Wie uns die Dinge durch unser Tun beherrschen
„Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun.“ (Aristoteles, Metaphysik)
„Im Anfang war die Tat.“ (K. Marx, Das Kapital Bd. 1)
Wir können nicht anders. Was unsere Spezies gerne einer nicht ganz unhübschen Sorte Wühlmäuse unterstellt, betreibt sie selbst mit kollektivem Eifer, in zunehmender Rasanz und selbst/mörderischer Konsequenz. Wir veröden fruchtbare Böden, vermüllen ganze Ozeane, verpesten die Atmosphäre – wenn hier nicht mehr wie noch in den 1980ern, dann umso mehr anderswo –, wir überziehen die Landschaft mit hoch- und tiefgebauten Scheußlichkeiten, nehmen die Zerstörung der Lebensräume von Milliarden Menschen in Kauf, hetzen uns selbst oder gegenseitig ins Burnout, wir scheißen auf die Verhungernden in Afrika oder sonstwo, auf die kommenden Generationen sowieso, suchen Trost in trostlosem Konsum, mokieren uns über die gemeingefährliche Dummheit der anderen, automobilisieren noch staatlich gefördert, wir liefern uns samt unseren Liebsten dem Markt aus, strudeln uns ab und schlagen mehr oder weniger ambitioniert die Zeit tot. Wir sehen zu, wie wir (unser) Leben vergeuden.
Befangen
Nein, selbstverständlich wollen wir das so nicht. Aber wir handeln danach – teils gleichgültig, teils widerwillig, gedankenlos oder ohnmächtig. Fehlt es an Einsicht, scheitern wir an der Maßlosigkeit Einzelner, an massenhafter Völlerei, menschlicher Hybris oder am individuellen Starrsinn? Droht uns die „gerechte Strafe“, weil wir „von Natur aus“ unersättlich sind, kein „Genug“ an-er-kennen? Und niemand da, um dem destruktiven Treiben Einhalt zu gebieten? Und wer oder was überhaupt treibt uns, und wozu?
Betrachten wir uns einmal als ein durchschnittlich umtriebiges, zwischen Zielstrebigkeit und Wankelmut, Gefühl und Ratio changierendes Einzelwesen, durchaus kompromissbereit, gelegentlich widerständig. Ein mehr oder weniger gegenüber der Umwelt, wie auch dem mitmenschlichen Umfeld freundlich gestimmtes Individuum in unserer modernen westlichen Welt. Mit Verpflichtungen, Vorlieben und Talenten, nicht ohne Sorgen, mit hinreichend Verstand und auch Bosheit, vielleicht sogar mit Träumen. So ein Individuum will für sich, wenn nicht das Beste, so doch zumindest was haben vom Leben. Nicht unbedingt gegen die anderen, durchaus aus eigener Kraft, selbstbestimmt und auch mal aus purer Lust und Laune. Geradezu allergisch fällt die Reaktion aus, wollte jemand sich da einmischen. Allen täglichen, durchaus auch so empfundenen objektiven Zwängen zum Trotz glauben wir uns weitgehend in Freiheit. Auf diese Freiheit pocht unsereins. Frei zu tun oder zu lassen, frei ordentlich was zu leisten um sich was Ordentliches zu leisten. Freilich – und das versteht sich gewissermaßen von selbst – auf Grundlage der bürgerlich-demokratischen Ordnung. Oder, sagen wir, auf Grundlage der herrschenden Verhältnisse. Money makes the world go around, soviel weiß das bürgerliche Subjekt. Und in der Tat beweist sich das Tag für Tag.
So heißt es denn vernünftig sein – im Rahmen der Verhältnisse.
