Leerstelle Konservatismus

Was für ein Auftrieb: Als die Bundesregierung binnen weniger Tage erst die Commerzbank teilverstaatlichte und anschließend ein zweites Konjunkturpaket im Umfang von 50 Milliarden auflegte, standen die kapitalnahen Zeitungen Kopf. „Ist Deutschland noch zu retten? Bloß keine DDR light“, flehte Springers „Welt“, derweil die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ klagte: „Wer rettet die Steuerzahler vor den Rettern? Wo ist die schwäbische Hausfrau?“ – als welche sich die Kanzlerin zuvor stets ausgegeben hatte.

Ist Angela Merkel nun also tatsächlich zu „Mutter Staat“ mutiert; ist dies tatsächlich die „Revolution der CDU“, wie die „tageszeitung“ mutmaßt? 1

Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die CDU kehrt, wenn auch bloß in Ansätzen, zurück zu ihren konservativen, etatistischen Wurzeln. Allerdings höchst notgedrungen, nämlich um den Kasinokapitalismus vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Dass dies heute bereits als Revolution wahrgenommen wird, zeigt jedoch, wie sehr sich die Union als einstige „Staatspartei der Bundesrepublik“ in den letzten Jahren ideell entkernt und von dem entfernt hat, was unter Konservatismus eigentlich zu verstehen ist.

Was heißt heute konservativ?


„Die Ursprünge konservativer Gesinnung“, stellt der Historiker Paul Nolte fest, „liegen in einem spezifischen Menschen- und Gesellschaftsbild: in einer skeptischen Anthropologie, in der Gegnerschaft gegen den liberalen Individualismus, in der Furcht vor der nicht mehr steuerbaren Fortschrittsdynamik der Moderne.“ 2

Konservative waren deshalb stets auch Gegner des aufkommenden Kapitalismus mit seiner revolutionären Dynamik. Aus ihrem negativen Menschenbild resultierte, nach dem Ende der ursprünglich von ihnen verteidigten ständischen Ordnung des Feudalismus, die Nähe zum autoritären Staat, der die als gefährlich begriffenen Leidenschaften und Begierden des Menschen zu domestizieren hat.

Was aber ist aus dieser Tradition des Konservatismus in der Bundesrepublik geworden? Die nach 1945 gegründete CDU knüpfte dezidiert nicht primär an die konservativ-reaktionären Tendenzen des Wilhelminismus und der Weimarer Republik an. Als große Volks- und Sammlungspartei verkörperte sie stets eine Symbiose aus wirtschaftsliberalen und kulturkonservativen Kräften. Dennoch wurde sie unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zu einer primär staatszentrierten Ordnungspartei. Seit 1989 hat sich das Leitbild der Union jedoch immer mehr von einem sozialetatistischen zu einem neoliberal-umstürzlerischen verkehrt, mit dem gegen das „verkrustete System“ der alt-bundesrepublikanischen sozialen Marktwirtschaft Front gemacht wird.

Wie weitgehend die Union von der neoliberalen Ideologie infiziert wurde, demonstrierte vor allem der Leipziger Parteitag von 2003. Sein Credo waren der Abbau des Staates und die Freisetzung der Marktkräfte. Auch hiervon erfolgte die Abkehr lediglich notgedrungen, aufgrund des schlechten Ausgangs der Bundestagswahlen 2005. Die Nachwirkungen von „Leipzig“ aber machen die Union bis heute zu einer Partei, in der viele Friedrich Merz für den Inbegriff christdemokratischen Denkens halten und sein Leitmotiv „Mehr Kapitalismus wagen“ 3 bejubeln, wie auf dem jüngsten Parteitag geschehen.

Wer glauben mochte, daran habe sich durch die globale Wirtschaftskrise Entscheidendes geändert, wird durch die Inhalte des unter Federführung von Angela Merkel erarbeiteten zweiten Konjunkturpakets eines Schlechteren belehrt. Anstatt ihrer Aufgabe als Kanzlerin gerecht zu werden, die Leitlinien der Politik (neu) zu bestimmen und die Krise als große Chance gestalterischer Politik in einem den Kapitalismus zähmenden Sinne zu begreifen, blieb Angela Merkel kraftlos und ohne jede über die Tagespolitik hinausweisende Idee.

