgen, die Reduzierung der »Großzügigkeit« von Arbeitslosenunterstützung, die Senkung von Sozialabgaben, die Reduzierung der Einkommensteuerprogression, sowie die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Besonders wichtig ist der EU-Kommission (iv., 51, 104) die »Schwächung des Einflusses der Gewerkschaften auf die Lohnbildung« durch Reformen der Tarifvertragssysteme. Dazu gehören die Senkung von gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Mindestlöhnen, die Verringerung der Tarifbindung (z.B. durch Revision der Regeln für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen), sowie die Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme z.B. durch Einführung oder Erweiterung der Möglichkeiten, von Flächentarifverträgen auf Firmenebene abzuweichen oder separate Firmen-Verträge auszuhandeln. In den EU-Mitgliedsländern wurde dieses Konzept mit zahlreichen Maßnahmen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität umgesetzt (Überblicke bei Clauwaert/Schömann 2012; Hermann u.a. 2012). In Portugal und Italien, wo die Veränderungen bislang eher punktueller Natur sind, wurden Möglichkeiten des Abschlusses betrieblicher Vereinbarungen geschaffen, die tarifvertragliche Mindestnormen unterschreiten. Die portugiesische Regierung hat sich darüber hinaus gegenüber der Troika dazu verpflichtet, die Praxis von Allgemeinverbindlicherklärungen einzuschränken (Schulten 2012).3 In Griechenland und Spanien dagegen sind die ergriffenen Maßnahmen so weitreichend, dass sie in den kommenden Jahren zu einer de-facto Zerstörung der Tarifvertragssysteme führen können. So hat die griechische Regierung in Umsetzung der Troika-Vorgaben das Günstigkeitsprinzip bei Flächentarifverträgen aufgehoben, so dass nun Haustarifverträge generell Vorrang vor Flächentarifverträgen haben. In Unternehmen ohne gewerkschaftliche Interessenvertretung können Haustarifverträge auch mit ›anderen Arbeitnehmergruppen‹ abgeschlossen werden. Darüber hinaus wurden alle Verfahren zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ausgesetzt. Des weiteren wurde im Jahre 2012 der auf einem nationalen Tarifvertrag beruhende gesetzliche Mindestlohn um 22 % (für unter 25-jährige um 31 %) gekürzt. Damit hat die Regierung die bis dahin praktizierte Aushandlung des Mindestlohns zwischen den zentralen Tarifvertragsparteien ausgehebelt und eine der wenigen Säulen, auf denen bislang gewerkschaftlicher Einfluss auf generelle Mindeststandards ausgeübt werden konnte, beseitigt.

Die Demontage des Tarifvertrags- und Interessenvertretungssystems in Spanien geht teilweise noch weiter: So hat auch hier die Aufhebung des Günstigkeitsprinzips bei Flächentarifverträgen einen generellen Vorrang von Haustarif- vor Flächentarifverträgen bewirkt. Darüber hinaus wird Arbeitgebern die Möglichkeit gegeben, nach zwei Verlust-Quartalen einseitig die Mindeststandards der Flächentarifverträge zu unterschreiten (›opt out‹). Bei Nicht-Einigung über die Anwendung oder Änderung von Tarifverträgen wird eine Zwangsschlichtung durch das Arbeitsministerium unter Einbeziehung einer trilateralen Kommission eingeführt. Kündigungen schließlich können nun auch ohne Konsultation mit der Arbeitnehmer-Interessenvertretung vorgenommen werden. Diese Kombination von Lockerung des Kündigungsschutzes und Entmachtung des Betriebsrats beraubt die Gewerkschaften einer fundamentalen institutionellen Machtressource.

Den tiefen Einschnitten in die Institutionensysteme beider Länder ging ein Pendeln zwischen gewerkschaftlichem Widerstand und zumeist tripartistischen Sozialpakten voraus. Noch 2010 und 2011 einigten sich die spanischen Gewerkschaften mit der sozialdemokratischen Regierung auf Kompromisse beim Sozialabbau. Damit waren sie aber bereits politische Lichtjahre vom zur selben Zeit aufflammenden Protest vor allem junger Menschen entfernt (Da Paz Campos Lima/Martín Artiles 2011). Noch im Januar 2012 wurde ein Kompromiss mit den Arbeitgeberverbänden zur Dezentralisierung von Tarifverträgen gefunden. Doch die zu diesem Zeitpunkt neu ins Amt gewählte Rajoy-Regierung war daran nicht mehr interessiert. Ihre weiter verschärfte Politik des Sozialabbaus konnte nicht mehr mit Hilfe gewerkschaftlicher Kompromissbereitschaft durchgesetzt werden, sondern nur noch mit der Brechstange. Ähnliches war in Griechenland zu beobachten: Auch hier wurden die Troika-Diktate zunächst von einer sozialdemokratisch geführten Regierung ausgeführt. Der gewerkschaftliche Dachverband GSEE war, wie es eine leitende Funktionärin formuliert, »bemüht, den sozialen Dialog und die Institution der Sozialpartnerschaft aufrechtzuerhalten« (Lanara 2012, 10). Doch es ging nicht mehr. Unter dem Druck der Exekutierung der Troika-Diktate musste die traditionelle de-facto Allianz mächtiger Gewerkschaftszentralen mit der PASOK zerbrechen. Überdies ist die PASOK mittlerweile in den Meinungsumfragen dermaßen marginalisiert, dass eine sowohl eigenständige als auch widerständige politische Positionierung der Gewerkschaften völlig unvermeidlich geworden ist.

