Kontinuität im Wandel

Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit im 21. Jahrhundert

in (18.03.2010)

„Im Holocaust wurde die Entmenschlichung von Politik zum terroristischen Ereignis. Ihre historische Bewältigung kann nicht in die Vergangenheit führen; denn die Vergangenheit bleibt vergangen. Das Vermächtnis des Genozids besetzt vielmehr unsere Gegenwart mit der zentralen Frage: Was ist die Würde des Menschen, wenn nicht diejenige seines Lebens? Wie ist es vor genozidalen Anschlägen der Zukunft zu schützen? Aus der Erinnerung des Holocaust müssen die richtigen Antworten für Politik und Gesellschaft in zukünftiger Geschichte erwachsen.”

Dieser Ausschnitt aus einer Rede des damaligen deutschen Staatsministers für Kultur, Michael Naumann, auf dem „Stockholm International Forum on the Holocaust”, das im Januar 2000 in Stockholm stattfand, beschreibt eindrücklich die Entwicklungslinien, die den Umgang mit der NS-Vergangenheit im Allgemeinen und die Erinnerung an die Shoa im Besonderen bereits prägen und in den nächsten Jahrzehnten weiter prägen werden. Die Erinnerung an die Shoa ist zu einer europäisierten bzw. internationalisierten Erinnerung geworden, die sich an universalistischen Werten, insbesondere dem weltweiten Schutz der Menschenrechte, orientiert und damit in erster Linie eine in die Zukunft gerichtete Bedeutung erhält. Sie wird dabei auch zur Grundlage politischen und rechtlichen Handelns: Mit dem Verweis auf Auschwitz werden so genannte humanitäre Interventionen in Krisen- und Kriegsgebieten legitimiert. Gleichzeitig ist die Erinnerung an die Shoa der Transmissionsriemen für die Etablierung eines europäischen Wertehorizonts geworden, der den Schutz und die Wahrung der Menschenrechte in den Mittelpunkt gemeinsamen politischen Handelns stellt. Im Zuge dieses normativen europäischen Vergemeinschaftungsprozesses wird die Erinnerung an die Shoa aus ihrem historischen Kontext, der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, gelöst: Die eindeutigen Trennungslinien zwischen deutschen Tätern und jüdischen Opfern verschwimmen. Es gibt nur noch Menschen sowie daran geknüpfte universalistische Sichtweisen von Gut und Böse. Die Shoa wird zu einem Menschheitsverbrechen reduziert und zum Teil einer europäischen Katastrophe, symbolisiert durch den Zweiten Weltkrieg.


Erinnerung im globalen Zeitalter

Die Soziologen Daniel Levy und Nathan Sznaider haben die kulturellen, politischen und historischen Rahmenbedingungen für das Entstehen kollektiver Erinnerungen unter dem Vorzeichen der Globalisierung in ihrem im Jahr 2001 veröffentlichten Buch „Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust” untersucht. Sie unterstellen, dass sich im Zeitalter der Globalisierung kollektive Erinnerungen nicht mehr auf einen territorialen oder nationalen Rahmen reduzieren lassen. Stattdessen würden sich kollektive Erinnerungen zunehmend aus ihrer nationalstaatlichen Fixierung lösen und in kosmopolitischen Gedächtniskulturen aufgehen, die sich auf universelle Symbole wie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte” oder den Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit” beziehen. Grundlage eines kosmopolitischen Gedächtnisses sei die Erinnerung an die Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas. Die Shoa biete sich als Bezugsrahmen für das kosmopolitische Gedächtnis gerade wegen ihrer Singularität an. In ihrer Interpretation als universales Menschheitsverbrechen mit klaren Zuschreibungen von Gut und Böse entwickele sie sich zum Maßstab für zukünftiges politisches Handeln, das sich an humanistischen Werten orientiert. Auch Täter- und Opferkategorien würden sich an der Shoa-Erinnerung ausrichten. Massenmediale Verbreitung habe diese universelle Sichtweise der Shoa in den 1990er Jahren insbesondere durch den Spielberg-Film „Schindlers Liste” erhalten.