Während das Paket instrumentell höchst akkurat austariert wurde (neun Milliarden Euro für Steuersenkungen gegen neun Milliarden Euro für die Senkung der Krankenkassenbeiträge), fiel der erforderliche Streit um die richtige Schwerpunktsetzung aus. Doch mehr noch: Indem innerhalb der Union die CSU den Ton angab, setzte der neue Parteivorsitzende Horst Seehofer seine anti-etatistische Steuersenkungspolitik durch. Darin besteht nach wie vor der Kern der Politik jenes angeblich „bürgerlichen Lagers“ aus Union und FDP, das nach der gewonnenen Hessenwahl auch für die kommende Bundestagswahl als gemeinsames Projekt ausgerufen wurde. Mit Konservatismus hat das jedoch nichts zu tun.

Die lange Zeit gelobte „Physik der Macht“ der Kanzlerin entpuppt sich in Zeiten der Krise als bar inhaltlicher Orientierung und Führungsbereitschaft. Ihre inhaltliche Konturlosigkeit zeigt, dass sich dahinter weniger innengeleitetes Regieren als von außen angestoßenes Arrangieren mit den stärksten Interessen verbirgt, sprich: die Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft.

Am deutlichsten wurde dies in ihrer abschließenden Regierungserklärung. Demnach war das 50-Milliarden-Konjunkturpaket für Angela Merkel „die bisher schwerste innenpolitische Entscheidung“, die sie als Bundeskanzlerin zu treffen hatte. „Schwerer also als das 500-Milliarden-Bankensicherungsprogramm?“ zeigte sich selbst die FAZ verwundert und fuhr besorgt fort: „Sind die Zahlenschöpfungen der vergangenen drei Monate überhaupt zu fassen, sind die Folgen der Bürgschaften und Neuschulden noch richtig einzuordnen?“ 4

Dass die Rettung der Banken, allen Gefahren tiefgreifender Verschuldung für Staat und Gesellschaft zum Trotz, als Selbstverständlichkeit behandelt wird, während klare Leitlinien gesellschaftlicher Orientierung weiterhin ausbleiben, ist symptomatisch für jene „Neue Bürgerlichkeit“ in Union und FDP, die das politische Prinzip der Führung und Gestaltung der Gesellschaft durch die staatliche Ordnung längst dem Markt überantwortet hat.

Anstatt gezielt in die zentralen Zukunftsfelder Bildung, Gerechtigkeit und Umweltschutz zu investieren, ging bei der ehemaligen Umweltministerin Merkel als Erstes der Klimaschutz über Bord. Die Wirtschaftskrise diente ihr als willkommener Vorwand, um die in der EU beschlossenen Grenzen für den CO2-Ausstoß in Frage zu stellen. Dabei hatte Merkel noch 2006 erklärt, der Kampf gegen die Erderwärmung sei „die wichtigste Herausforderung für die Menschheit“. Tatsächlich wird von sämtlichen ernst zu nehmenden Experten bescheinigt, dass in ökologischen Fragen nur noch ein Zeitfenster von wenigen Jahren verbleibt, um erfolgreich umzusteuern. Doch von Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen als wichtigstem konservativen (oder gar christlich fundierten) Ziel der Politik ist bei Merkel nicht mehr die Rede. Stattdessen wird dem Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen alles andere untergeordnet: „Deshalb steht für mich auch im kommenden Jahr an erster Stelle, Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen“, heißt es in ihrer jüngsten Weihnachtsansprache. Alles andere sollen offenbar der gute Wille der Bürger und das Lippenbekenntnis der Kanzlerin richten: „Wirtschaft und Klimaschutz, Klimaschutz und Wirtschaft – das geht zusammen, wenn man es nur will. Und wir wollen es.“ Bei so viel Autosuggestion fehlte eigentlich nur noch eines: das Schrödersche „Basta“.