Die Gewerkschaften beider Länder sind damit weitgehend auf die Entwicklung ihrer ursprünglichen Potentiale zurückgeworfen – ihrer organisatorischen Kraft, ihrer Streikfähigkeit, ihrer politischen Mobilisierungs- und Bündnisfähigkeit. Die Situation ähnelt bereits – bei allen Unterschieden – der in den USA, wo die Gewerkschaften bis in die 1990er Jahre hinein in trügerischem Vertrauen in die Stabilität der New Deal-Institutionen nicht über defensive Reaktionen auf Angriffe der Regierungen und der Arbeitgeber hinausgelangt waren (Turner 2009, 310). Stärker jedoch als die US-Gewerkschaften verfügen sie weiterhin über politische Mobilisierungskraft.

Bereits im Zuge der beschriebenen Pendelbewegung nahm die Zahl der Generalstreiks dramatisch zu: Von den 118 Generalstreiks, die zwischen 1980 und 2011 in Westeuropa durchgeführt wurden, fanden allein 24 in den Jahren 2010 und 2011 statt (Hamann u.a. 2012). Doch anders als häufig zuvor rennen die Gewerkschaften jetzt zunehmend gegen eine Wand. Spätestens seit 2012 haben diese Generalstreiks – unabhängig davon, wie breit die Beteiligung an ihnen und wie stark die Sympathien in der Öffentlichkeit mit ihnen sind4 – deshalb auch den Charakter eines ohnmächtigen Protests.

Damit befinden sich die Gewerkschaften in guter, aber für sie ungewohnter Gesellschaft. Die Massenproteste in Spanien, Griechenland und anderen Krisenländern waren im Kern – zumindest zunächst – gewerkschaftsfern. Die Jugend, die in Spanien und Griechenland am stärksten von der Krise betroffen ist, hat unter allen Arbeitnehmergruppen die schwächsten Verbindungen zu gewerkschaftlichen Organisationen. In Griechenland gab es teilweise sogar offene Konflikte zwischen der ›Bewegung der Plätze‹ und den Gewerkschaften. Nun fanden sich die Gewerkschaften, wie Hyman (2007, 206) es bereits vor der Krise vermutet hatte, als »Außenseiter auf einem Feld wieder, das ihnen bis vor kurzem die lohnende und beruhigende Rolle des Insiders geboten hatte« – sie müssen sich um die »oft unbequeme Kooperation mit anderen sozialen Bewegungen [bemühen], die in den meisten Ländern nie ein solches öffentliches Ansehen wie die Gewerkschaften hatten.«

In eine derart ungewohnte Rolle kann man nur allmählich hineinwachsen. Dies geschieht z.B. in dem Maße, wie Gewerkschaftsmitglieder sich als Individuen in Stadtteilbewegungen engagieren und dort ebenso wenig als Repräsentanten einer Organisation auftreten (können) wie Mitglieder irgendeiner anderen gesellschaftlichen Organisation oder Partei. Ungewohnt ist es ebenfalls, sich in Bereichen wie dem Bildungs- und dem Gesundheitswesen zu engagieren, die bislang nicht zu den Bastionen gewerkschaftlichen Einflusses gehörten. Dort aber entwickeln sich angesichts der katastrophalen Kürzungsmaßnahmen größere Proteste, die nicht allein in klassischen Streikaktionen bestehen, sondern als Teil breiterer sozialer Bewegungen organisiert werden. Doch angesichts eines verbreiteten Gefühls, Beschäftigte des öffentlichen Sektors seien privilegiert, gilt es auch hier, Gräben zu überwinden (Muñoz de Bustillo/Antón 2012). In solch einer tiefen Krisen- und Orientierungsphase, in der sich die Gewerkschaften dieser Länder befinden, kann »durch das Fehlen eines glaubhaften politischen Alternativprojekts […] die Politik der Haushaltskonsolidierung als einzig realistische Antwort auf die Krise dargestellt werden« – so umreißen Banyuls/Recio (2012, 223) die grundlegende politische Herausforderung in Spanien. Die spanischen und die deutschen Gewerkschaften mögen den Eindruck haben, sie lebten in verschiedenen Welten. Doch diese Herausforderung beschreibt eine gemeinsame Welt. Wenden wir uns deshalb den Schwächen in der Stärke der deutschen Gewerkschaften zu.

 

3. Der schlafende Riese?

Aus griechischer oder spanischer Sicht vermitteln die deutschen Gewerkschaften ein Bild der Stärke. Dies liegt nur bedingt an ihrer Größe. Die IG Metall und ver.di sind zwar die mitgliederstärksten Verbände Europas, aber Deutschland ist immerhin das bevölkerungsreichste Land der EU, und der durchschnittliche Organisationsgrad der deutschen Gewerkschaften ist mit 19 % eher niedrig. Der Eindruck der Stärke beruht vielmehr auf der Rolle der Gewerkschaften im deutschen Institutionensystem, das ihnen einen politischen Einfluss zu ermöglichen scheint, der weit über ihre organisatorische Macht hinausreicht. Um die Herausforderungen an die deutschen Gewerkschaften in der europäischen Krise besser zu verstehen, ist jedoch ein differenzierender Blick auf die gewerkschaftlichen Machtressourcen in Deutschland erforderlich.