Die Shoa-Erinnerung hat sich inzwischen als historische Meistererzählung, zumindest in der westlichen Weltgemeinschaft etabliert. So existieren schon jetzt manifeste Strukturen und Institutionen, die immer wieder durch symbolische Handlungen gestützt werden. Bereits 1998 haben die Regierungen Großbritanniens, der USA und Schwedens die „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Rememberance and Research” ins Leben gerufen. Das erste spektakuläre Resultat der Initiative war das „Stockholm International Forum on the Holocaust” im Jahr 2000. Neben der beachtlichen Anzahl von 47 Regierungschefs nahmen fast 1.000 DiplomatInnen, VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen, Überlebende der Shoa, HistorikerInnen, LehrerInnen und JournalistInnen an dem Treffen teil. Dessen offizielles Ziel bestand darin, den „internationalen Dialog über die Bildung und Erziehung der Jugend sowie die Forschung über den Holocaust zu fördern”. Entscheidender war aber die Frage, wie sich das nach dem Ende des Kalten Krieges vereinte Europa ein neues Wertesystem geben könnte. Die Vermeidung einer neuen Shoa wurde zur Basis eines europäischen Gedächtnisses deklariert und zum zentralen Legitimationsmuster zukünftiger militärischer und nichtmilitärischer Interventionen. Das Treffen im Jahr 2000 bildete den Auftakt zu vier weiteren internationalen Konferenzen, die inzwischen als „Stockholm-Prozess” bezeichnet werden.

Der „Stockholm-Prozess” hat auch Einfluss auf die KZ-Gedenkstätten und auf die konkrete Ausgestaltung der Lern-, Gedenk- und Erinnerungsarbeit an den historischen Orten der NS-Verbrechen. So wurde im Juli 2001 das International Committee of Memorial Museums of Remembrance for the Victims of Public Crimes – kurz IC Memo – gegründet. Aufgabe dieser Institution ist unter anderem die Festlegung fachlicher Mindeststandards für die Gedenkstättenarbeit. Gedenkstätten werden in IC-Memo-Papieren als neuer „Typus historischer Museen” bezeichnet, deren Bildungsarbeit von „moralischen Impulsen” geprägt sei, auf die Gegenwart bezogen sein solle und der Genozid-Erinnerung im Allgemeinen zu dienen habe. In der Bundesrepublik wird unter ErinnerungsexpertInnen über die Übernahme der IC-Memo-Richtlinien für die KZ-Gedenkstätten heftig gestritten. Die Debatte bewegt sich dabei zwischen zwei Polen: der Forderung, dass Gedenkstätten zukünftig moderne zeithistorische Museen sein sollen und der Gegenposition, dass Gedenkstätten wegen ihrer besonderen Bedeutung genau dies nicht sein können.


Normalisierung der NS-Vergangenheit über ihre Thematisierung
Wie schlägt sich die Universalisierung der Erinnerung an die Shoa nun im Land der Täter nieder? Zu beobachten sind Wandlungen und Kontinuitäten: Von staatlicher Seite wird die NS-Vergangenheit inzwischen in einer Offenheit benannt, die noch vor einigen Jahren undenkbar schien. Gleichzeitig wird einer Normalisierung im Umgang mit der Geschichte das Wort geredet. Diese Entwicklungen scheinen zwei Seiten derselben Medaille zu sein: Normalität lässt sich erreichen und zwar gerade nicht gegen, sondern mit der NS-Vergangenheit.

Im Zuge der Universalisierung der Shoa-Erinnerung kommt zwei Begriffen eine besondere Bedeutung zu: dem des „Opfers” und dem der „Schuld”. Das Eingeständnis von Schuld als notwendige Voraussetzung zur Erlangung des Opferstatus beziehungsweise zur Aufnahme in die durch die Shoa-Erinnerung geformte westliche Wertegemeinschaft, ist aber ein Phänomen, das sich nicht nur auf den Täterstaat Deutschland beschränkt. So entschuldigte sich der frühere französische Staatspräsident Jacques Chirac in einer seiner letzten Amtshandlungen für die Beteiligung von Franzosen und französischen Behörden an den Deportationen von Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager. Polens Ex-Staatspräsident Aleksander Kwasniewski entschuldigte sich für die Ermordung von Jüdinnen und Juden in dem polnischen Dorf Jedwabne durch deren polnische Nachbarn während des Zweiten Weltkriegs.

Der dänische Historiker Uffe Ostergard erkennt in dieser Entwicklung Ansätze einer „europäischen Vergangenheitsbewältigung” und verweist darauf, dass sich beitrittswillige Staaten Mittel- und Osteuropas als Vorbedingung für ihre Aufnahme in die EU inzwischen mit der Frage nach ihrer Beteiligung an der Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas konfrontiert sehen. Diese Entwicklungen haben auch positive Effekte. Die Erinnerung an die Shoa erhält im europäischen Kontext einen politischen und institutionellen Rahmen. Problematisch wird es dann, wenn dabei die historischen Kausalitäten unterschiedlicher Täterschaften verloren gehen. Noch problematischer wird es, wenn die Bundesregierung das Verschwinden dieser historischen Kausalitäten aktiv betreibt und in ihr außenpolitisches Kalkül beispielsweise gegenüber Polen und Tschechien, im Zusammenhang mit dem Konflikt um die so genannten „Vertreibungen nach 1945” mit einbezieht.
Der offensive Umgang mit der NS-Vergangenheit von offizieller politischer Seite in der BRD als Voraussetzung für die Aufnahme in den internationalen Kreis der „Guten” und „unschuldigen Opfer” findet seinen Niederschlag auch im nationalen Erinnerungsdiskurs. Das Holocaust-Mahnmal, der Gedenktag zum 27. Januar oder die in den letzten Jahren erfolgte Neugestaltung von KZ-Gedenkstätten geben diesem Befund stellvertretend Ausdruck. Damit einher geht aber ein Prozess der Entkonkretisierung und Enthistorisierung der NS-Vergangenheit. Gleichzeitig verliert die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Erinnerung an die NS-Verbrechen in der Bundesrepublik an Relevanz.