Wohin diese Versöhnung von Ökonomie und Ökologie in den letzten Jahren tatsächlich geführt hat, können wir derzeit an der Absatzkrise der deutschen Automobilindustrie besichtigen. Heute wäre diese für frühere rigide Auflagen zur Verbrauchsdrosselung vermutlich sogar dankbar, da sie ihre Exportchancen nachhaltig verbessert hätten.

Der Wahlsieg als „Fortschritt“


Auch die zweite (zumindest rhetorische) Basis christdemokratischer Politik – das „C“, der Bezug zu christlichem Glauben und den beiden großen Kirchen –, ist in der Merkel-Union kaum noch verankert. Symptomatisch dafür war das große Schweigen auf die heftigen Attacken gegen den EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Wolfgang Huber. Für seine Schelte kurzfristiger Profitgier5 und speziell Josef Ackermanns wurde er von Vertretern der Wirtschaft heftig kritisiert. Dass man von der FDP in dieser Sache keine Verteidigung des Kirchenmannes hören würde, konnte nicht weiter verwundern. Dass allerdings auch die christliche Union weitgehend stumm blieb, musste denn doch etwas irritieren.

Diesen Verlust an christlich-konservativer Kontur wird man nicht nur darauf zurückführen können, dass Angela Merkel, wiewohl aus einem Pfarrhaus stammend, religiös eher amusikalisch wirkt. Ob Pofalla, Kauder, Meyer, Öttinger, Wulff oder Seehofer – wer würde ernsthaft annehmen, es hier zuerst mit einem Verein engagierter Christen zu tun zu haben. Und dass sich ein Scharfmacher wie Roland Koch im jüngsten hessischen Wahlkampf als „Kümmerer“ und fürsorglicher Landesvater gerierte – wenn auch ohne nennenswerten Erfolg, was die CDU-Stimmen anbelangte –, kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es selten eine Union gegeben hat, die glaubens- und kirchenferner gewesen wäre. Der Einzige, der derzeit als Propagandist für die christdemokratisch-konservative Leitkultur taugt, ist der kulturbeflissene Norbert Lammert – und der steht, genauer: sitzt, als Bundestagspräsident auch schon fast über allen Parteien.

Der Verzicht auf ein christlich-konservatives Leitbild hat jedoch direkte Auswirkungen auf die Orientierung der Union. Für Franz Josef Strauß bedeutete konservativ zu sein immerhin noch, in seiner bekannten paradoxalen Formulierung, „an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“. Heute dagegen macht sich die Union gar nicht erst die Mühe, anstatt das bloße Wachstum des Bruttosozialprodukts bedingungslos gut zu heißen, zu definieren, was wirklicher Fortschritt zu bedeuten hätte – nämlich ein besonderes, „qualitatives“, nachhaltiges Wachstum.

Ganz zu schweigen von der Frage, ob vielleicht sogar jemand Abstriche machen müsste, damit andere überhaupt nur die Chance eines besseren Lebens erhalten. Bei Angela Merkel heißt es dagegen in schon grotesk verschleiernder Weise: „Die Welt hat über ihre Verhältnisse gelebt.“ Die gut eine Milliarde Menschen, denen es laut jüngstem Welthungerindex am Allernötigsten fehlt und auf deren Kosten der reichere Teil der Welt die globalen Ressourcen in erster Linie verbraucht, 6 wird sich bei der Kanzlerin bedanken.

Das Ziel der Botschaft hinter Merkels abschließendem Weihnachtsversprechen („Wenn sich auch im kommenden Jahr jeder an seiner Stelle für etwas einsetzt [….], dann wird es uns allen noch besser gehen.“) ist dagegen trivial: Die alte Devise „Allen wohl und niemand weh“ verspricht die meisten Wählerstimmen im Superwahljahr 2009. Dabei steht jedoch eines heute bereits fest: Am Ende dieses Jahres – doch leider erst nach den Bundestagswahlen – werden wir durch den Klimagipfel von Kopenhagen, der eine Nachfolgevereinbarung für das Kyoto-Protokoll aus dem Jahre 1997 erarbeiten muss, mit einer Krisen-Botschaft konfrontiert sein, die weit über das Merkelsche Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze hinausweist – und uns erneut mit den zentralen globalen Problemen konfrontiert.