 

Schwächen in der Stärke – Die organisatorischen und strukturellen Machtressourcen der deutschen Gewerkschaften haben einen Schwerpunkt in den Großbetrieben der exportorientierten Industrie, reichen aber (wenn auch mit sehr unterschiedlicher organisatorischer Stärke) bis weit in den Bereich mittelständischer Unternehmen hinein. Im privaten Dienstleistungssektor sind die Gewerkschaften im Durchschnitt deutlich schwächer, aber mit großen Unterschieden zwischen den Branchen. Bemerkenswert ist, dass es nicht das Organisationsgefälle zwischen Privatsektor und öffentlichem Sektor gibt, der typisch für die Gewerkschaften etlicher anderer europäischer Länder ist. Insgesamt ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland im Jahrzehnt vor der Krise um rund zehn Prozentpunkte gesunken – stärker als in fast allen übrigen westeuropäischen Ländern. Erst in den letzten Jahren ist es den Industriegewerkschaften gelungen, den Mitgliederrückgang zu bremsen oder zu stoppen. Vor diesem Hintergrund wäre die Stärke der deutschen Gewerkschaften ohne ihren Platz im Gefüge der Arbeitsmarktinstitutionen nicht zu verstehen (vgl. zum Folgenden Lehndorff u.a. 2009).

Die beiden wichtigsten institutionellen Anker gewerkschaftlichen Einflusses sind die Flächentarifverträge und die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats. Doch die Tarifbindung – bei aller zentralen Bedeutung des Flächentarifvertrags – geht seit den 1990er Jahren kontinuierlich zurück. Vergleichsweise stabil ist demgegenüber die Institution der Betriebsräte, auch wenn deren Handlungsmöglichkeiten in der Interessenvertretung durch Standortkonkurrenz, Outsourcing-Druck und internationalen Wettbewerb prekärer geworden sind. Doch im deutschen Zwei-Säulen-System der Interessenvertretung sind sie keine gewerkschaftliche Institution! Für die Gewerkschaften werden sie erst in dem Maße zur Machtressource, wie es ihnen gelingt, Betriebsratshandeln und gewerkschaftliche Politik zu koordinieren oder zu verknüpfen. Klaus Dörres (2008, 4) Einschätzung, »die gewerkschaftliche Organisationsmacht [reiche] nicht mehr aus, um die Chancen, die das Institutionensystem bietet, interessenpolitisch zu nutzen«, ist realistisch. Aber gerade wegen des Potentials, das die Gewerkschaften in den deutschen Arbeitsmarktinstitutionen noch vorfinden, stehen diese Institutionen im Zentrum gewerkschaftlicher Revitalisierungskampagnen. Ob Schlecker-Kampagne, ›Besser statt billiger‹, ›equal pay‹ für Leiharbeit oder Beschäftigtenbeteiligung bei betrieblichen Abweichungen vom Tarifvertrag – fast immer fi ndet die Mobilisierung und die Mitgliederwerbung nicht unabhängig von bestehenden Interessenvertretungs-Institutionen statt, sondern in Verbindung mit ihnen (Haipeter u.a. 2011). Nur, jenseits des Betriebsrats ist dieses Institutionengefüge in den zurückliegenden 20 Jahren immer lückenhafter und schwächer geworden.

Die Erosion und Demontage von Arbeitsmarktinstitutionen, die den Gewerkschaften zur Förderung sozialen Ausgleichs zur Verfügung stehen, lässt sich besonders eindrucksvoll an der Lohnpolitik beobachten. Im klassischen deutschen Modell gehörte es zu den ungeschriebenen Gesetzen, dass der Umfang der periodischen Lohnerhöhungen quer durch die Branchen sich fast immer an denen orientierte, die in der Industrie – zumeist der Metallindustrie – durchgesetzt werden konnten. Dort wiederum ging die Gewerkschaft in ihrer ›Lohnformel‹ (Preissteigerungsrate plus Produktivitätssteigerung plus eine – seit langem nicht mehr durchgesetzte – Umverteilungskomponente) nicht vom Produktivitätsfortschritt der Industrie, sondern von dem in der Gesamtwirtschaft aus, um fortschreitende Lohnspreizung zu vermeiden. Die Industriegewerkschaften gingen also implizit davon aus, dass in anderen Wirtschaftszweigen Lohnsteigerungen oberhalb der Rate des branchenspezifischen Produktivitätsfortschritts erreicht werden konnten, wobei natürlich vor allem der öffentliche Dienst von größter Bedeutung war. Damit dies funktionierte, mussten zusätzliche Umverteilungsmechanismen von Branchen mit hoher in solche mit geringerer Steigerung der Arbeitsproduktivität wirken. Die gesamte Architektur der deutschen Version von pattern bargaining beruhte auf dem Funktionieren einer Vielzahl derartiger Umverteilungsprozesse, in denen das Steuersystem eine Schlüsselrolle spielte. Genau diese Architektur wurde jedoch seit den 1990er Jahren Schritt für Schritt demontiert.

