Krisen des Kapitalismus – historische Perspektiven

Das Argument 283 "Klimapolitik / Krisenantworten 1929/30" (5/2009), S. 758-66

Den aktuellen Meldungen über eine rasche ›Erholung‹ der Weltwirtschaft zum Trotz bleibt vielen kritischen Beobachtern die mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers manifest gewordene globale ökonomische Krise des Kapitalismus eine „große Krise". Die Regulationstheorie bestimmt solche ökonomischen Krisen - im Unterschied zu konjunkturellen Einbrüchen, die das politische Regulationsgefüge nicht erschüttern - als historische Zäsuren, weil eine Krisenüberwindung innerhalb des einst hegemonialen Paradigmas, der geronnenen Strukturen der Akkumulation und der institutionellen Formen der Bearbeitung des Klassenkonflikts nicht mehr möglich ist. Große Krisen leiten eine neue Epoche kapitalistischer Entwicklung ein. Weit vor der Regulationstheorie notierte Antonio Gramsci, dass - sobald konjunkturelle Schwankungen „auch die [relativ] konstanten Elemente" der Organisation bürgerlicher Herrschaft verändern - es zu „organischen Krisen" (H. 8, §216, 1069) kommt, die „›strukturell‹ und nicht konjunkturell" (H. 14, §57, 1680) sind.

In dieser Perspektive erscheinen sowohl die Große Depression der 1930er Jahre als auch die Weltwirtschaftskrise 1974/75 als Große Krisen. Die erste, weil sie den Weg für die Durchsetzung eines verstärkten Staatsinterventionismus, einer Mixed Economy mit institutioneller Macht der Arbeiterbewegung bereitete - eine Entwicklung, in der sich der „Trend zur Politisierung der Ökonomie voll durchsetzt" (Ziebura 1984, 16); die zweite, weil sie diesem „Entwicklungstyp" den Garaus bereitete und den Weg in die „neoliberalen Konterrevolutionen" ebnete (Deppe 2006, 235ff). Christine Buci-Glucksmann und Göran Therborn haben in ihrer Analyse des fordistischen Kapitalismus und des keynesianischen Staates herausgearbeitet, dass solche „großen Wendepunkte" vor allem „für die Geschichte der Arbeiterbewegung und für ihr Verhältnis zum Staat von entscheidender Bedeutung sind" (1982, 185f). Für Alain Lipietz wirft eine solche Krise die Frage nach der „Rolle der Arbeiterorganisationen bei der Durchsetzung neuer Akkumulationsregime und neuer kapitalistischer Regulationsweisen" (1998, 43) auf. Wie lässt sich dieses Verhältnis heute fassen?

