Bürgerbahn statt Börsenwahn

Oder: Man könnte mit der Bahn »ein Exempel statuieren«

Wenn Reisende auf den Bahnhöfen der Republik auf verspätete Ersatz-ICEs warten, wenn Weichenstörungen oder Oberleitungsschäden die Zugfahrt zum Abenteuer mit ungewissem Ausgang machen, wenn wir im ausgedünnten S-Bahn-Verkehr in der Hauptstadt auf der Strecke bleiben – dann ist es nicht das Wetter, das unser Recht auf Mobilität vermasselt, sondern die Frostperiode des Neoliberalismus. Das Desaster der Bahn ist das Ergebnis einer Politik, die die Bahn auf Börsenkurs bringt: nicht am Allgemeinwohl orientiert, sondern als kapitalistischer Konzern aufgestellt, im Interesse potenzieller Investoren.

 

Rückblick auf die Privatisierung

 

Von 1989/90 an wurde der Plan zur Privatisierung der Eisenbahn in Deutschland virulent und mit der »Bahnreform« 1993/94 (Bildung der Deutschen Bahn AG aus der westdeutschen Bundesbahn und der DDR-Reichsbahn) war ein Grundstein dafür gelegt worden. Die proklamierten Ziele: Mehr Servicequalität und Kundennähe, mehr Marktanteile und weniger öffentlicher Zuschussbedarf. Allein die Tatsache jedoch, dass seither über 7.000 Schienenkilometer abgebaut, über 1.500 Bahnhöfe und unzählige Schalter geschlossen und die Bahnbelegschaft halbiert wurde, kommt einem enormen Verlust von Service und Kundennähe gleich.

Der Marktanteil der Schiene am gesamten Verkehrsaufkommen lag mit 7,2% fast auf dem gleichen Niveau wie 1993 (7,0% laut »Verkehr in Zahlen 2008/2009«, S. 21). Dabei hat er sich – vor allem dank gestiegener Unterstützungszahlungen des Bundes – im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) deutlich erhöht, während er im eigenwirtschaftlich betriebenen Fernverkehr merklich zurückgegangen ist. Die Güterverkehrsleistung lag 1993 bei 16,8% und 2007 bei 17,3%, allerdings waren es 1990 noch 20,6% gewesen. Die DB AG war 1994 ohne Schulden gestartet. Im Jahr 2009 hat sie einen Schuldenberg von 15 Milliarden Euro aufgetürmt – ohne die sozialen Kosten: Die Zahl der Beschäftigten ist im selben Zeitraum von 380.000 auf weniger als 180.000 im Schienenverkehr reduziert worden (mit der eingekauften Logistiksparte Schenker und den ausländischen Tochtergesellschaften sind es heute etwa 220.000).

Die im September 2005 gewählte Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag festgehalten, dass die DB AG im Verlauf der Legislaturperiode (teil-)privatisiert werden würde. Seitdem hat eine intensive gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über die Bahnprivatisierung stattgefunden. Der Börsengang wurde verzögert und scheiterte schließlich an der breiten Ablehnung des Projektes in der Bevölkerung, am innerparteilichen Widerstand in der SPD, an der im Sommer aufbrechenden Debatte um die ICE-Sicherheit und schließlich an den eingebrochenen Finanzmärkten.

 

 

Sicherheit bleibt auf der Strecke

Der Schienenverkehr ist nicht nur eine nachhaltige und umweltfreundliche Verkehrsart. Er genießt auch zu Recht den Ruf, ein besonders sicheres Verkehrsmittel zu sein. Dieser gute Ruf hat erheblichen Schaden genommen: Seit Ende 2008 erlebte die Berliner S-Bahn eine Pannenserie, infolge derer ein großer Teil des fahrplanmäßigen Angebots ausfällt. Frühestens 2011 soll ein Normalbetrieb wieder möglich sein. Die zwei wesentlichen Ursachen für diesen Niedergang eines zentralen ÖPNV-Verkehrsmittels sind unzureichend ausgelegte, d.h. falsch berechnete Räder und eine systematische Reduktion der Wartungsarbeiten, was wiederum die Folge eines systematischen Mittelabflusses von der S-Bahn GmbH zur Muttergesellschaft Deutsche Bahn AG ist. Bei der S-Bahn Berlin GmbH wurden seit 2005 rund 40% des Werkstattpersonals abgebaut. Die wichtigsten »Sanierungsprogramme« der Bahn wurden vom Aufsichtsrat des Konzerns DB AG abgesegnet (siehe die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Bundestagsdrucksache 16/14029).