Die Annahme der Täterschaft durch die offizielle Politik führt gerade nicht zu einer Konkretisierung der Erinnerung an die NS-Verbrechen und an die verantwortlichen Täterinnen und Täter. Susanne Moller, Karoline Tschuggnall und Harald Welzer kommen in ihrer Untersuchung zur Tradierung der Erinnerung an den Na-tionalsozialismus im familiären Bereich, die sie im Jahr 2002 unter dem Titel „Opa war kein Nazi” veröffentlichten zu dem Befund: „Zwischen dem Bild eines sich zunehmend enthistorisierenden Menschheitsverbrechens auf der einen und einem sich zunehmend enthistorisierenden Nationalsozialismus auf der anderen Seite entsteht im Geschichtsbewusstsein eine Lücke, in der der Vorgang der sozialen Erstellung des genozidalen Prozesses zu verschwinden droht.”
Gleichzeitig etabliert sich gesamtgesellschaftlich ein neuer Opferdiskurs, der die NS-Vergangenheit recht erfolgreich in eine deutsche Opfergeschichte überführt. Markiert wird dieser Diskurs insbesondere durch die „deutschen Opfer” der viel zitierten „Vertreibungen vom Kriegsende 1945” und der „deutschen Opfer des Bombenkrieges”. Die nationalen geschichtspolitischen Diskurse zu diesen Themen verlaufen anlog zur Etablierung einer universellen Shoa-Erinnerung und erhalten so ihre Wirkungsmächtigkeit. Im Rahmen dieser Diskurse werden beide Ereignisse aus ihrem jeweiligen historischen Kontext gelöst und in die menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. Die Betroffenen werden zu unschuldigen Opfern, genau wie die Opfer der Shoa. Gleichzeitig kann das schon vom damaligen Bundeskanzler Schröder eingeforderte Projekt einer „selbstbewussten Nation” ausgebaut werden. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist das so genannte Zentrum gegen Vertreibungen. Die Institutionalisierung des Zentrums ist jenseits der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit, in der es zuletzt nur noch um den Sitz Erika Steinbachs im Stiftungsrat ging, weit fortgeschritten. Der Stiftungsbeirat hat sich konstituiert und seinen einzigen polnischen Vertreter, den Historiker Tomasz Szarota, nach der ersten Sitzung gleich wieder verloren. Szarota hat den Beirat mit der Begründung verlassen, es gehe dort eben nicht um eine Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen zumal im Beirat fast nur VertreterInnen präsent seien, die dem Bund der Vertriebenen nahe stehen und entsprechende geschichtspolitische Positionen vertreten würden. Anfang Februar 2010 betonte Szarota in einem Gespräch mit der Zeitung Rheinpfalz: „Sicher ist der Verlust der Heimat eine Tragödie. Aber es gibt etwas Schlimmeres. Das ist die Vertreibung aus dem Leben. Es ist ein Unterschied, ob die Deportationszüge im Vernichtungslager Auschwitz hielten oder im Grenzdurchgangslager Friedland. Die einen gingen in den Tod, die anderen in eine neue Heimat.” Am Beispiel des Zentrums gegen Vertreibungen lässt sich zeigen, wie sich internationale und nationale Erinnerungsdiskurse im Sinne einer Enthistorisierung und Entkonkretisierung der NS-Vergangenheit mit einander verschränken: Am Ende sind alle Opfer, auch die Deutschen.


Ausblick
Die Erinnerung an die NS-Verbrechen wird auch in der Bundesrepublik nicht aufhören. Sie wird aber von einer Ausdifferenzierung der Erinnerungskultur insgesamt begleitet werden. Im Zuge der geschilderten Tendenzen zur Universalisierung und Enthistorisierung der Vergangenheit wird die Erinnerung an die NS-Verbrechen zunehmend in einer universellen Erinnerungskultur aufgehen, die von der Erinnerung an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft geprägt sein wird, also eben auch von der Erinnerung an die deutschen Opfer der Vertreibungen oder des Bombenkriegs.