Dieser Prozess hatte viele Facetten: Abnehmende Tarifbindung, zahlreiche lokale Abweichungen von Flächentarifverträgen unter dem Druck von Outsourcing und Verlagerungen, weitgehende Aufgabe der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, erhebliche Reduzierung der Steuereinnahmen durch Entlastung von höheren Einkommen und Kapitaleinkünften, Deregulierung von Leiharbeit, Förderung von Minijobs, Schwächung der Arbeitslosenversicherung, Druck auf die Löhne durch Senkung der ›Zumutbarkeits‹-Schwelle für Arbeitslose, de-facto Einführung eines Kombilohns für Niedrigverdiener – viele der Institutionen, die einst ein für kapitalistische Verhältnisse beeindruckendes Maß an sozialem Ausgleich und Umverteilung ermöglichten, wurden ernsthaft beschädigt, teilweise zerstört. Deutschland hat im Ergebnis heute den größten Niedriglohnsektor aller Euro-Länder (Eurostat 2012) und ist das einzige EU-Land, in dem während der wirtschaftlichen Wachstumsphase 2004 bis 2008 die durchschnittlichen Löhne nicht anstiegen, sondern sanken. Die gewerkschaftliche Lohnpolitik, die dem alles beherrschenden politischen und medialen Gegenwind der ›Standortdebatte‹ ausgesetzt war, hat daran zweifellos ihren Anteil gehabt. Aber wenn von 2000 bis 2012 der Zuwachs der durchschnittlichen realen Tariflöhne pro Arbeitnehmer/in um 5,5 Prozentpunkte unter dem der Arbeitsproduktivität lag, doch die durchschnittlichen Effektivlöhne pro Arbeitnehmer/in um weitere 9,3 Prozentpunkte zurückgefallen waren (Bispinck 2012), dann signalisiert dies, dass der Löwenanteil der negativen Lohnentwicklung auf den Abbau von Arbeitsmarktinstitutionen zurückzuführen ist. Die impliziten institutionellen Voraussetzungen für das Funktionieren der gewerkschaftlichen Lohnformel sind weitgehend demontiert, und neue, zeitgemäße institutionelle ›Auffangnetze‹ wie ein gesetzlicher Mindestlohn und eine Reform der Allgemeinverbindlicherklärung gibt es noch nicht. Fast wäre die Axt sogar an einen Eckpfeiler gewerkschaftlicher Einflussmöglichkeiten gelegt worden: Die Abschaffung des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsgesetz wurde von Bundeskanzler Schröder in seiner Agenda-Rede 2003 implizit bereits angedroht. Die Zerstörung dieses Herzstücks des Tarifvertragssystems konnte damals nur durch den Pforzheimer Kompromiss der IG Metall mit dem Arbeitgeberverband vermieden werden (Haipeter 2009, 120). Zumindest dieser Teil des Institutionengebäudes konnte damit vor dem Abbruch bewahrt und in den folgenden Jahren sogar für wichtige Revitalisierungsinitiativen genutzt werden. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die deutschen Gewerkschaften in den eineinhalb Jahrzehnten vor der Krise eines bedeutenden Teils ihrer institutionellen Machtressourcen beraubt worden sind. Eine Reihe wichtiger Elemente aus dem EU-Katalog ›beschäftigungsfördernder Reformen‹ ist in diesen Jahren gegen den zum Teil eindrucksvollen, aber doch politisch machtlosen Protest der Gewerkschaften durchgesetzt worden.

Europapolitisch betrachtet hatte diese Machtverschiebung eine bemerkenswerte Konsequenz. Vor der Gründung der Eurozone wurde zuweilen die Befürchtung geäußert, dass innerhalb der Währungsunion Arbeitsplätze in einem Land durch Lohndumping in anderen Ländern gefährdet werden könnten, da die Lohnpolitik die einzig verbliebene makroökonomische Stellschraube zur Beeinflussung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit werde (Altvater/Mahnkopf 1993). Diese Befürchtung hat sich als durchaus begründet erwiesen, aber in einem ganz anderen Sinne als gedacht: Das ›Sozialdumping‹ ging von Deutschland aus. Heute werden die Peripherie-Länder – von einem niedrigeren Sozialniveau ausgehend – gezwungen, den deutschen Weg nachzuahmen und den dabei eingeschlagenen Kurs sogar noch erheblich zu verschärfen. So sind jetzt die Niederlagen der deutschen Gewerkschaften bis zur Mitte der 2000er Jahre, die erhebliche Schwächung ihres institutionellen Einflusses zum Problem der Gewerkschaften der übrigen Euro-Länder geworden.

So wurde eine Pendelbewegung des race to the bottom beim Abbau sozial ausgleichender Institutionen eingeleitet, die früher oder später wieder auf die deutschen Gewerkschaften und ihre institutionellen Einflussmöglichkeiten zurückschlägt. Im Moment mag dies noch weit hergeholt erscheinen. Es herrscht Ruhe im Auge des Sturms, der die Flurschäden in Südeuropa anrichtet. Die deutschen Gewerkschaften erfreuen sich eines wieder gewachsenen Ansehens nicht nur in großen Teilen der Bevölkerung, sondern haben sich durch pragmatische Kooperation bei der Krisenbewältigung 2008/2009 auch bei Regierung und Arbeitgeberverbänden als geschätzter Sozialpartner re-etabliert. Oder trügt dieser Eindruck?

