In der Debatte um Lohnpolitik und europäische Konjunkturpolitik vertritt der Autor die These, dass Lohn- und Einkommenspolitik in Deutschland nur noch europäisch konzipiert werden kann.
Vor dem Hintergrund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und schwachen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, bei gleichzeitig allgemein fallender Lohnquote ist es zu begrüßen, dass über die Rolle von Lohn- und Konjunkturpolitik debattiert wird. Die Beiträge von Jürgen Hoffmann, Birgit Ladwig und Kurt Hübner enthalten bei unterschiedlicher Akzentuierung viele Gemeinsamkeiten. Dieser Aufsatz greift ähnliche Fragestellungen auf: Was kann die Lohnpolitik in Deutschland tun, um die Konjunktur zu stimulieren, und was nicht? Was kann und muss die nationale Wirtschaftspolitik tun? Zentrale These dieses Beitrages ist, dass die Lohn- und die Wirtschaftspolitik in und für Deutschland sich nur noch europäisch denken lassen. (...).
Was die Lohn- und Konjunkturpolitik im Deutschland der letzten zehn oder mehr Jahre angeht sind folgende zentrale Tatsachen festzuhalten.
Die Konjunktur lief mit Ausnahme von 1999 und 2000 schlecht, Deutschland war das Schlusslicht in Europa im Sinne von sowohl Wirtschafts- als auch Beschäftigungswachstum. Insbesondere entwickelte sich die Inlandsnachfrage schwach, während die Exporte boomten. Einige Zahlen: Zwischen 1995 und 2005 stieg die Arbeitslosigkeit in Deutschland von 8 auf 9,5 %; in der EU15 - deren Zahlen ja die deutschen Werte noch beinhalten - fiel sie von 10,1 % auf 7,9 %. In der gleichen Periode stieg die Produktion in Deutschland real um 14 %, in der EU15 um 24 % und die Anzahl der Beschäftigten um 3 % versus 12 %.
Gleichzeitig war die Lohnpolitik extrem moderat. Die Nominal- und Reallohnstückkosten hinkten ständig hinter den Werten anderer europäischer Länder zurück. Als Folge davon fiel zwischen 1995 und 2006 die Lohnquote in Deutschland um satte 4,4 Prozentpunkte (in der EU15 um 2,4 Punkte). Die Nominallohnsteigerungen hinkten bedeutend hinter der Summe von Produktivitätssteigerung und Inflationsrate zurück.
Diese Zahlen stützen auf den ersten Blick die Argumente, dass Lohnmoderation in Deutschland die Nachfrage gedämpft hat und die Gewinne aufgebläht hat, ohne dass dies zu mehr Investition geführt hätte und dass deshalb kräftigere Lohnsteigerungen nicht nur aus ‚sozialenÂ’, sondern auch aus ökonomischen Gesichtspunkten gerechtfertigt und wünschenswert wären. Konkret auf die anderen Debattenbeiträge bezogen: Ja, die deutsche Lohnpolitik sollte zur Produktivitätsorientierung zurückkehren, aber nach so vielen Jahren der Moderation käme dies einem - von Kurt Hübner abgelehnten - ‚kräftigen Schluck aus der lohnpolitischen PulleÂ’ gleich. Konkret sollten die Nominallohnsteigerungen knapp unter 4 % im Jahr liegen. Ein gewisses Überschiessen in diesem Jahr bei den sehr hohen Profiten wäre sicherlich auch von deutschen Unternehmen gut zu verkraften. In der gegenwärtigen Situation sind m. a. W. die Unterschiede zwischen Ladwig und Hoffmann/Hübner also eher im Sprachgebrauch und in der politischen Analyse als in der konkreten Empfehlung für die aktuelle Tarifrunde zu sehen.
Bei der lohnpolitischen Diskussion muss man die europäische Dimension bedenken. Die extreme Lohnmoderation in Deutschland in den letzten Jahren hat die deutsche Wettbewerbsfähigkeit enorm erhöht - in der WWU um mehr als 10 Prozentpunkte gegenüber dem Durchschnitt seit Einführung des Euro. Aber Wettbewerbsfähigkeit ist etwas Relatives: die Kehrseite ist der starke Verlust an Wettbewerbsfähigkeit von Ländern wie Italien, Spanien und Portugal, der diese Länder zu einer wirtschaftspolitischen Restriktion und die Lohnabhängigen dort zur starken Lohnzurückhaltung zwingen wird. Dies wird die Expansion der europäischen Wirtschaft insgesamt bremsen: selbst wenn deutsche Politiker zufrieden sein werden, wenn ein anderes Land die Schlusslaterne trägt, die Arbeitnehmer Europas haben von einem solchen ‚Reise nach JerusalemÂ’-Spiel nichts. Wir sitzen alle in einem europäischen Boot und die Gewerkschaften Europas müssen begreifen, dass sie am Ende bezahlen, wenn sie der Versuchung ‚beggar-thy-neighbourÂ’ policies zu betreiben nicht widerstehen können.