Die Ursache für das bisher schwerste Unglück in der deutschen Eisenbahngeschichte, die Entgleisung eines ICE bei Eschede am 3. Juni 1998, war die Verwendung von Rädern, die für den Hochgeschwindigkeitsverkehr nicht geeignet waren. Der Einbau dieser Räder bei der ersten Generation der ICE-Garnituren erfolgte nachträglich, ohne ausreichende Prüfverfahren und trotz Hinweisen auf eine mögliche Gefährdung eines sicheren Schienenverkehrs.

Bei dem ICE-Radsatzwellenbruch am 9.7.2008 in Köln war es nur einem glücklichen Umstand zu verdanken, dass es erst nach der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof und nur bei Tempo 10 km/h zur Entgleisung kam. Die ICE-Achse hatte zum Zeitpunkt des Bruches erst eine Laufleistung von 2,85 Millionen km hinter sich, was einem Fünftel der erwarteten Lebensleistung entspricht. Seitdem wurden mehrere neue Risse an ICE-Radsatzwellen entdeckt und es wurde publik gemacht, dass es bereits zuvor Brüche von ICE-Radsatzwellen gab. Ende 2009 teilte die Bundesregierung mit: »Seit dem Jahr 2000 sind dem Eisenbahn-Bundesamt 24 Radsatzwellenbrüche sowie 31 Radreifen und Radscheibenbrüche im In- und Ausland bekannt geworden.« (Bundestagsdrucksache 17/702). Und der neue Bahnchef Rüdiger Grube äußerte im Februar 2010: »Rund die Hälfte unserer 252 ICE-Züge ist betroffen (...) Es müssen tausende Räder und Achsen getauscht werden. (...) Die Arbeiten daran werden noch zwei bis drei Jahre dauern und zu Einschränkungen führen.« (Bild vom 22.2.2010)

Verkehrsminister Peter Ramsauer stellte anlässlich eines Treffens der EU-Verkehrsminister fest: die Bahnindustrie sei durchaus in der Lage, Fahrzeuge mit »dauerfesten« Bauteilen herzustellen, die »während der gesamten Betriebsdauer eines Fahrzeuges ohne Ermüdungserscheinungen funktionieren«. Doch »genau solche Fahrzeuge habe die DB AG nicht bestellt«. Stattdessen habe die Bahn bei ihren Bestellungen Wert darauf gelegt, dass die Bauteile »zeitfest« seien, womit sie vor Erreichen des Endes der Betriebsdauer ausgetauscht werden müssten. Das lieferbare »dauerfeste Material« wäre »voraussichtlich teurer geworden«. Die nur zeitfesten Materialbestellungen seien »ein Beispiel für die Börsenorientierung des Unternehmens unter Ex-Vorstand Mehdorn gewesen.« (Frankfurter Rundschau vom 12.3.2010).

Fakt ist: Die Deutsche Bahn AG hat mit Blick auf den angestrebten Börsengang alle Konzernbereiche – und damit letztlich auch die Sicherheit im Schienenverkehr – den Renditevorgaben des Vorstands mit Billigung des Aufsichtsrates untergeordnet.

 

 

Weiter auf Börsenkurs

Vom Verkehrsminister der neuen schwarz-gelben Koalition Ramsauer waren verschiedentlich privatisierungskritische Äußerungen zu lesen: »Einen Börsengang oder einen Verkauf unter Preis wird es mit mir nicht geben. Privatisierung ist weder ein Selbstzweck, noch politisches Allheilmittel (…) Die Bahn ist im Bewusstsein der Deutschen keine x-beliebige Staatsbeteiligung, sondern etwas ganz Besonderes« (Passauer Neue Presse, 5.11.2009).

Allerdings ist diese Botschaft – ähnlich wie die »smartness« des neuen Bahnchefs Grube – unter der Rubrik Nebelkerzen zu verbuchen. Denn im schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht es unzweideutig: »Sobald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wir eine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierung der Transport- und Logistiksparten der Deutschen Bahn einleiten.« Und genau das haben Ramsauer und Grube im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages auch bestätigt – letzterer mit dem Zusatz, zu diesem Zweck käme es jetzt darauf an, »das Brot-und-Butter-Geschäft« in Ordnung zu bringen.