Viele Bestimmungsversuche der aktuellen Krise knüpften an solche Deutungsmuster an. Befördert durch die Tatsache, dass die eher in „apologetischen Phrasen, um die Krise wegzuleugnen" (MEW 26.2, 519), geübten Ideologen des Kapitalismus sich in Konjunkturprognosen zunehmend blamierten oder freiwillig die Segel strichen[1], eroberten marxistische ›Krisenspezialisten‹ die Deutungshoheit. Bereits Eugen Varga sprach von der „vollständigen Unfähigkeit der bürgerlichen Nationalökonomen, den Konjunkturverlauf vorauszusehen" (1969 [1930], 88f). „New Marxian Times" also - so der Titel einer Konferenz der Zeitschrift Rethinking Marxism im November 2009. Erste Krisenüberwindungsstrategien deuteten mit der „Rückkehr des Staates" das Ende der neoliberalen Ära an. Die Forderungen nach ›Re-Regulierung‹ der Finanzmärkte erweckten den Eindruck, das „finanzmarktgetriebene Akkumulationsregime" habe seinen Zenith überschritten. Zudem schien innerhalb exportgestützter „Wachstumsmodelle" - etwa dem „Modell Deutschland" und seiner wettbewerbskorporatistischen Bündnisse - keine Krisenüberwindung mehr denkbar. Der Entwicklungstyp müsse, um überhaupt einen Weg aus der Krise ebnen zu können, sozial und ökologisch umgebaut werden. Einigen erschien die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise sogar als Beginn der finalen Krise der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Ausgang der Wahl zum Deutschen Bundestag vom September 2009 bestätigte aber eindringlich, dass sich ökonomische Notwendigkeiten nicht zwangsläufig auch politisch durchsetzen. Das Gegenteil scheint der Fall - gesellschaftliche und politische Prozesse werden abgewürgt, die die Krise erst zu einer „großen" entfalten könnten. Wenn Bundeskanzlerin Merkel von einer „großen Krise" plaudert, um im selben Atemzug zu verkünden, diese werde genau dann überwunden sein, wenn der „Zustand vor der Krise" wieder erreicht sei und man zu den ›bewährten‹ Formen der Wirtschaftsregulation zurückkehren könne, wird offensichtlich, dass die nicht wegzuleugnenden tiefen Krisenprozesse ihrer emanzipatorischen Potenziale beraubt und die politische Macht jener Kräfte restauriert werden soll, die durch die Krise gerade historisch delegitimiert wurden. In Anlehnung an Elmar Altvaters (1979) Analyse der einsetzenden neoliberalen Konterrevolution kann man davon sprechen, dass die Bourgeoisie vom „Fluchtpunkt Ökonomie" (mit dem sie sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1974/75 aus den Fesseln des fordistischen Klassenkompromisses befreien wollte) zum ›Fluchtpunkt Staat‹ wechselt (der sie vor den eigenen Kräften der Selbstvernichtung schützen soll). Tatsächlich schreiben sich Finanz- und Industriekapital ihre staatlichen ›Rettungspakete‹ weitgehend selbst. Alle erdenklichen Machtbastionen werden interessenpolitisch aktiviert, Krisenstrategien restaurativ zum Erhalt der Herrschaft eingehegt. Vorschnelle Endzeiterwartungen sind inzwischen weitgehend zurückgenommen. Der Finanzmarktkapitalismus zeigt sich laut Hans-Jürgen Urban „viel stabiler [...], als wir das noch vor ein paar Monaten dachten" (2009, 32).

Den Zusammenhang von ökonomischen Krisen und Emanzipation zu denken, hat in der Geschichte des Marxismus eine lange Tradition, die auf Marx' Analyse der Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 zurückreicht. Bei allgemeiner Prosperität, heißt es dort, kann „von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo [...] die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen [...] in Widerspruch geraten [...]. Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." (MEW 7, 98) Diese Hoffnung ist im Krisenprozess des Kapitalismus jedoch oft enttäuscht oder erstickt worden. Schon Marx musste sich 1858 revidieren, weil sich die revolutionären Konsequenzen der Krise von 1857 nicht einstellen wollten. Er stellte fest, dass „eine Gesellschaftsordnung [...] nie unter[geht], bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind [...]; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten selbst ausgebrütet sind." (MEW 13, 9) Die späteren die Krisenbefunde von Marx und Engels waren eher ambivalent. Die ökonomische Krise wurde zwar als „Zwangsmittel der gesellschaftlichen Umwälzung" (MEW 20, 268) begriffen, nicht aber zwingend in einem emanzipatorischen Sinn. Sind ›im Schoße‹ der alten Gesellschaft die Bedingungen einer revolutionären Umwälzung bereits entfaltet, kann die Krise eine revolutionäre Situation hervorbringen; wenn nicht, wird sie zur Triebkraft, die eine „vorzeitige Erneuerung des Betriebsgeräts auf größrer gesellschaftlicher Stufenleiter" erzwingt (MEW 24, 171).