 

Der Krisenkorporatismus und seine Grenzen – Bis zu den Krisengipfeln im Kanzleramt im Herbst 2008 waren die Gewerkschaften die großen Vorkrisen-Verlierer gewesen. Plötzlich wurden sie zum gefragten Kooperationspartner in der Erarbeitung von bis wenige Wochen zuvor noch als ›Gießkannenpolitik‹ abgelehnten Konjunkturprogrammen. Die Bundestagswahlen von 2009 standen vor der Tür, und jegliches Zögern beim Retten der ›Realwirtschaft‹ wäre angesichts der Milliardenausgaben und -bürgschaften für die Rettung von Banken zum politischen Desaster für die beiden großen Regierungsparteien geworden. Gestützt auf die aktive Mitarbeit der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften entstanden ein informeller »Krisenkorporatismus« (Urban 2012) und eine Renaissance der Sozialpartnerschaft auf allen Ebenen – vom kurzen Draht zwischen einzelnen Gewerkschaftsvorsitzenden und der Kanzlerin bis hin zu tausenden betrieblichen Notgemeinschaften (zum Folgenden vgl. mit unterschiedlichen Akzentuierungen Dribbusch 2012; Haipeter 2012; Urban 2012). Die Gewerkschaften steuerten nicht nur ihre Legitimationskraft und Ordnungsfunktion bei, sondern auch eigene Ideen und Initiativen – und letzteres sicherlich stärker als die Gewerkschaften in anderen europäischen Ländern, die in vergleichbare Konsultationen auf Spitzenebene einbezogen waren.

Eine weniger beachtete Schlüsselrolle in dieser neuen Sozialpartnerschaft spielten die Betriebsräte (Schwarz-Kocher 2012). Sie waren auf Arbeitnehmerseite die Schaltstelle für die vorrangige Nutzung der internen betrieblichen Flexibilitätspotentiale, also vor allem der Arbeitszeitkonten und der Kurzarbeit. Diese Schlüsselrolle spielten sie in enger Kooperation mit der Gewerkschaft. Hier liegt der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass die Gewerkschaften eine so große Bedeutung für das so genannte ›deutsche Beschäftigungswunder‹ hatten. Tripartistische Konsultationen gab es in vielen Ländern, aber das für Deutschland in den Jahren 2008/2009 typische, trotz einiger problematischer Aspekte relativ erfolgreiche Krisenmanagement auf betrieblicher Ebene unter aktiver und vielfach initiierender Beteiligung von Interessenvertretung und Gewerkschaften war eher die Ausnahme.

Um es zuzuspitzen: Die Stabilisierung des Arbeitsmarkts und der Wirtschaft während der Krise, mit der die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Erholung ab 2010 und den damit einhergehenden weiteren Anstieg der Beschäftigtenzahlen geschaffen wurde, war einer Reaktivierung genau derjenigen Elemente des deutschen Modells zu verdanken, die den neoliberal inspirierten Demontageeifer der Jahre davor überlebt hatten.

Diese Ironie der Geschichte macht auch die Grenzen des Krisenkorporatismus und die Widersprüchlichkeit der wiederbelebten Sozialpartnerschaft verständlich. Sozialpartnerschaft im Privatsektor beruht in erster Linie auf der institutionellen Macht der Industriegewerkschaften auf betrieblicher Ebene. Sie wird unterfüttert durch ein wieder erstarktes Selbstbewusstsein betrieblicher Interessenvertreter/innen, gepaart mit Erfahrung und Durchsetzungsfähigkeit. Sicherlich haben viele Betriebsräte die Belegschaften nicht in dem Maße an ihrer Politik der Krisenbewältigung beteiligt, wie sie dies vor der Krise vor allem in Konflikten um Tarifabweichungen zu praktizieren begonnen hatten. Dennoch gibt es gute Gründe für das Fragezeichen im Titel der Analyse von Detje u.a. (2011) – »Krise ohne Konflikt?« Zum einen mussten viele Arbeitgeber erst wieder lernen, den Betriebsrat und die örtliche Gewerkschaft als Verhandlungspartner auf Augenhöhe ernst zu nehmen. Zum anderen hat es auch während der Krise einen bedeutenden Arbeitskampf gegeben: die wochenlange Streikbewegung der Erzieherinnen. Dieser Streik war die größte gewerkschaftliche Aktion während der Krise, aber er hatte in der – mehrheitlich überraschend positiven – öffentlichen Wahrnehmung nichts mit der Krise zu tun. Das ist bemerkenswert, war dieser Konflikt doch ein Vorbote künftiger Auseinandersetzungen um die Konsequenzen von Schuldenbremse und Fiskalpakt. Doch zumindest für Außenstehende war dies nicht erkennbar. Das Fragezeichen muss insofern durch ein Ausrufungszeichen ergänzt werden: Die Scheu vor der Wahrnehmung eines gesellschaftspolitischen Mandats gehört zu den Schwächen in der Stärke der deutschen Gewerkschaften. Dies zeigte sich auch darin, dass in den Spitzengesprächen die weitergehenden Forderungen der IG Metall – wie die nach einem »public equity Fonds« – nicht durchsetzbar waren (Urban 2012). So bilanziert Deppe (2012, 87), dass in den Reden und Publikationen führender Gewerkschafter sowohl Systemkritik als auch Forderungen nach einem »Kurswechsel« vorgetragen wurden, aber »die politische Mobilisierung der Mitglieder wie der Organisation insgesamt vorsichtig zurückhaltend« blieb.

Ungeachtet aller Probleme haben sowohl der Krisenkorporatismus und das sozialpartnerschaftliche Krisenmanagement im Betrieb als auch die teilweise größere Konfliktbereitschaft, wie sie im KiTa-Streik demonstriert wurde, zur Stärkung des politischen Gewichts der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit beigetragen. Die in den 2000er Jahren vorherrschende Konfrontationspolitik und -rhetorik gegenüber den Gewerkschaften ist einstweilen eingestellt. Die Gewerkschaften haben seit 2010 stärkeren Rückenwind für eine aktivere Lohnpolitik. Gewerkschaftliche Forderungen wie die nach einem gesetzlichen Mindestlohn und einer Re-Regulierung von Leiharbeit stoßen auf breite Sympathien, so dass es die IG Metall wagen konnte, das Thema ›equal pay‹ in der Leiharbeit sogar ins Zentrum der Tarifrunde 2012 zu stellen.