Vorerst läuft es auf ein Weitermachen wie bisher hinaus: Die DB AG hat die Absicht, den britischen Verkehrskonzern Arriva (Wert 1,5-2 Mrd. Euro) zu übernehmen. Das Kapital, mit dem die DB in der Vergangenheit auf Einkaufstour ging, stammte zum größten Teil aus Regionalisierungsmitteln, die sie für den Nahverkehr erhielt, und aus den Entgelten für die Nutzung der Trassen. Für den Erhalt der Schieneninfrastruktur überweist der Bund der Bahn jährlich 2,5 Mrd. Euro. Statt in deren Erhalt und Ausbau in der Fläche zu investieren, agiert die DB AG wie ein Konzern, der nicht die Entwicklung der Gebrauchswerte in den Mittelpunkt stellt, sondern die kapitalistische Konkurrenz.

 

D

er Aufsichtsrat ist ein Lehrstück …

für die Art und Weise, wie herrschende Politik sich den Kapitalinteressen unterwirft. Der Eigentümer der Deutschen Bahn AG (die Bundesrepublik Deutschland) hat mit der Neubesetzung der Mehrzahl der zehn ihr zustehenden Aufsichtsratsmandate am 24. März 2010 erneut Personen benannt (siehe Übersicht auf der folgenden Seite), die in erheblichem Maß spezifische privatwirtschaftliche Interessen vertreten – auch solchen, die zu den Interessen der Bahn im Widerspruch stehen.

Die Vertreter großer Unternehmen (wie Heinrich Weiss, Großaktionär von SMS, Jürgen Großmann, Alleineigentümer der Georgsmarienhütte) haben als Privatunternehmer mit großem Frachtpotenzial Interesse an niedrigen Bahnfrachttarifen, wohingegen das Interesse der Bahn in zumindest kostendeckenden Tarifen besteht. Weiss ist darüber hinaus Mitglied des Verwaltungsrats des weltweit führenden Zugherstellers Bombardier Transportation. Top-Manager der zwei wichtigsten Stromkonzerne sitzen im Bahn-Aufsichtsrat – ein weiterer Interessenkonflikt: Die Bahn könnte weit mehr als bisher mit Strom aus erneuerbaren Energien fahren, lehnt aber einen schnellen Umstieg ab. Jürgen Großmann und Christop Dänzer-Vanotti vertreten jedoch Stromriesen, die überwiegend Strom auf Kohle- und Atom-Basis erzeugen.

In der Person des Aufsichtsrats Jürgen Großmann wird gar ein ausgesprochen vielfältiges Interessengeflecht gebündelt. Als Alleineigentümer der Georgsmarienhütte kontrolliert er 52 Unternehmen, darunter der Bochumer Verein Verkehrstechnik GmbH, die Radsatzfirma Ilsenburg GmbH (RAFIL) und Bahntechnik Brand-Erbisdorf GmbH – alles maßgebliche Bahnlieferanten von Radsatzwellen und Rädern. Die Windhoff Bahn- Anlagentechnik GmbH in Rheine (Wartung von Bahnfahrzeugen und Abnahme neuer Fahrzeuge respektive Überprüfung der Betriebssicherheit von Schienenfahrzeugen) gehört ebenso zu seinem Einflussbereich wie die GMH Prüftechnik GmbH, ein Unternehmen, das Ultraschallprüfanlagen verkauft und Ultraschallprüfungen von Radsätzen durchführt. Aufsichtsratmitglied Jürgen Krumnow war von 2004 bis Oktober 2009 Aufsichtsratsvorsitzender von TUI, dem weltweit größten Tourismus-Unternehmen, das auch Billig-Airlines kontrolliert. Dazu passt, dass Ex-Bahnchef Mehdorn im Flugverkehr nie einen Konkurrenten sah und innerdeutsche Langstrecken lieber mit dem Flugzeug zurücklegte, da »lange Bahnstrecken eine Tortur sind«.