Was aber bedeutet diese bemerkenswerte Verdrängungsleistung, die weit über Unions-Kreise hinausreicht? Die globale Krise zeigt, dass ein kapitalismuskritischer Konservatismus heute mehr denn je erforderlich ist, um die Lebensgrundlagen zu bewahren.

Auch aus diesem Grund traf Erhard Eppler in den 80er Jahren die heute schon klassische Unterscheidung zwischen Wert- und Strukturkonservativen. Schon damals war unter „wertkonservativ“ nicht die (damals noch) primär strukturkonservative Union zu begreifen, sondern insbesondere die neu gegründete Grüne Partei. Keineswegs zufällig datiert mit den 80er Jahren auch die größte Nähe zwischen jenen Neuen sozial Bewegungen und den großen christlichen Kirchen, insbesondere der evangelischen. Die Lager vermischten sich, beide gingen gemeinsam auf die Straße: gegen NATO-Nachrüstung und AKWs, für Frieden und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, respektive: Gottes Schöpfung.

Inzwischen ist das Verhältnis wieder erheblich abgekühlt, vermutlich auch aufgrund des Bankrotts des realexistierenden Sozialismus im Jahr 1989/90. Dabei verweist die Krise des Kapitalismus erneut darauf, dass heute kein Widerspruch zwischen linkem und konservativem Denken bestehen muss, sondern das progressive Ziel der Vergrößerung der Gerechtigkeit nur durch das konservative der Bewahrung der menschlichen Lebensgrundlagen erreichbar ist. Die Anschlussfähigkeit von linken und konservativen Ideen ist damit erneut offensichtlich geworden. Für die verbliebenen Wertkonservativen unter den Grünen, aber auch für die Linke in Gänze resultiert daraus die Chance, den Diskurs mit den Kirchen wieder zu intensivieren und eben jene Leerstelle zu füllen, die das Versagen der Christdemokraten aufgetan hat.

Einer jener großen „zornigen Alten“, die in den 80er Jahren zu Vorbildern und Stichwortgebern wurden, war Helmut Gollwitzer, der am 29. Dezember 2008 hundert Jahre alt geworden wäre. Ihm wird der Ausspruch zugeschrieben: Der Sozialist kann Christ sein, aber wer Christ ist, muss Sozialist sein. 7 Heute wird kaum jemand eine sozialistische Überzeugung zur christlichen Pflichtübung erklären; der Kern der Botschaft aber bleibt richtig: Der ungezügelte Kapitalismus mit seinem Willen zur permanenten Profitmaximierung ist mit einer christlich-konservativen Überzeugung nicht zu vereinbaren. Das wusste und weiß die einst für die Union bedeutsame katholische Soziallehre eines Oswald Nell-Breuning und Friedhelm Hengsbach, doch die heutige, hyper-pragmatische Union hat es anscheinend verdrängt oder vergessen. Nicht zuletzt daraus resultiert das Versagen und die Orientierungslosigkeit der gegenwärtigen Bundesregierung.

 
1 Alle Zitate vom 12.1.2009.
2 Paul Nolte, Konservatismus in Deutschland. Geschichte – und Zukunft?, in: „Merkur“, 7/2001, S. 559-571, hier S. 561.
3 So der Titel seines jüngsten Buches.
4 FAZ, 15.1.2009.
5 Durchaus in geschwinder Abkehr von seinen jüngsten eher wirtschaftsliberalen Positionen, vgl. Detlef Hensche, Ein Herz fürs Kapital, in: „Blätter“, 9/2008, S. 13-16.
6 Vgl. Dieter Senghaas, Wege aus der Armut, in: „Blätter“, 12/2008, S. 79-95, hier S. 79.
7 Ursprünglich stammt der Gedanke von dem sozialdemokratischen Kulturpolitiker Adolf Grimme, 1889-1963 (vgl. auch Helmut Gollwitzer, Kirche und neue Ordnung, in: „Blätter“, 1/1969, S. 91-102).