»600 Jahre vogelfrei«

Zur Aktualität antiziganistischer Gewalt in Europa

In den letzten Wochen und Monaten wurde in der kritischen und linken Öffentlichkeit in Deutschland zunehmend über die pogromartigen Demonstrationen und Ausschreitungen gegen Roma in der Tschechischen Republik und in Bulgarien berichtet und diskutiert.

In der tschechischen Republik kam es seit Ende August 2011 in der Region Sluknovsky vybezek (Schluckenauer Zipfel) zu regelmäßigen Versuchen, Wohnungen und Häuser von Roma anzugreifen. Die tschechische Polizei konnte erst verspätet und unter massivem Aufgebot den demonstrierenden Mob aus »normalen« Bürger_innen und Neonazis daran hindern, zu den von Roma bewohnten Häusern vorzudringen. Die Massenaufläufe begannen am 26. August, als sich in Rumburk nach einer Kundgebung der Menschenauflauf selbstständig machte und unter Rufen wie »Cikáni do prace!« (»Zigeuner, geht arbeiten!«) und »Cikáni do plynu!« (»Zigeuner ins Gas!«) in Richtung der Unterkünfte marschierte. Die antiziganistischen Demonstrationen fanden darauf jedes Wochenende in mehreren Städten der Region mit bis zu 1200 Teilnehmenden statt. War am ersten Wochenende die Beteiligung von Neonazis noch gering, so knüpften sie in den darauffolgenden Wochen an die rassistische Grundstimmung an. Ihren Höhepunkt erreichten die antiziganistischen Aufläufe am 10. September, als die rechte Partei »Delnická strana sociální spravedlnosti« DSSS (»Arbeitspartei der sozialen Gerechtigkeit«) gemeinsam mit Autonomen NationalistInnen vom »národní odpor« (»Nationaler Widerstand«) zu Rund 500 Neonazis demonstrierten am 17. November 2008 in der tschechischen Stadt Litvinov gegen die dort lebenden Roma.Rund 500 Neonazis demonstrierten am 17. November 2008 in der tschechischen Stadt Litvinov gegen die dort lebenden Roma.Kundgebungen in Rumburk, Varnsdorf und Novy Bor aufriefen.

Doch solche Demonstrationen sind in der tschechischen Republik keine Seltenheit. So hat beispielsweise die mittlerweile verbotene Vorläuferorganisation der DSSS, die DS, Ende 2008 alle zwei Wochen zu Demonstrationen gegen ein Roma-Viertel in Litvínov aufgerufen, wobei es mehrfach zu Straßenschlachten zwischen bis zu 1000 bewaffneten Neonazis und der tschechischen Polizei kam.

Allerdings sprechen die aktuellen Ereignisse im Sluknovsky vybezek für eine neue Qualität des gesellschaftlichen Antiziganismus – denn hier gingen die Demonstrationen und die Straßengewalt von der ganz »normalen« Bevölkerung aus. In den Medien wurden diese Aktivitäten mit eindeutig antiziganistischem Inhalt als »soziale Proteste« von Bewohner_innen einer ökonomisch abgeschlagenen Region verharmlost. Das Problem wurde auf Seiten der Roma verortet – was die Intensität des Antiziganismus in der tschechischen Republik verdeutlicht. Der gesellschaftliche Ausschluss von Roma ist an der Tagesordnung. Eine negative Besonderheit stellen die in den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei immer noch verbreiteten Zwangssterilisierungen an Romnija1 dar. Bis heute kommt es regelmäßig vor, dass Romnija in Gesundheitsämtern und öffentlichen Krankenhäusern während der Entbindung eines Kindes oder bei Routine-Untersuchungen durch psychischen Druck oder ganz ohne ihr Wissen sterilisiert werden.

In Bulgarien kam es am Wochenende um den 24. September 2011 zu pogromartigen Übergriffen gegen Angehörige der Roma-Minderheit in Katuniza. Dabei demonstrierten in dem Dorf mit 2300 Einwohner_innen ca. 2000 Menschen, mehrere Häuser wurden niedergebrannt, die Roma konnten aus dem Ort flüchten. Im Verlauf der nächsten drei Tage kam es in ganz Bulgarien zu spontanen Ausschreitungen und Demonstrationen gegen Roma. In mehr als einem Dutzend Städten marschierten mehrere Tausend Antiziganist_innen mit bulgarischen Nationalflaggen auf, um Wohngebiete in denen Angehörige der Roma-Minderheit leben, anzugreifen. Knapp 200 AngreiferInnen wurden festgenommen. Die spontanen »Protestmärsche« zogen sich über ca. zwei Wochen hin. Es kam zu mehreren Übergriffen gegen Roma. Seit Ende Oktober wurden die Demonstrationen in dieser Form beendet.