Neuer Aufsichtsratsvorsitzender ist Utz-Hellmuth Felcht: »Ich bin kein Bahn-Fachmann« (Financial Times Deutschland vom 11.3.2010). Bei der DB AG ist »Herr Grube ... da Beckenbauer. Herr Ramsauer ist der Besitzer des Vereins. Und ich bin der Trainer.« (Süddeutsche Zeitung vom 11.3.2010). Zur Frage, ob Netz und Betrieb getrennt werden, hat er »schlicht und einfach noch keine Linie« (Handelsblatt vom 11.3.2010). Dafür wird er seine »Mandate und Ehrenämter behalten«: Aufsichtsrats-Vorsitzender der Süd-Chemie AG (Spezial-Chemie-Unternehmen mit 1,2 Mrd. Euro Umsatz und 6.500 Beschäftigten, das seit 2007 von der Private Equity-Gesellschaft OEP kontrolliert wird, die sich im Eigentum der zweitgrößten US-Bank, JP Morgan, befindet), Managing Director bei OEP, die Unternehmen aus dem Bereich der Containerschifffahrt und der Reisebranche kontrolliert; die OEP-Mutter JP Morgan war übrigens bei früheren Großdeals der Deutschen Bahn AG aktiv – so 2002 als Berater der DB AG bei der Übernahme der Stinnes AG (mit Schenker). Schließlich ist Felcht Mitglied im Board of Directors des irischen Baustoffkonzerns CRH (einer der fünf größten) – das hat ein »Geschmäckle«, denn die Bahn ist einer der größten Auftraggeber im Bausektor. Für Bundesverkehrsminister Ramsauer ist Felcht aber vor allem »ein exzellenter Kenner des Börsengeschehens«, was in Hinblick auf den nach wie vor »politisch gewünschten Börsengang mittel- und langfristig wichtig« sei (Süddeutsche Zeitung vom 11.3.2010).

 

 

Das kleinere Übel?

»Mehr Wettbewerb auf der Schiene« wird auch von Fahrgastverbänden, regionalen Bahnunternehmen oder den Grünen gewünscht. Damit, so hofft man, werde die Herrschaft der DB AG gebrochen. Zu befürchten ist allerdings eher, dass mit einer Privatisierung oder Teilprivatisierung das gerade Gegenteil erreicht wird. In Großbritannien war nach übereinstimmender Auffassung von Konservativen, Labour Party und Fachpresse die Trennung von Netz und Betrieb zumindest mitverantwortlich für eine Reihe schwerer Unfälle.

Private Investoren wollen kurzfristig hohe Gewinne erzielen. Das heißt, sie haben kein Interesse an hohen Kosten für neue Fahrzeuge, sondern favorisieren »Fahren auf Verschleiß«. Wie schon bei Privatisierungen von Wasser, Energie und Wohnungen zu beobachten war, werden die Investitionen generell heruntergefahren und es wird auf (zu) niedrige Rückstellungen gedrängt. Es interessiert private Investoren eher nicht, ob in sieben oder 15 Jahren ausreichend Rückstellungen vorhanden sind, um z.B. die ICE-Flotte der 2. und 3. Generation zu erneuern.

Ein Flickenteppich ist wahrscheinlich. Private Betreiber werden ihren Betrieb nach den eigenen Interessen und Bedürfnissen ausrichten. Darunter leiden notgedrungen ein einheitlicher Fahrplan, einheitliche Tarife, einheitliche soziale Standards (z.B. Sonderbedingungen für Schwerbehinderte, Ermäßigungen für Gruppen, Mitnahme von Kindern) und einheitliche Standards für Sicherheit und Service. Wenn Strecken ausgeschrieben werden und einzelne private Betreiber in Konkurrenz zueinander bieten, dann findet der Wettbewerb in der Regel über den Preis statt und der wird auf Kosten von Löhnen, Arbeitsbedingungen und Personalstellen gedrückt.

Der spezifische Netzcharakter im Schienenverkehr bringt es mit sich, dass Eisenbahnunternehmen kaum direkt mit anderen konkurrieren. In der Regel erhalten sie Konzessionen für ein bestimmtes Netz oder eine bestimmte Strecke – für mehrere Jahre. So entstehen regionale Betreiber-Monopole, die durch Konzentration zu Oligopolen in Teilnetzen werden (siehe die Erfahrungen in Japan, Großbritannien oder in den USA). Damit gibt es die behaupteten Vorteile eines echten Wettbewerbs nicht.

Demokratische Gestaltung ist möglich und wäre nötig

Ein Bahnbetrieb, der von privaten Investoren bestimmt wird, wird grundsätzlich primär an deren Interessen ausgerichtet sein. Demgegenüber könnte ein einheitlicher Bahnbetrieb in öffentlichem Eigentum so gestaltet werden, dass er den Interessen der Öffentlichkeit, der Fahrgäste und den Beschäftigten dient.