Von Menschen und Dingen
Totemkult und Reliquienverehrung liegen uns fern, sind jedenfalls nicht sonderlich geachtet. Das aufgeklärte bürgerliche Exponat hat die Dinge im Griff und bekennt sich gar nicht ungern zu „seinen“ Fetischen. Sie gelten ihm ganz selbstbewusst als Ausdruck der je eigenen Persönlichkeit. Zwar ist Fetisch-Ästhetik längst Teil des popkulturellen Mainstream, ein ehemals vielleicht noch subversiver Anspruch nicht einmal mehr in Spurenelementen erkennbar, für eine gezielte Provokation, einen leicht verruchten Touch, ein sich Akzentuieren, ein „Outing“ in fröhlicher Runde oder auch nur stillschweigendes Sich-Abheben reicht es allemal. Überhaupt kann eins hie und da einen kleinen Kick gebrauchen.
Die Welt der uns umgebenden Dinge erscheint uns gewöhnlich recht gewöhnlich und wird allenfalls in ihren „Auswüchsen“ hinterfragt. Konsumsucht wird kaum gut geheißen, Fälle allzu strenger Markengläubigkeit durchaus verspottet. Echtes Befremden löst ein beliebiges Fertigteil aber nur aus, ist es gar zu offensichtlich für die Halde produziert. Ansonsten gilt die oberflächliche Vielfalt als sakrosankt, auch wenn langsam auffällt, dass der Nuancenreichtum, so nicht ohnehin bloß vorgegaukelt, in Wahrheit beständig schwindet.
Eine Ware – ob simpel oder raffiniert – ist uns so alltäglich, so trivial, wie irgendetwas nur sein kann. Magisch anziehend im Einzelfall, das ja, nicht selten überflüssig, notwendiger Gebrauchsgegenstand oder zum Verzehr geeignet, vielleicht auch hässlich, trashig, unbrauchbar, ein bloßer Staubfänger, doch keinesfalls nachhaltig verstörend.
Ganz anders in der Marxschen Analyse. Hier erweist sich, was uns so selbstverständlich erscheint, als „ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“, als „sinnlich übersinnliches Ding“, „rätselhaft“ und „geheimnisvoll“.
Wie das? Was vermag einen uns so vertrauten, x-beliebigen Gebrauchsgegenstand, entstanden mehr oder weniger direkt von menschlicher Hand, derart zu verwandeln? Wodurch verändert sich sein „Charakter“, wird „rätselhaft“, sobald er Warenform annimmt? Es ist eben diese Form! „Das Geheimnisvolle der Warenform“, führt Marx dazu aus, besteht darin, „dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt.“ Der „Fetischcharakter der Warenwelt entspringt ... aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.“ In einer entwickelten Marktwirtschaft wird der gesellschaftliche Zusammenhang auf ganz spezifische, einzigartige Weise hergestellt. Erst über den Austausch des von uns unabhängig voneinander Produzierten treten wir – im Nachhinein! – in Kontakt. Mit dem unbeabsichtigten Effekt, darauf verweist uns Marx, dass die wechselseitigen Beziehungen der Produzierenden als gegenständliche Eigenschaften der Arbeitsprodukte selbst erscheinen. Es ist aber eben, darauf besteht er wiederholt, „nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ Und weiter: „Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (Alle Zitate, sofern nicht anders angegeben, entstammen dem Abschnitt „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“, MEW 23, 85ff.)
Sachzwang
Im Kapitalismus, so Marx, besitzt die „eigne gesellschaftliche Bewegung“ für die Menschen „die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ Das zu behaupten ist keine Kleinigkeit. Es erklärt den Fetischismus geradezu zum Wesensmerkmal der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.