Dies sind keine schlechten Voraussetzungen für eine selbstbewusste Vorbereitung auf die vorhersehbaren Konflikte, die den Gewerkschaften in den kommenden Jahren auch in Deutschland aufgezwungen werden. Die Leiharbeits- und Mindestlohnkampagnen von ver.di und IG Metall zielen auf zentrale Elemente einer »neuen Ordnung auf dem Arbeitsmarkt« (Bosch 2012). Mit tarifpolitischen Mitteln ist diese Re-Regulierung nur begrenzt durchsetzbar, ist sie doch gerade deshalb so vordringlich geworden, weil die unmittelbaren institutionellen Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften so sehr geschwächt wurden. Ohne die Neuordnung des Arbeitsmarkts ist die Durchsetzung einer Trendwende in der Einkommensverteilung illusorisch. Wenn es in der Lohnpolitik gelingen soll, »die abgehängten Wagen des Dienstleistungssektors wieder an die Lokomotive der Exportindustrie anzukoppeln« (Sterkel/Wiedemuth 2011, 31), sind die Gewerkschaften heute als ein autonomer politischer Akteur gefordert. Diese Rolle geht deutlich über die eines Konsultationspartners hinaus, die ihnen im Rahmen des Krisenkorporatismus zugestanden wurde.

Diese Herausforderung wird noch plastischer erkennbar, wenn man sich die zu erwartenden Probleme im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Fiskalpakts in Deutschland vor Augen führt. Wirtschaftliche Wachstumsraten, die eine konfliktlose Stärkung öffentlicher Dienstleistungen ermöglichen würden, können ausgeschlossen werden. Vielmehr wird das, was heute schon sehr viele Kommunen bewegt, auch ins Zentrum der nationalen Politik rücken: Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem wachsenden gesellschaftlichen (und auch wirtschaftlichen) Bedarf an öffentlichen, vor allem sozialen Dienstleistungen mit hoher Qualität einerseits und der durch den Fiskalpakt ›alternativlos‹ gemachten Verkleinerung des Sozialstaats durch Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, Streichung sozialer Maßnahmen und Verschlechterung des Dienstleistungsangebots andererseits. Hier kommt die Steuerpolitik durch die Hintertür auf die Tagesordnung, und die Industriegewerkschaften werden vor der Frage stehen, ob dies allein in die Zuständigkeit von ver.di und vielleicht noch der GEW fällt.

Die Agenda 2010 hat den Konflikt um die Primärverteilung politischer gemacht, und der Fiskalpakt konfrontiert jetzt die Gewerkschaften mehr und mehr mit der Frage, ob sie sich in den ohnehin politischen Konflikt um die Sekundärverteilung begeben. Eine offensive Umverteilungspolitik würde die Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates ins Zentrum stellen – ausgehend von der Tatsache, dass auch Industriebeschäftigte Kundinnen und Kunden öffentlicher Dienstleistungsangebote sind, die unter die Räder des Fiskalpakts kommen. Dann wäre die Auseinandersetzung um hochwertige öffentliche Dienstleistungen eine Angelegenheit aller Teile der Gewerkschaftsbewegung. Im Kampf gegen die Auswirkungen des Fiskalpakts haben die Gewerkschaften wenig Unterstützung aus den Parteien zu erwarten, die ihn nicht nur für Deutschland beschlossen, sondern dafür gesorgt haben, dass er auch den anderen Ländern aufgezwungen wurde. Das Problem des ›Brücken-Bauens‹ stellt sich nicht allein innerhalb Europas, sondern ebenso innerhalb des eigenen Landes: zwischen den Beschäftigten der Industrie einerseits und denen im öffentlichen Sektor andererseits.

Die sich abzeichnende, erneute Verlagerung des Krisenprozesses ist für die Entwicklung einer europäischen Gewerkschaftssolidarität von größter Bedeutung. Herrschte bislang noch der Eindruck vor, die Arbeitenden in Deutschland seien vom sich ausbreitenden sozialen Elend im Süden nicht unmittelbar betroffen, beginnt nun das Pendel zurückzuschwingen. In Grundsatzdokumenten wie dem »Manifest zur Europapolitik« von ver.di, dem »Kurswechsel für ein solidarisches Europa« der IG Metall und dem »Marshallplan für Europa« des DGB werden diese Wechselwirkungen bereits herausgearbeitet und Alternativen vorgeschlagen. Aber niemand weiß, welche Relevanz diese Programme für das praktische Handeln der Gewerkschaften bekommen können, wie die Kluft zur gewerkschaftlichen Alltagspraxis überwunden werden kann. Klar ist nur eines: Für den Krisenkorporatismus in Deutschland sind sie ein paar Nummern zu groß, denn zu diesen Themen ruft die Kanzlerin nicht an. Umso wichtiger sind neue Erfahrungen wie die in der Metallindustrie, wo es erstmals gelungen ist, Interessen von (zudem häufig schwach organisierten) ›Randbelegschaften‹ zu einem Mobilisierungsthema in der Tarifrunde 2012 auszubauen. ›Equal pay‹ berührt auch die Interessen der Stammbelegschaften.

