Historisches Urteil in Chile gegen führende Mitglieder der Colonia Dignidad durchbricht den Kreislauf der Straflosigkeit im Fall der Deutschen-Siedlung
Wegen des systematischen sexuellen Missbrauchs in der Colonia Dignidad wurden 21 Personen verurteilt, sechs davon zu mehrjährigen Gefängnisstrafen. Fünf von ihnen haben in Chile ihre Haft bereits angetreten. Der sechste, Hartmut Hopp, lebt bislang straflos in Deutschland. Opfergruppen fordern die Beschleunigung des Verfahrens gegen Hopp bei der Krefelder Staatsanwaltschaft sowie einen Beitrag der Bundesregierung für den Bau einer Gedenkstätte in Chile. Derweil steht die strafrechtliche Aufarbeitung der in der Siedlung begangenen Menschenrechtsverbrechen wie Folter und Mord noch aus.
Nach dem Mittagessen im Regierungspalast La Moneda betonten Chiles Präsident Sebastián Piñera und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an jenem letzten Januarsamstag die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern. Eine Erklärung zur Zusammenarbeit im Bereich Bergbau und mineralische Rohstoffe wurde unterzeichnet. Das Urteil von Chiles Oberstem Gerichtshof in Sachen Colonia Dignidad (siehe Editorial dieser Ausgabe) war zu diesem Zeitpunkt bereits gesprochen. Mit Rücksicht auf die Bundeskanzlerin wurde es jedoch erst nach ihrer Abreise öffentlich verkündet.
Die Verurteilung deutscher Staatsbürger, die jahrzehntelang straflos in Chile Verbrechen begangen hatten, passte nicht so recht ins Bild der harmonischen Beziehungen und des Ausbaus zukunftsträchtiger Wirtschaftskontakte. Der Fall Colonia Dignidad hatte bis vor wenigen Jahren die bilateralen Beziehungen zwischen Chile und Deutschland stark belastet. Das war einmal.
Wegen Beihilfe zur Vergewaltigung und zum sexuellen Missbrauch, sowie Kindesentführung und Kindesentzug hat das Gericht nach 17-jähriger Verfahrensdauer sechs Führungsmitglieder der Colonia Dignidad zu sofort vollziehbaren Haftstrafen zwischen fünf und elf Jahren verurteilt, 15 weitere Personen erhielten Bewährungsstrafen. Seine besondere Symbolik erlangt dieses Urteil dadurch, dass nun erstmals auch die Komplizen des Sektenchefs Paul Schäfer rechtskräftig zu effektiven Haftstrafen verurteilt wurden. Schäfer selbst wurde 2005 festgenommen und starb 2010 im Gefängnis. Fünf der nun Verurteilten wurden drei Wochen nach dem Urteilsspruch festgenommen und ins Gefängnis von Cauquenes verbracht.
Verónica Fuentes, die Mutter von einem der Opfer, zeigte sich „zufrieden, da wir so lange auf Gerechtigkeit gewartet haben“. Allerdings sei die Erinnerung schmerzlich, da ihr Sohn Rodrigo Salvo vor fünf Jahren einem Krebsleiden erlag. Rodrigo war Anfang der neunziger Jahre in das „Intensivinternat“ der Colonia Dignidad aufgenommen worden. Die Familien, die ihre Kinder in die Siedlung gaben, stammten aus einfachen Verhältnissen. Die Kolonieführung versprach eine gute Ausbildung bei kostenloser Verpflegung und Unterkunft. Ein verlockendes Angebot. Nachdem Eltern einiger missbrauchter Kinder 1996 erstmals Strafanzeige erstattet hatten, wurde Rodrigo von Führungsmitgliedern der Colonia entführt, vermutlich um eine ärztliche Feststellung von Missbrauchsspuren zu verhindern. Der Schäfer-Vertraute Albert Schreiber, dessen Frau Lilli und der gemeinsame Sohn Ernst reisten mit ihm fast zwei Jahre lang durch Chile und entzogen ihn seiner Mutter und den chilenischen Ermittlungsbehörden. Nachdem Rodrigo in Santiago wieder freigelassen worden war, flüchteten die drei Schreibers vor dem Zugriff der chilenischen Justiz nach Deutschland. Sie ließen sich in Krefeld nieder, wo auch die Freie Volksmission Krefeld des evangelikalen Predigers Ewald Frank ihren Sitz hat.