Die „fortwährende" Revolutionierung der „Produktionsinstrumente" und „sämtlicher gesellschaftlichen Verhältnisse" (MEW 4, 465) gehört jedoch auch zu den Eigentümlichkeiten, die die Fortexistenz der kapitalistischen Produktionsweise sichern. Elmar Altvater (1983, 84) sah die entscheidende Funktion ökonomischer Krisen so auch nicht in der „Bestandsgefährdung" der kapitalistischen Produktionsweise; „paradoxerweise [sei] Bestandssicherung [...] ihre manifeste Funktion". Die Krise wird nicht zum Terrain, auf dem sich die subalternen Klassen zum emanzipatorischen Projekt emporschwingen, sondern zum „ökonomischen Moment der Regeneration politischer Macht des Kapitals" (Altvater 1979, 71). Tatsächlich analysierte Marx im Kapital allein die „Möglichkeiten" der Krisen. Über deren konkreten Ausgang hielt er sich bedeckt. Ob die Möglichkeiten der Krise „sich zur Wirklichkeit entwickeln" können (MEW 26.2, 512), ließ er offen. Genauso wie deren jeweiligen wirklichen Ausgang.

Diese Analyse war die Aufgabe der nächsten Marxisten-Generation. Eric Hobsbawm (1981, 42) hat gezeigt dass die erste ›Krise des Marxismus‹ just in die Zeit fällt, „da sich die Krise des Kapitalismus in eine neue Expansionsphase auflöst (um 1897)", wo also die Gewissheiten über den Zusammenhang krisenhafter Kapitalentwicklung und Emanzipation zu verdampfen drohten. Lange hielt sich die Vorstellung, der Staat ›werde es schon richten‹ - beeindruckt durch die Eroberungen institutioneller Macht der Arbeiterbewegung in den Organen des bürgerlichen Staates. Marx notierte infolge fortschreitender Konzentration des Kapitals die Notwendigkeit der „Staatseinmischung", die er als „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise" und als „Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform" interpretierte (MEW 25, 454). Teile der nachfolgenden Generation marxistischen Denkens tendierten auf dieser Grundlage dahin, jede Form der staatlichen Organisation der kapitalistischen Ökonomie als ›Vorzimmer‹ zum Sozialismus und als Stärkung institutioneller Gegenmacht der Arbeiterbewegung zu deuten, was sich als grandiose Fehleinschätzung erwies.

Auch die Kommunistische Internationale tappte daneben. Sie hatte in den 1920er Jahren eine neue ökonomische Krise vorhergesagt und sie zugleich als Triebkraft der sozialistischen Revolution ausgemacht. Die Krise, die dann tatsächlich ausbrach, mündete in Europa nach wenigen Zwischenetappen (Volksfront in Frankreich) in ganz anderen Herrschaftsformationen. Gramsci war wohl der erste, der die Schlussfolgerung zog, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen „von sich aus" keineswegs „fundamentale Ereignisse hervorbringen". Aber die Terrains, auf denen die antagonistischen Interessenkonflikte ausgetragen und gelöst werden - daran ließ Gramsci keinen Zweifel -, verändern sich und ebnen bestimmten Krisenstrategien den Weg (H. 13, §17, 1563).

Die Handlungskorridore antagonistischer Interessen, die in ökonomischen Krisen neu vermessen werden, gilt es zu analysieren. Eugen Varga notierte noch revolutionsoptimistisch, dass die der kapitalistischen Produktionsweise immanente „Wiederholung der Zyklen" keineswegs auf „die Aneinanderreihung von qualitativ gleichartigen Vorgängen" hindeute (1969 [1931], 208). Er versuchte, die Unterschiede der Weltwirtschaftskrisen von 1873-1895 und 1929-1932 zu reflektieren. Seine Notiz nimmt aber auch deren Erscheinungsbild von 1974/75 und in der Gegenwart vorweg. Inzwischen kommen Analysen der aktuellen Krise kaum noch ohne historische Vergleiche aus. In einem Punkt scheinen sie sich einig zu sein: Der aktuelle Krisenprozess unterscheidet sich massiv von den Depressionen 1873ff und 1929ff. „Auf ihn antwortet keine sozialistische Massenbewegung mehr." (Georg Fülberth, Freitag, 28.12.2008)

