Die Ideologie des Neoliberalismus als kulturelles Kapital

Als der Münchener Ökonom Hans-Werner Sinn Ende Oktober die gegenwärtige Wirtschaftskrise mit den Worten kommentierte, 1929 habe die Suche nach „Sündenböcken“ in Deutschland eben die Juden getroffen, heute treffe es die Manager, löste der unsägliche Vergleich völlig zu Recht einen Proteststurm aus. Fast gänzlich übersehen wurde dabei der eigentliche und in sich höchst bemerkenswerte Kern der Argumentation. Sinn wollte nämlich lediglich gemeint haben, wie er in seiner folgenden Entschuldigung gegenüber dem Zentralrat der Juden noch einmal unterstrich, dass die Suche nach vermeintlich Schuldigen stets in die Irre führe. Denn die wirkliche Ursache der Krise seien nicht Personen, sondern Systemfehler.

Ging es Sinn tatsächlich nur darum, die Herrschaft des Systems und die Ohnmacht des Einzelnen zu postulieren, stellt sich allerdings die Frage, wie sich dann – wenn ohnehin nur der Sachzwang obwaltet – eigentlich die horrenden Managereinkünfte erklären.1

In jedem Fall ist es ein bemerkenswertes Phänomen, dass es im Augenblick der Krise – wieder einmal – niemand gewesen sein will. Allerdings verbirgt sich dahinter eine erstaunliche Konsequenz.

Tatsächlich vertreten seit vielen Jahren zahllose Wirtschaftswissenschaftler, allen voran Vertreter der herrschenden Neoklassik,2 den Standpunkt, dass sie mit ihren Theorien „nur“ die soziale Welt von außen neutral und gewissermaßen klinisch rein beschreiben. Doch während etwa in der Physik ganz selbstverständlich der Einfluss der Forschenden auf ihren Forschungsgegenstand berücksichtigt wird,3 behandeln sich liberale Ökonomen und Lobbyisten selbst „wie Luft“ – und kritisieren lediglich den als unzulässig erachteten Einfluss von staatlichen Akteuren und Gewerkschaften auf das angeblich „natürliche“ Wirtschaftsgeschehen.4

Seit Jahren sind neoliberale Begriffe und Gedanken in aller Munde und werden überall akzeptiert wie eine gängige Währung: „Starrheit“, „Flexibilisierung“, „Steuersenkung“, „Wettbewerbsfähigkeit“, „dauerhaftes Wachstum“, „Vertrauen der Investoren“ usw.5 Im Mittelpunkt stehen Individualismus und Wettbewerb – so unhinterfragt wie das Ptolemäische Weltsystem vor der kopernikanischen Wende.6 Der Wirtschaftsliberalismus hat sich auf diese Weise im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte von einem wissenschaftlichen Ansatz zu einem weitgehend akzeptierten gesellschaftlichen Paradigma mit gestalterischer Macht gewandelt.

Will man die jahrzehntelange Dominanz dieses Ansatzes erklären, hilft der Rückgriff auf die Soziologie Pierre Bourdieus. Mit Hilfe des Bourdieuschen Ansatzes kann man Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und menschlichen Akteuren erklären und aufzeigen, wie wirtschaftsliberales Denken mit einer zunehmend wirtschaftsliberalen Infrastruktur verflochten wurde.

Bourdieu vertritt die These, dass sich liberale Ökonomen zusammen mit anderen Protagonisten zu „Komplizen der Sachzwänge“ gemacht haben, die zunächst in theoretischen Abhandlungen beschrieben und anschließend politisch umgesetzt wurden. Deshalb konnte sich neoliberale „Reformpolitik“, wie etwa die Agenda 2010, als notwendige und einzig mögliche Antwort auf die angeblichen „Sachzwänge“ verkaufen.

Doch derartige ökonomische und gesellschaftliche „Gesetze“ können nur dann wirksam werden, wenn man sie auch ganz bewusst und zielgericht gewähren lässt.7 Die erfolgten Deregulierungen und Privatisierungen (Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen etc.) erscheinen so in einem ganz anderen Licht als dem von Hans-Werner Sinn insinuierten – wonach das System alles und der Einzelne nichts gewesen sei.

Bloße Meinung wird zu Wissen

In den vergangenen drei Jahrzehnten ist in einem vielfachen Wechselspiel zwischen Theorie, Politikberatung, Medien und Öffentlichkeit eine Art neoliberale selbsterfüllende Prophezeiung entstanden – gedüngt von einem fatalistischen Diskurs, der sich dadurch auszeichnet, wirtschaftliche Tendenzen in Schicksal zu verwandeln. Der Wirtschaftsliberalismus ist auf diesem Wege zu einem „starken Diskurs“ geworden.8 Wurden die praktischen Folgen der Politik kritisiert, so wurde von Wirtschaftsliberalen stets auf die Theorie verwiesen, die eben in der Praxis (noch) nicht konsequent umgesetzt wurde – weil der Staat angeblich immer noch zu interventionistisch handelte. Dass die theoretischen Modelle nur unter ganz bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen funktionieren, wurde dabei stets verschwiegen.

Dem Staat wird von Wirtschaftsliberalen auf diese Weise immer die Schuld zugeschoben – sei es, weil es zu viele Markteingriffe gibt oder weil der Staat Marktversagen nicht angemessen ausgleicht. Die Theorie des freien Marktes im Allgemeinen und die Eigentumsverhältnisse im Besonderen werden dagegen von den Wirtschaftsliberalen nicht in Frage gestellt. Allenfalls wird an das „Gewissen“ der einzelnen Menschen appelliert – durchaus im Widerspruch zu den Grundlagen der Theorie, nach denen egoistisches Handeln am Markt der gesamten Gesellschaft dient.9

Das als natürlich betrachtete „Ausleseprinzip“ des Wettbewerbs gilt im Wirtschaftsliberalismus als bestes und mithin einziges Mittel, menschliche Arbeitskraft, Maschinen, Anlagen, Rohstoffe, Energie und Umweltgüter „effizient“ zu nutzen. Mit Hilfe neuer Technologien sowie von Privatisierung, Liberalisierung, Wettbewerb und Eigeninitiative, so die Theorie, soll eine „Gesellschaft mit menschlichem Antlitz“ entstehen – ein wahres Schlaraffenland, in dem „wir alle älter, gesünder, wohlhabender, klüger und hoffentlich auch glücklicher werden“.10

Das Grundprinzip entspringt schlichtem Schwarz-Weiß-Denken: Wirtschaftlicher Wohlstand wird hier „nicht durch staatliche Planung oder Lenkung, sondern durch Menschen und Märkte von unten bewirkt.“11 Herbert Giersch, der „Nestor der deutschen Nationalökonomie“, charakterisiert die wirtschaftsliberale Sichtweise zusammenfassend als Ensemble verschiedener Punkte: Dezentralisierung, Subsidiarität, Wettbewerb, Selbstregulierung, Privatisierung, Privateigentum, Individualismus. Und Giersch macht aus der eigentlichen Qualität keinen Hehl: „Wer das Wort nicht scheut, mag das Ganze ‚Kapitalismus‘ nennen, genauer: Wettbewerbskapitalismus.“12

Heute, da selbst (und gerade) die einstigen Propagandisten des Neoliberalismus scheinbar ratlos vor dessen Folgen stehen, taucht allenthalben die Frage auf, wie die neoliberale Theorie zu einer derartigen Macht werden konnte.

Hier greift wiederum die Erklärung Bourdieus. Danach lässt sich die neoliberale Theorie (und Praxis) des modernen Kapitalismus in gewisser Weise als „kulturelles Kapital“ begreifen – und zwar in allen drei von Bourdieu beschriebenen Formen: als verinnerlichtes, vergegenständlichtes und institutionalisiertes Kapital.

Erstens wurde der Wirtschaftsliberalismus von unzähligen Menschen in Schulen und Universitäten verinnerlicht. Er existiert damit – bis heute – im Habitus und in den Köpfen von Professoren, Zentralbankchefs, Journalisten und Studierenden, aber auch als Meinung im Alltagsdenken. Verinnerlicht wurde der Wirtschaftsliberalismus vor allem von einflussreichen Wissenschaftlern und Akteuren, wie etwa Herbert Giersch, der auch die Grundausrichtung des Sachverständigenrats prägte und Generationen von Ökonomiestudenten beeinflusste.

Zweitens wurde der Wirtschaftsliberalismus in Lehr- und Schulbüchern vergegenständlicht – bis hin zu Computerplanspielen für den Schulgebrauch.13 Eine besonders fundamentale Art der Vergegenständlichung des Wirtschaftsliberalismus erfolgt, wenn durch politische Entscheidungen die wirtschaftliche Infrastruktur verändert wird, so etwa in Freihandelsabkommen oder bei der Privatisierung öffentlichen Eigentums.

Drittens schließlich wurde der Wirtschaftsliberalismus institutionalisiert, etwa in akademischen Titeln und in vielen Preisen für Wirtschaftsfachleute, die über Jahre nahezu ausschließlich an Neoliberale vergeben wurden. Umso mehr stellt der diesjährige Wirtschaftsnobelpreis für Paul Krugmann eine echte Zäsur dar. Gleichzeitig stellt der akademische Wirtschaftliberalismus als einziges „legitimes Wissen bezüglich Wirtschaft“ auch gewichtiges „symbolisches Kapital“ im Bourdieuschen Sinne dar. Herausragendes Beispiel dafür ist Horst Köhler, dessen Aufstieg zum Bundespräsidenten nicht ohne seine vorangegangene, neoliberal grundierte Karriere beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu denken ist.

Das „Diktat der leeren Kassen“

Analog zur bewussten, aktiven Weitergabe kulturellen Kapitals in Schule und Universität14 gibt es auch beim wirtschaftsliberalen Denken verborgene Mechanismen der Übertragung kulturellen Kapitals. So wurde – und wird weiterhin – wirtschaftsliberales Denken permanent weitergetragen und verfestigt, etwa wenn Bankangestellte Aktienfonds als Geldanlage zur Ergänzung der staatlichen Rente empfehlen und die Anleger dann ihre Zukunftshoffnungen mit dem Aktienkurs verknüpfen. Selbst wenn neoliberale Lobbyisten Fernsehsendungen zum „Reformbedarf“ produzieren, aber nicht als Urheber genannt werden, wird die verborgene Übertragung wirtschaftsliberaler Gedanken gefördert. Bourdieu kritisierte deshalb bereits frühzeitig „Bankleute und Finanzbeamte“, die postulieren, dass wir uns den Notwendigkeiten der internationalen Finanzmärkte beugen müssten, und dabei stets den Hinweis darauf vergessen, dass sie sich damit zu Komplizen dieser Zwänge gemacht haben. Die Öffnung der Märkte leiste erst dem Kräftespiel des ungezügelten Kapitalismus Vorschub. „Experten“ vom Typ Weltbank oder IWF helfen mit, die Gesetze dieses „neuen Leviathan“, speziell der Finanzmärkte, durchzusetzen.15

Gruppen von wirtschaftsliberalen Intellektuellen haben über Jahre „anfangs gegen den Strom, unermüdlich jene Vorstellungen produziert, die nach und nach wie selbstverständlich geworden sind.“16 Bourdieu nennt hier insbesondere die Mont Pèlerin Society. Deren ehemaliger Präsident Giersch schlug bereits Anfang der 90er Jahre in Deutschland Steuersenkungen vor, um das „Diktat der leeren Kassen“ zu mobilisieren und damit den Staat zurückzudrängen.17

Das „Modell Tietmeyer“ (Bourdieu)

Auch der ehemalige Bundesbankchef Hans Tietmeyer wirkte an den wirtschaftsliberalen Veränderungen entscheidend mit. Als Leiter der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums formulierte er 1982 maßgeblich das sogenannte Lambsdorff-Papier, das das Ende der sozialliberalen Koalition besiegelte. Bei der Vorbereitung der Weltwirtschaftsgipfel arbeitete er als sogenannter Sherpa für Helmut Kohl und Theo Waigel. Später wirkte er maßgeblich an der Entstehung des Maastricht-Vertrages mit – was Bourdieu dazu veranlasste, vom „Modell Tietmeyer“ zu sprechen.

Später wurde Tietmeyer Vorsitzender des Kuratoriums der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), die seit einigen Jahren arbeitgeberfinanziert auf breiter Ebene in Medienkampagnen für wirtschaftsliberale Ziele wirbt. Der INSM geht es darum, die gesamte Bevölkerung von der Richtigkeit des Wirtschaftsliberalismus zu überzeugen. Unter den Unterstützern der Initiative finden sich Persönlichkeiten wie Martin Kannegießer, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Jenoptik-Chef Lothar Späth, sowie der Soziologe Lord Ralf Dahrendorf. Die Unterstützer der INSM setzen sich allesamt dafür ein, sich den vermeintlichen Sachzwängen des Marktes zu beugen. All das hinderte Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht daran, Hans Tietmeyer als Vorsitzenden einer Expertengruppe für eine neue Finanzmarktverfassung vorzuschlagen – was nur dank der massiven Proteste der anderen Parteien scheiterte.18 Der in der Öffentlichkeit weniger bekannte „Ersatzmann“ Otmar Issing, ehemaliger Chef-Ökonom der Europäischen Zentralbank, gilt Insidern ebenfalls als wirtschaftsliberaler Hardliner. Manchmal wird indirekt auf die Komplizenschaft wirtschaftsliberaler Akteure mit den „Zwängen der Globalisierung“ hingewiesen: Dank vieler – durch die Arbeit wirtschaftsliberaler „Fachleute“ in internationalen Gremien zustande gekommener – Zollsenkungsrunden seien die heutigen Zwänge von Globalisierung und Wettbewerb entstanden, so entwaffnend ehrlich der INSM-Mitbegründer Rodenstock im Jahre 2001.19

(Neo-)liberale Ökonomen beschreiben Regeln von Märkten als natürlich angenommene bestmögliche Strukturen. In diesem Sinne kritisiert Bourdieu die moderne Wirtschaftswissenschaft auch als „strukturalistische“ Theorie. Er selbst lehnt theoretische Modelle keineswegs ab, weist jedoch auf ihre Grenzen hin. Tatsächlich mag die Theorie freier Märkte vieles erklären können. Die Realität, das beweist die gegenwärtige Krise, richtet sich jedoch nach einer komplexeren Logik, die mit starren Modellen nicht fassbar ist.

Wird ein abstraktes (Markt-)Modell auf die Praxis übertragen (wie zum Beispiel das berühmte Theorem der komparativen Kostenvorteile Ricardos, das von Ökonomen immer wieder zur Legitimierung des Freihandels herangezogen wird), dann besetzt die theoretisch erdachte Regel einen doppelten Platz: „den der theoretischen Matrix und der praktischen Matrix […] und verhindert so, dass die Frage nach deren Verhältnis gestellt wird.“ Alle Aspekte, die ein theoretisches Modell (wie beispielsweise das des rationalen egoistischen Handelns auf Märkten) auf einen Blick sichtbar macht, gelten deshalb nur so lange, „wie sie für das genommen werden, was sie sind, also für logische Modelle, die die größtmögliche Zahl von beobachteten Fällen am schlüssigsten und sparsamsten erklären“. Solche Modelle werden nach Bourdieu jedoch falsch und gefährlich, sobald man sie als reale Grundlagen dieser Praktiken behandelt.20

Genau dies taten jedoch (und tun weiterhin) wirtschaftsliberale Politiker und ihre ökonomischen Berater. Sie tun so, als habe das Handeln der Menschen an Märkten das theoretische Modell zur Grundlage, wenn nicht gar zum Zweck. Damit wollen sie ein Modell, das zur Erklärung ökonomischer Praktiken konstruiert wurde, tendenziell zu der Macht machen, die diese Praktiken tatsächlich bestimmen kann. So wird ein theoretisch erdachtes Modell auch zur Norm für die Praxis (bzw. für die Politik), und es findet letztlich ein schleichender Übergang „vom Modell der Realität zur Realität des Modells“ statt. Dies wird seit Jahren überall dort praktiziert, wo wirtschaftsliberale Fachleute als Berater Einfluss auf die ökonomische Infrastruktur nehmen – sei es in wissenschaftlichen Beiräten und Gremien in der Politik, sei es als Mitarbeiter der Zentralbanken, auf dem G8-Gipfel, bei den fünf Wirtschaftsweisen oder im „Aktionsrat Bildung“.

Die Behauptung, man müsse die Märkte nach theoretischen wirtschaftsliberalen Regeln gestalten, läuft nach Bourdieu letztlich auf dasselbe hinaus wie die Forderung, Landstraßen müssten rot sein, damit sie den roten Linien auf der Landkarte entsprechen: „Im Namen dieses zum politischen Aktionsprogramm gewandelten wissenschaftlichen Ansatzes vollzieht sich eine ungeheure politische Arbeit, die darauf zielt, die Betriebsbedingungen dieser ‚Theorie‘ herzustellen.“ Für Bourdieu ist dies letztlich „ein Programm der planmäßigen Zerstörung der Kollektive“.21 Tatsächlich sehen es die Vertreter der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, ganz getreue Schüler Ronald Reagans und Maggie Thatchers, als notwendig an, „dass die Deutschen im 21. Jahrhundert ihre kollektiv organisierten Systeme zurückfahren“.22 Da sich heute viele Chancen und Möglichkeiten für die Einzelnen böten, würde sich auch deren Schutzbedürfnis verringern – eine Aussage, die im Angesicht der globalen Krise wie blanker Zynismus klingt. Zur angestrebten und in den letzten Jahren teilweise erfolgreich umgesetzten „Zerstörung der Kollektive“ zählen die zunehmende Aushöhlung von Tarifverträgen oder der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Privatisierung der Rente, des öffentlichen Verkehrswesens, aber auch die Aushöhlung des „Normalarbeitsverhältnisses“ und die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Die Immunisierung gegen Kritik

Bei aller berechtigten Kritik darf der Kapitalismus allerdings auch nicht in einem einfachen Ursache-Wirkungs-Schema zur bloßen Folge wirtschaftsliberaler Ideologie umgedeutet werden. Mit Bourdieu ist vielmehr aufzuzeigen, dass es Wechselwirkungen gibt, dass ökonomische Sachzwänge menschliche Komplizen haben, die diese Sachzwänge erst gewähren, zur Entfaltung kommen lassen.

Um wirksam kritisiert zu werden, muss der Wirtschaftsliberalismus deshalb heute als Gesamtzusammenhang gefasst werden. Dazu müssen die Verfechter des Wirtschaftsliberalismus als Teil des betrachteten Gegenstands gesehen werden. Ebenso muss aufgezeigt werden, dass journalistische, politische und wissenschaftliche Akteure als Vertreter derselben Ideologie zu sehen sind. Es kam deshalb bereits Bourdieu darauf an, die Unterzeichner von wirtschaftsliberalen Experten-Petitionen zu benennen, um die Verbindungen zwischen ihnen aufzuzeigen. Auch Wechselwirkungen zwischen ökonomischer Theorie und Praxis (beispielsweise durch Politikberatung) müssen analysiert und in diesem Zusammenhang gesehen werden.23 Die diskursiv wirksamen Erscheinungsformen des Wirtschaftsliberalismus sind jedoch nach wie vor fließend.

Angesichts der aktuellen Krise zeigt sich die eigentliche Schwierigkeit der wissenschaftlichen Kritik am Neoliberalismus besonders deutlich: Der Wirtschaftsliberalismus ist schwer zu fassen bzw. weiß sich jedesmal zu exkulpieren, wie das Beispiel Hans-Werner Sinn deutlich belegt. Kritisiert man nämlich die praktischen Folgen neoliberaler Politik, dann wird auf die Theorie verwiesen, wonach die Segnungen der Marktwirtschaft nur unter weitgehendem Ausschluss des Staates erreicht werden und es immer noch zu viele Markteingriffe gibt. Kritisiert man dagegen die theoretische Grundannahme rational handelnder Egoisten, die sich auf Adam Smiths „unsichtbare Hand“ beruft, so wird man darauf verwiesen, dass in der Praxis natürlich soziales Handeln notwendig ist – wenn auch in einem ganz spezifischen Sinne: So schreibt Rodenstock: „Aber sozial heißt eben nicht, dass man aus lauteren und gemeinwohlorientierten Motiven handelt, sondern dass das Ergebnis des Handelns – und sei es noch so egoistisch motiviert – der Gesellschaft nutzt. Dafür, dass dies so kommt, sorgt der Wettbewerb am Markt.“24

Wie Rodenstock und Hans-Werner Sinn schwanken neoliberale Autoren bisweilen zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Annahmen hin und her. Da sie sich dabei nicht explizit auf eine einzige umfassende Theorie berufen, führt dies im Diskurs letztlich zu einer Immunisierung gegen Kritik. Dies führt zum eigentlichen Kern des Neoliberalismus. Im Selbstverständnis des Wirtschaftsliberalismus ist der Gegenstand der Wirtschaftstheorie die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage der wahrscheinlichen Wirklichkeit. Die wirtschaftliche Wirklichkeit sei allerdings zu komplex, um sie gedanklich vollständig zu erfassen. Deshalb bedient sich die Volkswirtschaftslehre der vereinfachten Modellbildung und der Ceteris-Paribus-Modelle.

Die von Alfred Marshall (1842-1924) eingeführte „Ceteris-Paribus-Klausel“ bedeutet „unter sonst gleichen Bedingungen“. Wenn im Modell eine Variable verändert und deren Wirkung durchgespielt wird, nimmt man also an, dass alle Zusammenhänge und Einflussfaktoren, die in der Realität vorkommen, unverändert bleiben. Die Ceteris-Paribus-Klausel dient damit der gedanklichen Ausschaltung aller Einflüsse, die in einem Modell nicht erfasst werden. Viele neoliberale Ökonomen sind somit zutiefst überzeugt von Modellen, die nie in die Verlegenheit kamen, sich einer experimentellen Prüfung unterziehen zu müssen. Die Verwendung solcher Modelle fußt letztlich auf eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Ketten. Ausführlich beschäftigen sich auch die Ökonomen Horst Hanusch und Thomas Kuhn mit dem Problem der Ceteris-paribus Modelle.25 Ihnen zufolge existiert in der Volkswirtschaftslehre mittlerweile eine Reihe von Theorien, die gegen Falsifizierungsversuche als quasi immun gelten, weil sie auf Annahmen beruhen, die so „realitätsfremd und idealisierend formuliert sind“, dass man kaum jemals eine Situation finden werde, auf die sie zutreffen könnten.

Wenn Ökonomen auf die Ceteris-Paribus-Klausel zurückgreifen, ergibt sich ihnen stets die Möglichkeit zu argumentieren, dass diese nicht erfüllt war, sobald die Vorhersage einer Theorie nicht mit der Realität übereinstimmt. Also kann dies auch nicht als Beweis für ihre endgültige Falsifikation gelten. Letztlich kann der neoliberal argumentierende Ökonom also niemals Unrecht haben. Da es in der Ökonomie zudem kaum möglich ist, Theorien unter Laborbedingungen zu testen, die genau den Annahmen des benutzten Modells entsprechen, führt die Ceteris-Paribus-Klausel letztlich zur Immunisierung ökonomischer Theorien. Die theoretische Legitimierung des neoliberalen Freihandels und Wettbewerbs als wohlstandssteigernd lässt sich nicht wie im Labor testen und mit alternativen Modellen vergleichen. Ganz in diesem Sinne exkulpierte sich Milton Friedman als der Vorkämpfer „freier Märkte“ mit Hilfe der Ceteris-Paribus-Klausel, wenn er sagte, seine Ideen seien nie konsequent umgesetzt worden.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Letztlich fungierte die moderne Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen Jahren als selbsterfüllende Prophezeiung. Der Realitätsgehalt wichtiger neoliberaler Grundannahmen wurde umso höher, je mehr sich der Wirtschaftsliberalismus durchsetzte, denn dadurch wurden immer mehr Kollektive zerstört. Wirtschaftsliberale Theoretiker werden auch weiterhin, wie wir es gegenwärtig erleben, behaupten, die auftretenden Probleme lägen nur an der unzulänglichen Umsetzung ihrer Theorie. Doch während in ihrer Theorie weiter davon ausgegangen wird, dass egoistisches Handeln und mehr Wettbewerb quasi hinter dem Rücken der Akteure den allgemeinen Wohlstand fördern, appellieren derzeit zugleich viele Wirtschaftsliberale an das ethische Bewusstsein der Menschen und fordern einen starken Staat, der zwar nicht die Schwachen, aber ihre „Chancen“ schütze.

Gleichzeitig arbeiten sie weiter unermüdlich an der wirtschaftsliberalen Umgestaltung der Infrastruktur. Von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird bedingungslose Flexibilität gefordert und gleichzeitig der Zusammenhalt der Familie beschworen. Diese wirtschaftsliberale Politik wird auch in Zukunft jedes gesellschaftliche, solidarische Handeln massiv gefährden.

Der wirtschaftsliberalen Ideologie, die nach Bourdieu „ein schlicht und einfach konservatives Denken unter dem Deckmantel reiner Vernunft präsentiert, gilt es deshalb vernünftige Gründe, Argumente, Widerlegungen, Beweise entgegenzusetzen, kurzum: Es gilt wissenschaftliche Arbeit zu leisten.“26 Brennende Aufgabe bleibt es somit, die vielen Widersprüche und Fehler wirtschaftsliberaler Argumentationen aufzuzeigen und die „Komplizen der Sachzwänge“, von Hans Tietmeyer bis Hans-Werner Sinn, vehement zu kritisieren.

1 So etwa in der klugen Glosse von Jürgen Kaube, Homo exculpans, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 28.10.2008.
2 Die moderne ökonomische Theorie – im Folgenden als „Wirtschaftsliberalismus“ bezeichnet – wird oft mit der sogenannten neoklassischen Wirtschaftstheorie gleichgesetzt und gilt weitgehend auch als theoretische Grundlage neoliberaler Politik. Zur Kritik vgl. auch Heiner Flassbeck, Glasperlenspiel oder Ökonomie. Der Niedergang der Wirtschaftswissenschaften, in: „Blätter“, 9/2004, S. 1071-1079.
3 So z.B. die Erwärmung oder Abkühlung einer Flüssigkeit bei der Messung ihrer Temperatur durch die Eigentemperatur des Thermometers.
4 Vgl. Ulrich Weiss, Mehr Mut zu Freiheit und Markt. 25 Jahre Stiftung Marktwirtschaft und Kronberger Kreis, Berlin 2007.
5 Vgl. den Aufsatz Das Modell Tietmeyer, in: Pierre Bourdieu, Gegenfeuer – Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 53.
6 Vgl. Stephan Kaufmann, Der Sound des Sachzwangs, in: „Blätter“, 3/2006, S. 365-374.
7 Ebd., S. 63.
8 Ebd., S. 110.
9 Vgl. etwa Randolf Rodenstock, Chancen für Alle – Die Neue Soziale Marktwirtschaft, Köln 2001, S. 23.
10 Ebd., S. 187.
11 Ebd., S. 19.
12 Herbert Giersch, Ordnungspolitische Aufgaben in Ost und West, Bad Homburg 1991, S. 15 f.
13 Beispielsweise das Planspiel „Macro“ der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, das auch in der Lehrerfortbildung verwendet wird.
14 Vgl. Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, Hamburg 1997.
15Bourdieu, Gegenfeuer, a.a.O., S. 36.
16 Ebd., S. 39 f.
17 Vgl. zur Mont Pèlerin Society Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; Giersch, a.a.O., S. 17 f.
18 Vgl. die Bundestagsdebatte vom 15.10.2008, dokumentiert in: „Blätter“, 11/2008, S. 115-124.
19 Rodenstock, a.a.O., S. 30.
20 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 31999, S. 189 und 27.
21 Bourdieu, Gegenfeuer, a.a.O., S. 26.
22 Rodenstock, a.a.O., S. 79.
23 Vgl. exemplarisch: Günter Bachmann und Dirk Kotzur, Der Kronberger Kreis. Think-Tank der Politikberatung und der Parteien, in: Herbert Schui u.a., Wollt ihr den totalen Markt? Der Neoliberalismus und die extreme Rechte. München 1997, S. 239-270.
24 Rodenstock, a.a.O., S. 23.
25 Horst Hanusch und Thomas Kuhn, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Berlin u.a. 41998, S. 44?f.
26 Bourdieu, Gegenfeuer, a.a.O., S. 62.

 

Analysen und Alternativen - Ausgabe 12/2008 - Seite 70 bis 78