Der Zusammenschluss der Verkehrsgesellschaften von Städten, Regionen und Bundesländern (BAG SPNV) beschreibt sehr konkret, wie man viel mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen kann: Sie empfiehlt einen deutschlandweiten Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild, mit dem das gesamte Zugangebot so verknüpft wird, dass häufigere und schnellere Verbindungen mit optimalen Umsteigemöglichkeiten entstehen. Damit sparen die Fahrgäste mehr Zeit und die Steuerzahler mehr Geld als durch den Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen. Die Arbeitsgemeinschaft hat auch konkrete Vorschläge für mehr Nutzerfreundlichkeit, Qualität und Barrierefreiheit vorgelegt. Sie fordert klare Entwicklungsziele und politische Vorgaben für die Schieneninfrastruktur, eine langfristige Strategie zum Ausbau des Netzes und ausreichende Finanzierung.

Schließlich fordern die regionalen Verkehrsgesellschaften die Abkehr vom Börsenkurs der Bahn: »Bei der Infrastruktur beschränkt sich die Rolle des Bundes derzeit auf die des Zahlmeisters. Der Fernverkehr ist vollständig der unternehmerischen Steuerung überlassen. Die Orientierung an betriebswirtschaftlichen Kriterien hat dazu geführt, dass zwischen 1995 und 2007 die Fahrgastzahlen im Fernverkehr um 20% gesunken sind.« (BAG SSNV, »Eine neue Bahn«, Seite 19)

Die Alternative zum »integrierten Börsengang« heißt nicht »Trennungsmodell«. Sie heißt allerdings auch nicht »weiter so« mit der bestehenden, Millionen Fahrgäste nervenden Deutschen Bahn AG. Sie bedeutet schon gar nicht ein Zurück zu einer starr zentralistischen Staatsbahn. Erforderlich ist eine Bahn in öffentlichem Eigentum, die bei den grundlegenden Standards wie Fahrplan, Tarife, Sicherheit so zentral wie nötig und in den Eigentumsformen so dezentral und bürger- und kundennah wie möglich organisiert ist.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) könnten hierbei in vielerlei Hinsicht Vorbild sein, obwohl es inzwischen auch dort Tendenzen in eine Richtung gibt, wie wir sie Mitte der 1990er Jahre in Deutschland mit der Bahnreform als Vorspiel auf die konkreten Bahnprivatisierungsmodelle erlebten. Der Erfolg der Schiene in der Schweiz (siehe hierzu Winfried Wolf: In den letzten Zügen. Bürgerbahn statt Börsenwahn, Attac­BasisTexte 22, Hamburg 2006, S. 75-84) müsste für deutsche Verhältnisse analysiert und seine Elemente weiterentwickelt und konkretisiert werden.

Essentials eines erfolgreichen, effizienten und kundennahen Eisenbahn-Modells könnten sein:

-  öffentliches Eigentum an der Schieneninfrastruktur und an dem Schienenverkehr in Kombination mit der Etablierung von zentralen und dezentralen Strukturen dieses Eigentums (Kundennähe, Effizienz und demokratische Kontrolle)

-  Priorität der Erschließung der Fläche vor schnellen Verbindungen zwischen Ballungsgebieten

-  einheitliche Standards bei Service, Fahrplan und Tarifen sowie soziale Absicherung der Bahnbeschäftigten

-  integrierter Taktverkehr für den gesamten Schienenbereich, abgestimmt mit dem übrigen öffentlichen Verkehr

-  erforderlich ist zudem eine europaweite Kooperation aller Eisenbahnen und die Bildung der Alliance of the United European Railways. Wir wollen nicht zurück ins vorletzte Jahrhundert mit ihren nicht kompatiblen Klein- und Konkurrenzbahnen.

Voraussetzung für die Umsetzung dieser Essentials ist – neben einem Management, das sich mit dem Schienenverkehr identifiziert und nicht seine Sonderinteressen verfolgt – ein Politikwechsel nicht nur, aber auch in Sachen Verkehrskonzeption. Lucas Zeise hat in der Financial Times Deutschland die Befürchtung geäußert, die Wirtschaftskrise könne in eine Depression münden. Auch deshalb sollten wir um ein langfristiges Bürgerbahn-Ausbauprogramm ringen. Dann hätten die Beschäftigten in der Automobilindustrie eine sinnvolle Perspektive, und wir könnten optimistisch umbauen statt abzuwracken.