Im historischen Verlauf hat sich der Typus der Krisen erheblich verändert. Giovanni Arrighi notierte 1978, dass Tendenzen „zu einer fortlaufenden Stärkung der Arbeiterklasse das Wesen der Krise verändert", was folglich auch für deren deren Schwächung zutrifft. Diese in den Charakter der Krisenwirklichkeit eingelagerten Kräfteverhältnisse muss eine materialistische Krisenanalyse offenlegen, zum einen um die objektiven Bedingungen für Prozesse der Krisenüberwindung zu bestimmen, zum anderen um emanzipatorische Handlungswege jeweils neu ausloten zu können. Hatte nicht schon Lenin in der „konkreten Analyse der konkreten Situation" die „lebendige Seele des Marxismus" erblickt (LW 31, 154)? Dabei geht es um relativ traditionelle Fragen: „What is to be done and who - the hell - will do it?" (Harvey 2009) Gilbert Ziebura kommt in seiner Analyse der Doppelkrise von Weltökonomie und Weltpolitik zwischen 1922/24 und 1931 (vor dem Hintergrund der waltenden Weltwirtschaftskrise 1974/75, die 1980/82 ihre zweite Welle erlebte) zu dem Schluss, dass „die drei letzten Weltwirtschaftskrisen jedenfalls [...] drei völlig unterschiedliche Erscheinungsbilder [zeigen]. Eine Theorie zu entwickeln, die fähig wäre, ›nur‹ diese drei großen Krisen zu erklären und sich dabei nicht auf den lichten Höhen inhaltsleerer Abstraktionen bewegt, wird für eine historische Sozialwissenschaft sicherlich eine immerwährende Aufgabe bleiben, aber keineswegs unmöglich sein." (1984, 30)

Die Regulationstheorie schien Antworten auf unterschiedliche Krisentypen und unterscheidbare Ausgänge aus „großen Krisen" zu haben. Zunächst ist in ihrer Sicht jede „große Krise" das Ergebnis einer spezifischen historischen Konstellation im Verhältnis von Kapital, Arbeit und Staat. Diese Konstellationen weisen dem ›Fall der Profitrate‹ oder der ›Überproduktion‹ ihre Funktion in der Krise zu. Lipietz hebt hervor, dass „die extensive Akkumulation im 19. Jahrhundert auf den Mangel an Arbeitskräften (Fall der Profitrate durch Lohnkonflikte) [stieß]. Die Überproduktionskrise von 1930 führte den Widerspruch zwischen intensiver Akkumulation (starke Produktivitätsgewinne) und Stagnation des Lebenshaltungsniveaus der Arbeiter vor." In der Krise seit 1974/75 erblickte er die Krise „einer Form, in der die Produktivitätsgewinne von einer Ausweitung des Konsums der Arbeiter begleitet werden. Sie setzt ein mit dem Niedergang der Rentabilität, indem die Politik der ›Austerität‹, die die (durch den hochgehaltenen Ölpreis geschmälerten) Profite wiederherstellen soll, schließlich zu einer Unterkonsumtion führt." (1986, 715) Im Zentrum des regulationstheoretischen Erkenntnisinteresses stehen jedoch auch die historisch unterschiedlichen Formen der ›Krisenüberwindung‹. Warum entfalteten sich die der Krise der 1930er Jahre inhärenten Dynamiken zum Geburtshelfer des Staatsinterventionismus und die der 1970er Jahre zu Triebkräften ›neoliberaler Konterrevolutionen‹? Die regulationstheoretische Antwort bleibt unbefriedigend. Sie erschöpft sich im empirisch nicht eingelösten Postulat vom Primat der sozialen Kämpfe, die kapitalistische Regulationen als „›glückliche Fundsachen‹ [...], die im Laufe der Zeit bewusst konsolidiert werden konnten" (Lipietz 1998, 104), generieren. ›Everything goes‹ in Krisensituationen also? Die Sozialwissenschaft hat dafür das Zauberwort der ›Kontingenz‹ verbreitet. Die Realitäten sprechen dagegen. Ziebura konstatiert etwa für die 1930er Jahre, dass die sich in der Krise formierenden Kräfte entweder „die Kraft zu einer alternativen Krisenüberwindungsstrategie (Roosevelts New Deal; Volkfront in Frankreich)" besaßen, oder aber wenigstens „wie in England [...] die Konservativen [...] sich von liebgewordenen Vorstellungen (Pfund-Abwertung)" trennten (1984, 182). Auch die Anhänger des Marktliberalismus mussten sich der ökonomischen Intervention des Staates und der Regulation effektiver Nachfrage infolge aufstrebender Massenproduktion beugen. Und auch im italienischen Faschismus wurden von einigen Strömungen bestimmte Elemente kapitalistischer Regulation, die vom Typus der Krise und den daraus sich objektiv ergebenden ›Zwängen‹ vorgegeben waren, aufgegriffen, politisch kanalisiert und letztlich - in der ›progressiven‹ Variante - marginalisiert.

Den Referenzfall für eine „große Krise" und den durch sie bewirkten Umbruch in der Regulation des Kapitalismus markieren die USA. Die ›Vorreiter‹ trifft es am schärfsten. Hier gelang die fordistische Neuorganisation der Produktion bis zur Großen Depression am gründlichsten. Anfänge des Massenkonsums entwickelten sich seit 1870 mit der Entstehung von Großhändlern und großen Warenhäusern (Woolworth), die sich - im Unterschied zu den europäischen - eher an den unteren Einkommen orientierten (Hurtienne 1984, 271). Der Einführung der Transportbänder in den Schlachthöfen Chicagos folgte die Fließfertigung bei Ford 1913. Bis 1920 verbreitete sich die ›Revolutionierung des Produktionsprozesses‹ in der Elektroindustrie, der Nahrungsmittelproduktion und der Zigarettenindustrie (283). Dadurch aber verschärfte sich die Grund­problematik fordistischer Akkumulation: die Regulation an der Schnittstelle (und Krisen›möglichkeit‹) Produktion/Konsumtion. Der reale Stundenlohn der Industriearbeiter stieg zwischen 1920 und 1929 lediglich um 2%, das Einkommen aus Gewinnen und Renten um 45% (Ziebura 1984, 51). Begleitet wurde dies durch die drastische Verschuldung privater Haushalte, die sich schließlich im Kollaps des schwarzen Donnerstags‹ entlud. Die Automobilproduktion halbierte sich zwischen 1929 und 1931; „die Produktion von Schallplatten für arme Leute (race records und Jazzplatten, die sich an ein schwarzes Publikum richteten) wurden für eine Weile sogar fast völlig eingestellt" (Hobsbawm 1995, 134). Erst mit der staatlich vermittelten Neuregulierung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital, die die gewerkschaftliche Organisation stärkte, sowie der Einführung einer keynesianischen Nachfragepolitik in der Politik des New Deal ab 1933 konnte die Krise entschärft werden; doch erst unter den Bedingungen der Kriegsproduktion und mit der Belieferung ausländischer Märkte konnte die Arbeitslosenquote von 17,2% (1939) auf 1,9% (1944) gesenkt und das us-amerikanische Handelsbilanzdefizit in einen -überschuss verwandelt werden.

Für die Durchsetzung des regulativen Paradigmenwechsels war ein neues Artikulationsmuster von Arbeiterbewegung und Staat entscheidend: Rupert (1995, 104ff) unterscheidet in seiner Studie zur Herausbildung der US-Hegemonie zwei Phasen: „Fordism vs. Unionism" (1914-1937) und „Unionism is Americanism" (1937-1952). Bis es zur Symbiose von Amerikanismus und Gewerkschaftsbewegung kam, musste die Arbeiterbewegung aber viele schmerzliche Kämpfe durchfechten, in denen sie sich aus traditionellen Handlungsorientierungen löste, um zu autonomen Forderungen zu gelangen. Allerdings brauchte auch dies Zeit: der Anstieg der Arbeiterkämpfe infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 setzte erst mit drei bis vier Jahren Verzögerung ein. Fox Piven/Cloward schlussfolgern, dass es erst der „weitreichenden sozialen Verschiebungen einer schweren Wirtschaftskrise [bedurfte], damit die Arbeiterbewegung hervorbrechen und die Kraft zur Erschütterung der politischen Arena gewinnen konnte [...]. Die Arbeiter der dreißiger Jahre hatten keine Richtlinien, denen sie hätten folgen und die ihnen hätten Schutz gewähren können: Ihre Kämpfe trotzten den Konventionen des politischen Spiels um Einfluss und Macht und verschmähten daher auch den Schutz, den diese Konventionen zu bieten haben. Die Arbeiter zahlten einen hohen Preis für ihren Widerstand: Tausende wurden festgenommen, Hunderte verletzt und viele getötet. Und doch haben sie auch Erfolge erzielt." (1986, 198f)

Der Vergleich „großer" kapitalistischer Krisen kann zeigen, dass Ausgänge aus der Krise immer über Kämpfe oder politische Formierungen (zur Durchsetzung oder Verhinderung) bestimmter Interessen bestimmt sind. Das Finden von Lösungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise vollzieht sich in der Regel als ein Prozess, den Gramsci als „passive Revolution" bestimmt hat. In passiven Revolutionen kommt es zu „molekularen Veränderungen, die in Wirklichkeit die vorhergehende Zusammensetzung der Kräfte zunehmend verändern und folglich zur Matrix neuer Veränderungen werden" (H. 15, §11, 1727f). Diese Prozesse, in denen die Erweiterung von Handlungsfähigkeit auf dem Spiel steht, müssen in jeder Krise neu studiert werden. In ihnen liegt der Schlüssel für die Bestimmung von Zwischenstufen des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes.

Der historische Vergleich zeigt aber auch, dass die Durchsetzungsfähigkeit bestimmter Interessen (zumindest in ›großen Krisen‹) an strukturelle Bedingungen geknüpft ist. Wie sollte sonst die Absorption korporatistischer Strukturen in den faschistischen Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre und die tendenzielle ›Sozialdemokratisierung‹ aller volksdemokratischen Parteien in der sog. Nachkriegsordnung erklärt werden? Und wie ließe sich erklären, dass selbst die eingefleischtesten sozialdemokratischen Keynes-Anhänger zumindest nach der zweiten Welle der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre (1980/82) zu angebotspolitischen Paradigmen und wettbewerbskorporatistischen Formen politischer Praxis umschwenkten?

Fangen wir an, auch die aktuelle Krise empirisch zu untersuchen! Fragen wir nach dem Zusammenspiel von ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Faktoren! Objektiv deutet vieles auf die Existenz einer „großen Krise" hin - unabhängig davon, ob sie sich kurzfristig in einem Paradigmenwechsel der Arbeits- und Wirtschaftspolitik manifestiert oder nicht. Die weltökonomische Staubsaugerfunktion der US-Ökonomie infolge des ›privatisierten Keynesianismus‹ ist mit dem ›Finanzcrash‹ unwiderruflich zu Ende. Ein neuer ›Staubsauger‹ der Weltökonomie ist nicht in Sicht. Vielmehr deuten die nationalstaatlich implementierten ›Rettungspakete‹ auf eine ›beggar-my-neighbour‹-Politik hin, die strukturelle Überkapazitäten über Verdrängungswettbewerb zu kompensieren versucht. Der Tatsache beispielsweise nationalstaatlich ›erfolgreicher‹ Krisenbewältigung stehen jedoch die weltökonomischen Ungleichgewichte gegenüber, die zu einer Welle von Arbeits- und Armutsmigration tendieren, welche die ›erfolgreichen‹ Ökonomien nur abwehren können, wenn sie zu autoritären ›Migrationsregimes‹ greifen.

Von einer politischen Reorganisation der Weltarbeitsteilung, die wirkliche Krisenursachen bekämpft, ist auch die neue Global Governance (G20 u.a.) noch meilenweit entfernt. Selbst kurzfristige Krisenüberwindung - jenseits der durch Kapitalvernichtung selbst hergestellten - will sich nicht einstellen. Wenn die Hypothese richtig ist, dass jede „große Krise" das Ergebnis der ›Widerspruchsakkumulation‹ der vorhergehenden Phase kapitalistischer Expansion ist, dann leben wir - ob es uns gefällt oder nicht - objektiv in einer keynesianischen Konstellation. Der in der Finanzkrise ›im Meer versenkte‹ Reichtum speiste sich nämlich vor allem durch zwei Entwicklungen: einer neokapitalistischen „Landnahme" (Harvey) durch Privatisierung öffentlicher Güter und sozialer Sicherungssysteme, und einer gigantischen Umverteilung ›von unten nach oben‹. Diese Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums setzte die Redistribution sozialer Macht voraus. Sie basierte auf einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung, der es z.B. in der BRD in den letzten Dekaden kaum mehr gelang, selbst den verteilungspolitisch-neutralen Verhandlungsspielraum in den Tarifauseinandersetzungen auszuschöpfen. Die Erosion tradierter Formen der Gewerkschaftsmacht übersetzte sich seit Mitte der 1990er Jahre in eine Krise ihres ›Kerngeschäfts‹: der Betriebs- und Tarifpolitik (Röttger 2007). Das Tarifvertragssystem mutierte von einer betrieblichen Mindest- zu einer Höchstnorm; Abweichungen vom Flächentarif ›nach unten‹ konnten mangels Organisationsmacht in den Betrieben oft nicht verhindert werden. In der Folge verfestigten sich die Strukturen des ›Exportmodells Deutschland‹, das, wie auch andere Exportökonomien, von der durch die Implosion des „privatisierten Keynesianismus" verursachten ›Krise der Realökonomie‹ besonders getroffen wurde. Zugespitzt ließe sich behaupten, dass es die Krise gewerkschaftlicher Organisation war, die die gegenwärtige Krise hervorgerufen hat. Ihr ist es nicht gelungen, den Geldhahn, aus dem sich die spekulativen Blasen speisten, abzudrehen, oder durch tarif- und strukturpolitische Maßnahmen das industrielle Spezialisierungsprofil der bundesdeutschen Ökonomie zu transformieren. Bislang gibt es auch kaum Anzeichen, dass sich dies unter den Bedingungen der Krise ändert - das unterscheidet die ›keynesianische Konstellation‹ der Gegenwart von früheren. Heute stellen Kapitalstrategien verstärkt Löhne, Mitbestimmungsrechte und Arbeitsstandards in Frage und versuchen, die Lasten der Krise den Arbeiterklassen aufzuhalsen - oder über den Staat zu sozialisieren. Das bedeutet aber auch, dass Kapital und bürgerlicher Staat als Akteure erfolgreicher Krisenüberwindung weitgehend ausfallen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die ›keynesianischen Zwänge‹ der Ökonomie in der schwarz-gelben Regierung politisch artikulieren werden.

Gegenwärtig deutet vieles darauf hin, dass wirkliche Krisenüberwindungsstrategien blockiert sind. Bereits Gramsci kannte die Situation einer „Krise, die sich manchmal über Jahrzehnte hinzieht. Das bedeutet, dass in der Struktur unheilbare Widersprüche aufgetreten sind, welche die positiv an der Erhaltung der Struktur selbst wirkenden politischen Kräfte jedoch innerhalb gewisser Grenzen zu heilen sich bemühen". Für Gramsci entsteht eine solche Situation, weil gerade in Zeiten der ökonomischen Krise „die verschiedenen Bevölkerungsschichten nicht dieselbe Fähigkeit besitzen, sich rasch zu orientieren und sich mit derselben Schnelligkeit zu reorganisieren" (H. 4, §38, 493). Derart prozessierende Krisen verhindern, „dass die Elemente der Lösung sich mit der nötigen Geschwindigkeit entwickeln; wer herrscht, kann die Krise nicht lösen, hat aber die Macht [zu verhindern], dass andere sie lösen, das heißt hat nur die Macht, die Krise selbst zu verlängern" (H. 14, §58, 1682). Vorerst keine allzu rosigen (roten) Aussichten!