Gegen Frank, dessen urchristlicher Diskurs Parallelen zu dem Paul Schäfers aufweist, verhängte Chiles Innenministerium im Oktober 2005 ein Einreiseverbot. Er war mehrfach in die Colonia Dignidad gereist. Das chilenische Innenministerium befürchtete, Frank könnte sich zum Nachfolger Schäfers aufschwingen. Nun durfte Frank nicht mehr nach Chile, jedoch kamen nach Deutschland zurückgekehrte Siedler zu ihm nach Krefeld: Etliche von ihnen haben die Gottesdienste Franks besucht. Darunter auch die Familie Schreiber. Und Hartmut Hopp, der im Mai 2011 Chile auf dem Landweg verlassen hatte und über Argentinien und Paraguay nach Deutschland geflüchtet war. Hartmut Hopp ist der sechste der Ende Januar von der chilenischen Justiz zu einer rechtskräftigen Haftstrafe Verurteilten. Fünf Jahre Gefängnis lautet sein Strafmaß. Bereits 2011 hatte Chile einen Auslieferungsantrag an Deutschland gerichtet. Deutschland lehnte unter Verweis auf das Auslieferungsverbot eigener Staatsbürger_innen im Grundgesetz ab.
Während die mit ihm verurteilten Führungsmitglieder der Colonia Dignidad inzwischen im Gefängnis von Cauquenes untergebracht sind, wohnt Hartmut Hopp mit seiner Frau Dorothea in Krefeld. Im August und Oktober 2011 haben das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf Strafanzeigen gegen ihn erstattet. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Krefeld gegen Hopp wegen Mordes, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch und gefährlicher Körperverletzung. Eine Reihe von Zeug_innen wurden inzwischen gehört und ein Rechtshilfeersuchen an Chile ist in Vorbereitung. Den Opfern und ihren Rechtsanwält_innen geht das jedoch zu langsam. Hernán Fernández, Opferanwalt in verschiedenen Colonia-Dignidad-Verfahren, verweist auf die Geschichte: „Von 1985 bis 2010 ermittelte die Staatsanwaltschaft Bonn unter anderem gegen Schäfer und Hopp ergebnislos, alle Verfahren wurden eingestellt“. Hartmut Hopp sei nicht die erste wichtige Führungsperson, die nach einer Flucht von Chile nach Deutschland einen straflosen Lebensabend verbracht habe. „Zuvor war es Albert Schreiber, davor Alfred Matthusen. Das hat System. Deutschland muss endlich Verantwortung für die Verbrechen seiner Staatsbürger übernehmen.“
Folteropfer und Angehörige von Verschwundenen in Chile haben unterdessen das Urteil begrüßt, gleichzeitig jedoch darauf hingewiesen, dass im Bereich der Untersuchungen wegen Folter und Ermordung von politischen Häftlingen in der Colonia Dignidad immer noch kein einziges rechtskräftiges Urteil vorliegt. „Wir hoffen, dass dieses Urteil nur das erste einer Reihe von Urteilen zu den Verbrechen der Colonia Dignidad ist“, sagte Lorena Pizarro, Vorsitzende der Angehörigenorganisation der Verschwundenen (AFDD). Es sei nun Eile geboten, da 40 Jahre nach dem Militärputsch die Täter bald sterben könnten. Es bestehe auch die Gefahr, dass interessierte Kreise dieses Urteil nun als den Schlusspunkt der Untersuchungen im Fall Dignidad darstellen.
Zu diesen interessierten Kreisen gehören viele der derzeitigen Bewohner_innen der Siedlung, die sich heute Villa Baviera nennt. Den Namen Colonia Dignidad und seine Vergangenheit möchten sie hinter sich lassen. Neben anderen wirtschaftlichen Aktivitäten setzen die etwa 170 verbliebenen Bewohner_innen auf den Tourismus. Kürzlich wurde mit Unterstützung chilenischer Staatsgelder das Hotel Baviera eröffnet. Der deutsche Staat unterstützt die Firmen der Colonia über die GIZ durch Betriebsberatung und Infrastrukturprojekte. Die Villa Baviera wirbt mit „deutscher Tradition“ und organisiert Oktober- und Bierfeste. Die Vergangenheit des Ortes wird dabei mit keinem Wort erwähnt. Ganz im Gegenteil. Am Wochenende nach dem Urteilsspruch der Corte Suprema organisierte die Kolonie eine große Versteigerung, bei der persönliche Objekte von Paul Schäfer meistbietend verkauft wurden. Sein Rasierapparat, sein Telefon, das Megafon durch das er seine Befehle schrie. Auch der Mercedes, den Hartmut Hopp bei seiner Flucht nach Deutschland zurücklassen musste, war dabei. Moderiert wurde die Veranstaltung von Wolfgang Zeitner, ehemaliger Leibwächter Schäfers. „Die Bedeutung dieser Versteigerung besteht darin, dass wir uns unserer Vergangenheit entledigen“, sagte dieser der Presse. Auch ein alter Krankenwagen, Mercedes Baujahr 1970, kam unter den Hammer.