Halten wir uns nochmals den „gegenständlichen Schein“ der Ware vor Augen. Wiewohl nüchtern betrachtet, sehen wir die Sache gewissermaßen doppelt: einerseits als – unterstellen wir das mal – nützliches Ding, andererseits als Wertding. Das haben wir uns so angewöhnt, einfach dadurch, dass wir unsere Arbeitsprodukte tauschen. Um sie überhaupt austauschen zu können, müssen wir von ihrer jeweils besonderen Qualität absehen, wir müssen sie sozusagen auf einen gemeinsamen Nenner bringen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft wie der unsrigen vollzieht sich das „praktischerweise“ über ein allgemeines Äquivalent (vulgo Geld). So alltäglich dieser Vorgang für uns ist, so weitreichend sind seine Konsequenzen. Dadurch, dass wir auf spezifische Weise verschiedenartige Dinge (oder auch Dienste) für andere bereitstellen und sie mit Produkten und Leistungen für unseren eigenen Bedarf wechselseitig ins Verhältnis bringen, d.h. sie einander gleichsetzen, werden die tatsächlich zugrundeliegenden Verhältnisse offenbar auf den Kopf gestellt. Unwissentlich – die Gleichsetzung ist dem Tauschakt durchaus nicht bewusst vorausgesetzt, vielmehr resultiert sie aus dieser Handlung – haben wir uns durch unser scheinbar so banales Tun etwas eingehandelt, das in beträchtlichem Ausmaß unsere Handlungsweise bestimmt.
Der Wert, wiewohl nur durch einen gesellschaftlichen Gewohnheitsakt hervorgebracht, scheint der Ware innezuwohnen, als wäre er ihre Eigenschaft, eine gleichsam „übernatürliche Eigenschaft“. Zur Vollendung kommt der „falsche Schein“ in der Geldform. „Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eigenen Resultat und lässt keine Spur zurück. ... Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozess und daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eigenen Produktionsprozesse erscheinen zunächst darin, dass ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen. Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetisch.“ (MEW 23, 107f.)
Ein Trugbild und doch nichts weniger als eine einfache Täuschung. Der „zu sich gekommene“, quasi-verselbständigte Wert steht uns in Form von Geld und Kapital als eine höchst reale „sachliche“ Macht gegenüber. So erleben wir es, das ist keine Einbildung. Seine Logik wird durch das Handeln der Menschen hindurch wirksam, unabhängig vom Bewusstsein und den Absichten der Einzelnen. Als vereinzelte Einzelne bleiben wir Mitgefangene in diesem Prozess. Wenn das auch niemanden der persönlichen Verantwortung enthebt: Empathie im Umgang oder nach unten zu treten, das macht schon einen Unterschied. Sich Fügen bedeutet letztlich immer auch Zustimmung.
Frei gesetzt in der Konkurrenz zwingt uns der Wert seine Gesetze auf, macht, was seiner „Natur“ entspricht – ökonomisches Wachstum und betriebswirtschaftliche Effizienz etwa –, zur äußerlichen Notwendigkeit für die Menschen, macht sie real wirksam. Die bürgerlich-demokratische Freiheit ist die des Wettbewerbs aller gegen alle: „Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen.“ (MEW 42, 551, Hervorh. PZ)
Schlüsselbegriff
Das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ war Marx’ selbstgestellte Aufgabe. Wenngleich – und darüber lässt er uns keinen Moment im Unklaren – in Form umfassender Kritik mit dem Ziel, eben diese Verhältnisse umzuwerfen. Mit seiner Fetischismuskritik hat er uns einen Schlüssel dazu in die Hand gegeben.
Der Fetischismus, der der Warenwelt anhaftet, verschwindet nicht einfach, indem wir uns die Augen reiben oder ihn ins Bewusstsein heben. Auch wenn letzteres eine notwendige Voraussetzung für ersteres ist. Als blindes Resultat unserer gesellschaftlichen Praxis (der Warenproduktion) bleibt er wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Die bewusste Überwindung des gesellschaftlich Unbewussten geht mit dem Abschied von den uns so vertrauten Formen (Ware, Geld, Arbeit) einher. Der Fetisch verliert seine Macht, sobald unser Tun, unsere Produkte und Zuwendungen, unmittelbar zum gesellschaftlichen Ganzen beitragen und nicht erst eine „von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt“ annehmen müssen. Wenn wir also unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form koordinieren, erst dann wird sich zeigen: Wir können auch anders.