Solidarität beruht nicht allein auf Mitgefühl, sondern immer auch auf Eigeninteresse. Europäische Solidarität zwischen ›Kern‹ und ›Rand‹ funktioniert da im Prinzip nicht anders, ist allerdings wesentlich schwieriger zu vermitteln. Solidarität auch im eigenen Interesse – was zunächst als europapolitische Herausforderung erscheint, entpuppt sich mehr und mehr zugleich als Herausforderung im eigenen Land. Doch der Schritt von der Erkenntnis zur Praxis setzt ein hohes Maß an politischer Konfliktbereitschaft voraus.

 

4. Ausblick – Von der Systemkritik zur Regierungskritik

Die Gewerkschaften einer Reihe von Ländern der Eurozone blicken auf Jahre der Demontage institutioneller Machtressourcen zurück. Die größten Verlierer der Vor-Krisenzeit waren die deutschen Gewerkschaften. Die Schwächung des deutschen Tarifvertragssystems und die Niederlage in der Auseinandersetzung um die Agenda 2010 hatten weitreichende Folgen, die exakt im Jahre 2010 in den heutigen Krisenländern der Eurozone dramatisch an die Oberfläche traten. Eine Währungsunion, deren größte Volkswirtschaft durch Lohnsenkungen den eigenen Binnenmarkt nahezu einfriert, den ›Partnerländern‹ damit Exportmöglichkeiten raubt, und mit ihren Überschüssen zugleich Kreditblasen-getriebene Scheinblüten in anderen Ländern finanziert – eine solche Währungsunion kommt unvermeidlich früher oder später an den Rand des Zusammenbruchs. 2010 war es soweit. Die Beinahe-Katastrophe wurde nun genutzt, auch in den Krisenländern die institutionellen Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften abzubauen. In Spanien und Griechenland geschieht dies mit einem Radikalismus, der weit über das deutsche Vorbild hinausgeht. In beiden Ländern sind die Gewerkschaften heute eines großen Teils ihrer institutionellen Ressourcen beraubt, und mit der Selbst-Demontage der sozialdemokratischen Parteien, denen sie traditionell nahestanden, sind sie auch politisch weitgehend auf sich allein gestellt.

Aus diesem länderübergreifenden Wechselspiel institutioneller Entmachtung und politischer Schwächung von Gewerkschaften ergibt sich zunächst eine einfache, aber wenig beachtete Konsequenz: Für eine wirkungsvolle Koordinierung der tarifvertraglichen Lohnpolitik, die aus gutem Grund ganz oben auf der Agenda der Gewerkschaften im Euroraum steht, gibt es keine ausreichende institutionelle Basis mehr. Gewerkschaften aus Ländern mit einer ungebrochenen Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen mögen noch über wirksame Möglichkeiten der Lohn-Koordinierung verfügen. Doch dies gilt (zu Jahresbeginn 2013) noch für sieben der 17 Euroländer. Für Deutschland und die meisten übrigen Eurozonen- und EU-Länder muss nüchtern festgestellt werden, dass gewerkschaftliche Tarifpolitik lediglich der zweit- oder gar drittwichtigste Einflussfaktor für die Entwicklung der Durchschnittslöhne ist. Die Hauptrolle spielen wenig regulierte Marktkräfte, und auch politische Entscheidungen wie die über die Höhe des Mindestlohns können in einigen Ländern wichtiger als die Tarifpolitik sein. Dies macht die Koordinierung der tarifvertraglichen Lohnpolitik selbstverständlich nicht überflüssig, aber der Kampf um politisch gesetzte EU-weite Mindeststandards dürfte heute bereits wichtiger sein.

Die zweite Konsequenz der länderübergreifenden Pendelbewegung im Prozess institutioneller Schwächung der Gewerkschaften besteht darin, dass die Marktkonkurrenz zwischen den Volkswirtschaften und Staaten der Eurozone sich derart verschärft hat, dass sie teilweise bereits den Charakter eines Verdrängungswettbewerbs angenommen hat. Die Übertragung von Prinzipien der Marktkonkurrenz auf Staaten in der Konstruktion der Europäischen Währungsunion ist geradezu absurd (Troost/Hersel 2012). Praktisch führt sie zu einem rasanten wirtschaftlichen und sozialen Auseinanderdriften der Euroländer. Die Kluft zwischen den Problemlagen, denen sich Gewerkschaften in den einzelnen Ländern gegenübersehen, ist enorm, und breite länderübergreifende Solidaritätsbewegungen sind gegenwärtig kaum vorstellbar (was den Versuch, sie zu entwickeln, selbstverständlich nicht überflüssig macht). Strategisch ist es zwar offensichtlich, dass grundlegende Weichenstellungen, die den Prozess des Auseinanderdriftens aufhalten oder gar umkehren könnten, vor allem auf EU-Ebene nötig und möglich sind. Angesichts der Versuche der EU-Kommission, die Gewerkschaften – z.B. im Rahmen eines ›trilateralen Meinungsaustauschs über Lohnentwicklungen‹ – in ihre zerstörerische Politik der ›Strukturreformen‹ einzubeziehen, sind die Gewerkschaften herausgefordert, sich auch auf dieser Ebene eindeutiger oppositionell zu positionieren und ihre Europapolitik über »das Reservat des professionellen Gewerkschaftsdiplomaten« (Hyman 2011, 67) hinauszuführen.