Kräftigere Lohnsteigerungen in Deutschland sind daher auch im direkten Interesse der Beschäftigten in ganz Europa. Darüber hinaus leisten sie einen Beitrag zur Konvergenz innerhalb des Währungsraumes, der seit Jahren von starken Divergenzen geprägt wird. Ich teile hier Kurt Hübners Diagnose und auch seine Ablehnung einer Rückkehr zu nationalen Währungen. Ich würde weiter gehen: die Währungsunion ist in meinen Augen eine notwendige, wenn auch keine ausreichende Voraussetzung für eine Rückkehr zu einer mehr beschäftigungsorientierten Makropolitik. Man darf das Scheitern des Keynesianismus in einem Land à la Mitterrand nicht vergessen. Nur darf man dann aber nicht die europäische Dimension der deutschen Lohnpolitik außer acht lassen, so wie Kurt es zu tun scheint, wenn er kräftigere Lohnsteigerungen ‚dysfunktionalÂ’ nennt, da sie ‚die enormen Verbesserungen in den [deutschen - AW] Lohnstückkosten rückgängig machenÂ’ würden. Als politische Schlussfolgerung bleibt, dass die europäischen Gewerkschaften die zarten Versuche einer lohnpolitischen Koordinierung erheblich verstärken sollen.
Kommen wir zur Konjunkturpolitik zurück. Sie ist im Falle der Geldpolitik mit der Einführung des Euros und der Übertragung der geldpolitischen Verantwortung an die Europäische Zentralbank zur Gänze europäisiert worden (weitgehend auch für Länder außerhalb des Euroraumes). Selbst wenn sie in Frankfurt a.M. sitzt, die EZB macht Geldpolitik für den gesamten Euroraum. Und auch die nationale Fiskalpolitik ist eingeschnürt durch europäische Normen in Form des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Und da liegt aus meiner Sicht der Hund begraben. Der oben beschriebene Prozess, bei dem eine produktivitätsorientierte, nicht inflationäre Lohnpolitik gepaart wird mit einer expansiven Konjunkturpolitik, ist grundsätzlich schwieriger geworden. Im Falle Deutschlands ist er schlicht nicht zu Stande gekommen, was zu einem großen Teil die oben beschriebenen Entwicklungstrends der deutschen Wirtschaft erklärt. Die lohnpolitische Moderation ist nicht mit einer (ausreichend) expansiven Makropolitik ‚honoriertÂ’ worden. Das war erstens, weil die EZB sich an der Durchschnittsinflationsrate des Euroraums und nicht an der niedrigeren Rate in Deutschland orientiert hat und zweitens, weil die deutsche Fiskalpolitik - einfach ausgedrückt - wegen eines Konfliktes zwischen einer bornierten europäischen Norm, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, und einer Reihe von fiskalpolitischen Fehlentscheidungen in Deutschland (Finanzierung der Vereinigung, pro-zyklische expansive Fiskalpolitik 1999 und 2000) handlungsunfähig war.
In seinem Beitrag fasst Kurt Hübner einige Reformvorschläge für die europäische ‚ArchitekturÂ’ zusammen, die ich auch unterstütze. Ohne darauf detailliert einzugehen, möchte ich dem zwei Anmerkungen hinzufügen. Erstens hat es in den letzten Jahren einige Veränderungen sowohl der geldpolitischen Strategie als auch des fiskalpolitischen Rahmens gegeben, die zwar begrenzt waren, aber immerhin in die richtige Richtung gingen. Zweitens ist wichtig, dass nicht nur die Geld- und Fiskalpolitik jeweils für sich alleine reformiert werden sollten, sondern dass auch die Koordinierung zwischen diesen beiden verstärkt werden müsste (Stärkung der Eurogruppe). Im Sinne des oben beschriebenen Zusammenspiels zwischen Lohn- und Makropolitik bedarf es auch einer stärkeren Interaktion zwischen den europäischen Sozialpartnern und den makropolitischen Akteuren (Stärkung des makroökonomischen Dialogs).
Was den nationalen Reformbedarf angeht, teile ich viele der von Jürgen Hoffmann und Kurt Hübner gemachten Vorschläge (Notwendigkeit von Reformen, um Frauen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, Reformen im Banken- und Finanzsektor, steuerliche Entlastung von Geringverdienern usw.) Es bestehen aber einige Differenzen in der Analyse und in den Empfehlungen. So sehe ich den unterentwickelten Dienstleistungssektor in Deutschland (J. Hoffmann) nicht als Ursache der mangelnden wirtschaftlichen Dynamik, sondern viel eher als deren Folge. Bei der in vielen Bereichen zunehmend maroden Infrastruktur und den historisch extrem niedrigen öffentlichen Investitionen in Deutschland sehe ich (kontra K. Hübner) durchaus Spielraum für öffentliche Ausgabenprogramme. Wenn sie die ