Zur Kritik des strafrechtlichen Identitätsdenkens

Über Alan Norries relationalen Begriff der Verantwortung

Das Strafrecht bietet zahlreiche Angriffsflächen. Hierzu zählen die überkommenen Anschauungen von Schuld und Verantwortung und somit die der Zurechenbarkeit einer Handlung zu einem Akteur.

Für den liberalen Individualismus ist es selbstverständlich, dass Menschen für ‚ihre' Handlungen ‚verantwortlich' sind. Der Mensch ist frei, d.h. in der Lage, seine Handlungen zu steuern. Wegen dieser Fähigkeit wird er für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich gemacht, mithin bestraft. In der Bestrafung liegt aber ein zweites Moment: die Benennung des freien Subjekts als alleinige Ursache für die Folgen der strafbaren Handlung. Bereits hier wird deutlich, dass die Annahme der Freiheit wie eine die Strafe rechtfertigende Prämisse wirkt und somit herrschaftliche Praxis legitimiert. Aber das liberale individualistische Dogma wäre schon einen Schritt früher zu hinterfragen: Wer handelt eigentlich? Ist die Feststellung, die A habe die Handlung B vollzogen, die bloße Beschreibung dessen, was ‚wirklich' geschieht oder greift die Beschreibung selbst in die Wirklichkeit ein? Schafft die Praxis der Handlungsbeschreibung nicht erst das Beschriebene, also die Handlung „von jemanden" und mit der Zurechnung die personale Autorenschaft?

So verstanden sind Akteure nicht monadische, d.h. vor-soziale und unvermittelte Einheiten, an die die Gesellschaft beurteilend von außen herantritt, sondern selbst in Gesellschaft eingeschrieben - und eben in mehrfacher Hinsicht ihr Produkt. Beschreibt die Gesellschaft Handlungen ‚von' Akteuren, bezieht sie sich auf etwas, das sie zugleich von sich unterscheidet. Diese doppelte Bewegung, die Bezugnahme auf etwas (Handlungen von Akteuren, Autorenschaft) und die gleichzeitige Trennung davon, ermöglicht dem Individualismus, Subjekte als etwas zu behandeln, das unvermittelt „vom Himmel gefallen ist." In anderen Worten: zu verschleiern, dass die Benennung von Autorenschaft in der sich beständig wiederholenden Praxis erst ihr Objekt schafft, das dann als gleichsam naturgegebene Form erscheint.

 

Das Subjekt des Strafrechts als Verdinglichung

Hier liegt der Einsatz für den Philosophen Louis Althusser, den einflussreichen Wegbereiter Michel Foucaults. Unter seinem Konzept der „Anrufung" ist die staatliche Praxis zu verstehen, die die ideologische Form des Subjekts in ständiger Benennung als Funktion des Staates herstellt. In dieser Lesart wird das Subjekt weder als historischer Fortschritt noch als natürliche Form verstanden, sondern als Effekt von diskursiven und institutionellen Praxen, eben Machtbeziehungen, die auf die Konstitution eines regierbaren Subjekts gerichtet sind. Der „strafrechtlich verantwortliche Mensch" ist die Form, in der Menschen in der Form „Recht" regierbar werden. Ansatzpunkt für Herrschaft sind hierbei nicht länger feudale, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse oder Standeszugehörigkeiten, sondern die apersonale Herrschaft des Rechts, das keine unvermittelte Herrschaft der Menschen über den Menschen kennt - und im freien und gleichen Tausch doch gesellschaftliche Herrschaft festschreibt. Kurzum: damit Recht wirksam wird, werden Einheiten im oben genannten Sinn benötigt, die für das Recht empfänglich sind und mit den Fähigkeiten Verhaltenssteuerung und Normumsetzung ausgestattet sind. Sanktionen und Schuldvorwürfe treffen allein diese ‚Einheiten', da diese die Norm nicht umgesetzt haben.

Auf diese Weise wird der Gegenstand der „Heldenerzählung der Aufklärung" (Heinz Steinert), des selbstbewussten Bürgers, der sein Schicksal gegenüber Klerus, Natur und Adel in die Hand zu nehmen und Geschichte zu transzendieren weiß, entzaubert. Nichtsdestotrotz halten sich noch die verdinglichenden individualistischen Anschauungen und sind nach wie vor wirkungsmächtig in den die staatliche Strafpraxis flankierenden Rechtswissenschaften mit ihrem common sense.

Demgegenüber behauptet die Systemtheorie, dass freie Subjekte bloße Funktionen sind, die als Orte der Benennbarkeit von Abweichung Komplexität reduzieren und normative Orientierung ermöglichen. Weiter gehen poststrukturalistische Ansätze, die, in begrüßenswerter Gegenbewegung zum Liberalismus, Subjekte allein als Effekte von Machtbeziehungen verstehen. Diese Sichtweisen laufen allerdings wiederum Gefahr, die wirkliche Bedeutung individueller Autorenschaft aus dem Blick zu verlieren.

 

Das Subjekt als Relation

Vor diesem Hintergrund setzt das Werk des britischen Rechtsphilosophen Alan Norrie ein. Ausgehend von Veröffentlichungen aus den 1980er Jahren zu Fragen marxistischer Rechtstheorie[1], beginnt er in den 1990er Jahren, die Spuren Kantischen Denkens innerhalb des strafrechtlichen Denkens aufzuzeigen[2]. Das formale Kantische Subjekt als einzige Adresse des Schuldvorwurfs kritisiert Norrie als Prototyp des Individualismus, der jeglichen historischen und strukturellen Kontext aus dem Schuldvorwurf verbannt und somit die Konstitutionsbedingungen der Subjekte ausblendet. Das Kantische Subjekt ist formal und abstrakt, weil es als unkörperlicher Sitz eines rationalen Willens fungiert und als Einheit der Person deren innere Natur zu beherrschen hat. Diese abstrakte, d.h. einseitige Einheit (die morality of form) ist es, die in strafrechtlicher Theorie und Praxis alleiniger Anknüpfungspunkt für den Schuldvorwurf ist. So ist das formale Subjekt, die Kantische Einheit, die zwischen Norm und Handlung vermittelt, eine Abstraktion, da sie als psychologische Realität nicht vorkommt. Der real existierende Mensch muss sich jedoch auf diese Form reduzieren, um als frei gelten zu können.

Das Ideal des liberalen Individualismus repräsentiert Individuen und schließt diese im gleichen Atemzug aus. In Anlehnung an Roland Barthes spricht Norrie davon, dass diese individualistische Form des Rechts „die neue Sprache der Herren" sei. Dieser individualistischen Sprache stellt Norrie die reale, soziale Individualität in einer relationalen Betrachtungsweise gegenüber. Der relationale Zugang begreift Individualität im Wechselverhältnis bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und der Einbettung der historisch gewordenen individuellen Einheit in bestehende Strukturen, die Handlungsformen bereitstellen, aber immer auch beschränken. (So die Form „Eigentum", die Bedürfnisbefriedigung nur in einem engen rechtlichen Rahmen zulässt.) Menschen realistisch als soziale Wesen zu begreifen bedeutet demnach, und damit kommen wir zum zweiten Punkt, die Handelnde immer historisch wie sozial vermittelt und dabei als bedingt und frei gleichzeitig zu verstehen. Die Handelnden wurden historisch geschaffen, finden bestimmte äußere Handlungsbedingungen vor und sind dennoch reale Akteure, da sie den Strukturen nicht alternativenlos ausgesetzt sind.

 

Geteilte Verantwortung zwischen Agent und Kontext

Das Rechtssubjekt ist für Norrie zugleich ein Ausdruck historischer Repression wie moralischer Expression. Während im traditionellen, nicht relationalen Verständnis von Schuld allein auf den Handelnden in seiner falschen Einseitigkeit abgestellt wird, geht Norrie von einem Konzept der geteilten Verantwortung zwischen Agent und Kontext aus[3]. So fordert Norrie einen relational character of blame, d.h., in den Vorwurf die Relation zwischen agency[4] und Strukturen einzubeziehen. Norrie will also nicht auf agency als realen Ort der individuellen Handlung verzichten, sondern die gesellschaftlichen Handlungsbedingungen (die Formen, die Handlungen zugleich ermöglichen und beschränken) mit in den Vorwurf einbeziehen.

An die Stelle des ‚entweder-oder' in den zwei Betrachtungsweisen auf Taten will er ein sowohl-als-auch' gesetzt sehen. Üblicherweise bewirkt der Schuldvorwurf, dass alle anderen möglichen Erklärungen für die Handlung außer der falschen Willensbetätigung ausgeklammert werden. „Es war der freie Wille und nicht die Armut der Täterin, die zu der Tat führte." Umgekehrt birgt die bloß erklärende Betrachtung von Normabweichung (die deterministische oder strukturalistische Perspektive) die Gefahr in sich, die Handelnde auf eine Gefangenschaft in Strukturen zu reduzieren. Ein relationaler Zugang zu Schuld erklärt Handlungen nicht alleine aus sozialen Formen oder Strukturen. Ebenso wenig kann aber der gängige Hinweis auf die Autonomie der einzelnen im Schuldvorwurf den gesellschaftlichen Kontext einer Handlung ausblenden. Methodologisch erfordert diese dialektische Erweiterung der Perspektive auf menschliches Handeln die gleichzeitige Berücksichtigung hermeneutischer und struktureller Zugänge. Sowohl die Perspektive der ersten als auch die der dritten Person sind gültig.

Für das realpolitische Bedürfnis ist Norries Ansatz freilich kaum ‚brauchbar', da das Strafrecht nicht Strukturen einer auf Ausschluss vom gesellschaftlichen Reichtum basierenden Gesellschaft ändern, sondern eben diese Ordnung reproduzieren will - und durch selektive Zuschreibungen die Störungen dieser Ordnung an Einzelne delegiert. Strafrecht ist aus strukturellen Gründen blind für Strukturen. Jenseits dieser Herrschaft sichernden Praxis eröffnet aber der realistische und vermittelte Zugang Norries, in dem Agenten und deren Kontexte Verantwortlichkeit teilen, eine Möglichkeit, Unrecht realistisch zu erklären. Eine mögliche Anwendung liefert Norrie selbst: in einem Text über die Schuld des NS-Architekten Albert Speer entwickelt er „den Raum dazwischen", den Raum zwischen Struktur und Individuum, als Ort, an dem Schuld angesiedelt ist.[5]

 

Stefan Krauth ist Strafverteidiger in Berlin

 

Weiterführende Literatur:

  • Norrie, Alan, Justice and Relationality, www.journalofcriticalrealism.org (24.06.2008).
  • Barron, Anne, The Illusions of the 'I': Citizenship and the Politics of Identity, in: A. Norrie (Hrsg.) Closure or Critique. New Directions in Legal Theory, Edinburgh 1993.


[1] Norrie, Alan, Pashukanis and the Commodity form Theory, in: International Journal of the Sociology of Law, 1982, 419-437.

[2] Norrie, Alan, Punishment, Responsibility and Justice. A Relational Critique, Oxford, 2000.

[3] Ebda., 230.

[4] Mit dem Begriff agency ist in etwa die menschliche Fähigkeit gemeint, zu wählen und zu handeln und wirksam in die Welt einzugreifen.

[5] Siehe Norrie, Alan, Albert Speer, Guilt and "The Space Between", in: Matravers, Matt, Punishment and Political Theory, 1999, 48 ff.