„In diesem Krankenwagen wurde ich als Gefangene von Talca in die Colonia Dignidad gebracht, wo ich von Deutschen und DINA-Agenten brutal gefoltert wurde. Er wurde einfach so versteigert. Es ist brutal, wie hier mit dem Schmerz der Opfer umgegangen wird.“ Adriana Bórquez, 77, wird am Montag nach der Versteigerung in ihrem Rollstuhl sitzend in die Moneda, den Regierungspalast von Santiago, geschoben. Zusammen mit anderen will sie einen offenen Brief übergeben, der wenig später auch in der Deutschen Botschaft abgegeben wird. In dem Brief fordern Folteropfer und Angehörigenorganisationen der Verschwundenen und Diktatur-Gedenkstätten eine Beschleunigung der Verfahren wegen Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad. Etwa ein Dutzend Verfahren sind bei der chilenischen Justiz anhängig. An die deutsche Seite gerichtet wird ein schnelles Verfahren gegen Hartmut Hopp verlangt und ein Eingeständnis der Bundesregierung, dass Deutschland in der Vergangenheit „keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hat, um den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad ein Ende zu bereiten.“ Beide Staaten sollten ihre Verantwortlichkeiten und Unterlassungen eingestehen und Gedenk- und Erinnerungsmaßnahmen unterstützen, die sichtbar machen, was in der Colonia Dignidad geschah. Vorgeschlagen wird der Bau einer Gedenkstätte oder eines Mahnmals am Eingang zur Colonia Dignidad. „Wir werden im März den Deutschen Botschafter um einen Termin bitten, um ihm vorzuschlagen, dass die Bundesregierung die Finanzierung der Unternehmen der Colonia Dignidad einstellt und sich stattdessen am Bau eines Gedenkortes beteiligt“, sagte Margarita Romero, Leiterin der Gedenkstätte Villa Grimaldi anlässlich der Briefübergabe.
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Die Verurteilten
Drei der fünf inzwischen ins Gefängnis von Cauquenes verbrachten Täter sind Colonia-Dignidad-Führungsmitglieder der ersten Stunde: Gerd Seewald (90), Kurt Schnellenkamp (87) und Gerhard Mücke (79) waren bereits 1961, als die Gruppe um Paul Schäfer nach Chile auswanderte, enge Vertraute des Sektenchefs. Gegen sie laufen in Chile auch noch eine Reihe anderer Gerichtsverfahren wegen Folter und Ermordung politischer Gefangener, sowie wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Gerhard Mücke hielt während der Diktatur direkte Kontakte zur Geheimpolizei DINA und soll auch an Folterungen und Erschießungen beteiligt gewesen sein. Schnellenkamp gestand vor Gericht, politische Gefangene in die Kolonie gebracht zu haben und im engen Kontakt zu dem deutschen Waffenhändler Gerhard Mertins gestanden zu haben. Gerd Seewald war für das Geheimarchiv der Siedlung zuständig, das 2000 und 2005 aufgefunden wurde. Es beinhaltet mit nachrichtendienstlichen Methoden erzielte Informationen über Politiker, Unternehmer und Militärs sowie Transkriptionen von Foltersitzungen an politischen Gefangenen.
Günther Schaffrik (53) und der adoptierte Chilene Dennys Alvear (54) hingegen gehören zur nächsten Generation der Dignidad-Führung. Schaffrik war bis zu seiner Festnahme Geschäftsführer der Aktiengesellschaft der Colonia Dignidad ABRATEC. Alvear war „Sicherheitschef“ in der Colonia. Mücke und Schaffrik erhielten eine Haftstrafe von elf Jahren. Seewald, Schnellenkamp und Alvear wurden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ebenfalls zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde Hartmut Hopp.