Doch das löst nicht das Problem, wie sie die Ferne zwischen dieser Politikebene und ihren jeweiligen nationalen Konfliktfeldern überbrücken können. Wenn Händel/Puskarev (2012, 15) fordern, dass »die Entwicklung eines integrierten Konzepts demokratisch kontrollierter Zukunftsentwicklung für Europa […] nicht einer Task-Force der EU-Kommission überlassen werden darf«, sprechen sie die Achillesferse jeglicher EU-Politik an: die demokratische Fundierung. Die demokratische Herausforderung annehmen bedeutet für die Gewerkschaften, das bisherige Elitenprojekt ›Europa‹ zu einem Anliegen ihrer Mitglieder zu machen, indem sie Europapolitik als Teil gewerkschaftlicher ›Innenpolitik‹ betreiben. Dies wird ihnen mehr und mehr durch die Verhältnisse selbst aufgedrängt. Die krisenverschärfende Krisenbekämpfung macht die Schwächung der einen zum Problem der anderen und kann alle miteinander in die Marginalisierung treiben – die einen früher, die anderen später.

Die daraus erwachsenen Herausforderungen sind – bei allen nationalen Unterschieden – überraschend ähnlich. Die Gewerkschaften haben in den einzelnen Ländern keine Wahl, die Krisenpolitik auf nationaler Ebene zu bekämpfen. Dies gilt auch für Deutschland. Der Bumerang, den die Bundesregierung auf die Krisenländer wirft, wird sehr bald in Gestalt zunehmender Lohnkonkurrenz den deutschen Beschäftigten auf die Füße fallen – wenn dem nicht durch eine Neuregulierung des Arbeitsmarkts entgegengewirkt wird. Und die Auswirkungen von Schuldenbremse und Fiskalpakt werden in den kommenden Jahren immer schmerzhafter zu spüren sein, so dass aktive Umverteilungspolitik per Steuerreformen ganz oben auf die politische Tagesordnung rücken wird.

Da ist politische Autonomie der Gewerkschaften gefordert. Dies bedeutet, über die reine Verteidigung früherer Errungenschaften hinauszugehen und eigene Alternativen zu entwickeln. Dies nicht, um politische Parteien zu ersetzen, sondern aus der Einsicht heraus, dass diese zur Berücksichtigung gewerkschaftlicher Vorstellungen gedrängt werden müssen. Es ist die Rolle eines »konstruktiven Vetospielers« (Urban 2012), die nicht unbedingt zur Tradition der südeuropäischen Gewerkschaften gehört. Den deutschen Gewerkschaften dagegen liegt das Konstruktive schon eher. Aber die politische Mobilisierung für das Veto ist ihnen weniger vertraut als ihren südeuropäischen Schwesterorganisationen.

Angesichts des gewachsenen politischen Gewichts und öffentlichen Ansehens, das sich die deutschen Gewerkschaften in den vergangenen Jahren durch Kooperation und Konfliktbereitschaft erworben haben, könnte ihnen das Beschreiten dieses Neulands leichter fallen. Sie haben in den vergangenen Jahren deutlicher als zuvor Systemkritik geübt und wichtige Überlegungen zu dringend notwendigen neuen politischen Weichenstellungen vorgelegt. Die – zweifellos schwierige! – Aufgabe anzugehen, für eine große Umverteilungsinitiative und eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu mobilisieren, wäre ein radikaler weiterer Schritt: von der Systemkritik zur praktischen und konstruktiven Regierungskritik. In anderen europäischen Ländern werden die Gewerkschaftsmitglieder sofort verstehen, was das mit ihren eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen und mit Europa zu tun hat. Die deutschen Gewerkschaften müssen ihren Mitgliedern diesen Zusammenhang nicht verschweigen. Ein Kurswechsel in Deutschland verschafft allen anderen mehr Luft zum Atmen. Bis auf weiteres werden politische Veränderungen in Europa durch Veränderungen in einzelnen Mitgliedsländern ausgelöst oder gefördert. Und da sind aus gutem Grund alle Blicke auf Deutschland gerichtet. Soziale Reformen in Deutschland sind für Europa nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts.

 

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1 Vgl. zum Organisationsgrad und zur Tarifbindung ICTWSS Database; zum Organisationsgrad im öffentlichen Dienst European Commission 2006.

2 Hamann u.a. 2012 definieren Generalstreiks als landesweite Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten verschiedener Branchen, die gegen Regierungsmaßnahmen gerichtet sind. Von den erhobenen 118 Generalstreiks in Westeuropa von 1980 bis 2011 haben 50 in Griechenland stattgefunden. Es folgen Italien mit 22, Frankreich mit 13 und Spanien sowie Belgien mit jeweils acht Generalstreiks.

3 Auf die vom griechischen und spanischen Muster teilweise abweichenden Entwicklungen in diesen beiden Ländern kann hier leider nicht näher eingegangen werden. Zum Folgenden vgl. die oben angegebenen Quellen sowie zu Griechenland Karamessini 2012 und Lanara 2012, sowie zu Spanien Banyuls/Recio 2012 und Vincent 2012. Alle Angaben beziehen sich auf den Stand Herbst 2012.

4 Beispielsweise hielten 62 % der Spanier den Generalstreik in Spanien vom November 2012 laut einer repräsentativen Befragung für »gerechtfertigt«, doch zugleich hielten ihn 49 % für »nicht opportun«; 40 % der Beschäftigten erklärten die Absicht, sich an dem Streik zu beteiligen (FAZ, 29.10.2012).