Literatur

Altvater, Elmar, „Die bürgerliche Hegemonie, die ›Logik der ökonomischen Sachzwänge‹ und die Alternative der Arbeiterbewegung", in: Arbeitskreis Westeuropäische Arbeiterbewegung (Hg.), Eurokommunismus und Theorie der Politik, Berlin/W 1979, 65-83

ders., „Der Kapitalismus in einer Formkrise. Zum Krisenbegriff in der politischen Ökonomie und ihrer Kritik", in: Aktualisierung Marx, Argument Sonderband 100, Berlin/W 1983, 80-100

Arrighi, Giovanni, „Towards a Theory of Capitalist Crisis", in: New Left Review 111, 1978

Buci-Glucksmann, Christine, u. Göran Therborn, Der sozialdemokratische Staat. Die ›Keynesianisierung‹ der Gesellschaft, Hamburg 1982

Deppe, Frank, Politisches Denken im Kalten Krieg. Teil 1: Die Konfrontation der Systeme, Hamburg 2006

Fox Piven, Frances, u. Richard A. Cloward, Aufstand der Armen, Frankfurt/M 1986

Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, hgg. v. K.Bochmann, W.F.Haug u. P.Jehle, Hamburg 1991ff

Harvey, David, „Was tun? Und wer zum Teufel tut es?", in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und politische Praxis 1/2009, 100-109

Hobsbawm, Eric, „Die Krise des Kapitalismus in historischer Perspektive", in: F.Fröbel, J.Heinrichs u. O.Kreye (Hg.), Krisen in der kapitalistischen Weltökonomie, Reinbek 1981, 35-52

ders., Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995

Hurtienne, Thomas, Theoriegeschichtliche Grundlage des sozialökonomischen Entwicklungsdenkens. Bd. II: Paradigmen sozialökonomischer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Saarbrücken 1984

Lipietz, Alain, „Krise", in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd.4, Hamburg 1986, 712-19

ders., „Drei Krisen. Die Metamorphosen des Kapitalismus und die Arbeiterbewegung", in: ders., Nach dem Ende des ›Goldenen Zeitalters‹. Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften, Hamburg 1998, 24-58

ders., „Kette, Schuss und die Regulation: ein Werkzeug für die Sozialwissenschaften", in: ders. 1998, 77-115

Röttger, Bernd, „Passive Revolutionen - ein Schlüssel zum Verständnis kapitalistischer Umwälzungen und der aktuellen Krise der Gewerkschaftspolitik", in: Das Argument 270, 49. Jg., 2007, H. 2, 179-95

Rupert, Mark, Producing Hegemony. The politics of Mass Production and American Global Power, Cambridge 1995

Urban, Hans-Jürgen, „›Der Finanzmarktkapitalismus ist stabiler, als wie dachten‹. Gespräch mit Hans-Jürgen Urban über strategische Herausforderungen und Defizite der Gewerkschaften", in: Sozialismus 334, 36. Jg., 2009, H. 9, 31-36

Varga, Eugen, „Methodik der Konjunkturanalyse [1930]", in: ders., Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen, hgg. v. E.Altvater, Frankfurt/M 1969, 88-197

ders., „Die Krisentheorie von Marx und die Probleme der Weltwirtsaftskrise [1931]", in: ders. 1969, 198-218

Ziebura, Gilbert, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931, Frankfurt/M 1984



[1] >DIW verordnet sich Konjunkturprognose-Stopp<, Handelsblatt, 14.04.2009.