Auch in Bulgarien ist das gesellschaftliche Klima insgesamt von Antiziganismus geprägt. Strukturelle Diskriminierung und insbesondere die Schulsegregation sind Teil dieser Normalität. Faktisch gibt es »ethnisch« homogene Schulen. Viele Roma müssen in slumähnlichen Vierteln unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Dazu kam es in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Räumungsaktionen solcher Behausungen. So wurde beispielsweise im November 2010 in Jambol ein ganzes Viertel abgerissen. Dadurch wurden Hunderte Familien obdachlos.

Für eine antifaschistische Linke in Deutschland sind bei Berichten über solche pogromartigen Ausschreitungen mehrere Dinge entscheidend:

1. Es wäre falsch, von einer Zunahme solcher Pogrome zu sprechen. Zu häufig kam es in den letzten zwanzig Jahren zu solchen Situationen. Unterstützung durch antifaschistische Linke wird den Betroffenen nur selten zuteil, bisher wurden solche Vorfälle größtenteils einfach ignoriert. Insofern ist es politisch sehr zu begrüßen, dass es 2011 immerhin einige Aufmerksamkeit für diese Entwicklungen gab. In Berlin fand sogar eine Demonstration mit mehreren Hundert Teilnehmer_innen statt.

2. Wie sich bereits am Beispiel Rostock-Lichtenhagen verdeutlichen lässt, sollte eine deutsche Linke sich nicht darauf ausruhen, dass das alles »weit weg« sei. Zum einen fanden gerade die Demonstrationen in Varnsdorf teilweise nur wenige Hundert Meter von der deutschen Grenze entfernt statt und sowohl in Litvínov 2008, als auch in Varnsdorf waren deutsche Neonazis angereist, um ihre »Kameradinnen und Kameraden« zu unterstützen. Zum anderen finden sich fast alle antiziganistischen Praxen, die in anderen Ländern empört verurteilt werden, auch in Deutschland selbst. Seit Dezember 2009 gab es drei größere Brandanschläge auf Häuser oder Wohnwagen von Sinti und Roma in Deutschland. Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie insbesondere im Bildungsbereich ist immer noch weit verbreitet, wie zuletzt durch eine Bildungsstudie von Romno Kher2 erneut bestätigt wurde. In Deutschland wird die Situation durch die großen Kontinuitäten antiziganistischer Politikansätze über den Nationalsozialismus hinaus und die weitreichende Verdrängung der nationalsozialistischen Massenvernichtung von Roma, Sinti und anderen als »Zigeuner« Verfolgten verschärft. Nationalsozialistische Massenmörder konnten noch bis Anfang der 1970er weiter in den »Landfahrerzentralen« der Landeskriminalämter ihrer Tätigkeit nachgehen, ein Großteil der nationalsozialistischen »Zigeuner«-Akten, sowohl der Kriminalpolizei, als auch der Rassenhygienischen Forschungsstelle wurde bis in die 1980er Jahre weiter verwendet. Das LKA in Köln hat seine Akten gar erst Anfang der 1990er Jahre herausgegeben. Bis heute gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die Bundesregierung ihrer historischen Verantwortung gegenüber den Roma und Sinti gerecht wird. Bis 2013 sollen 10.000 Roma in das Kosovo abgeschoben werden, in dem lediglich Hass und menschenunwürdige Lebensbedingungen auf sie warten.

In diesen gewaltvollen Verhältnissen ist es jederzeit möglich, dass die »Bürgervereine« und »Interessensgruppen«, die in der Dortmunder Nordstadt oder in Leipzig-Volkmarsdorf Stimmung gegen ihre Roma-Nachbar_innen machen, sich ebenfalls einen Anlass suchen, um Beschwerdebriefe und Informationsstände gegen Steine und Molotow-Cocktails einzutauschen. Umso wichtiger ist es für eine antifaschistische und antirassistische Linke, sich dieses Problems endlich anzunehmen, sich mit Roma solidarisch zu vernetzen und den antiziganistischen Normalzustand in Europa nicht länger unkommentiert hinzunehmen.

1| Sg. f. romni, Pl. f. romnija
2| Begegnungsstätte für Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung. Studie online unter romnokher.de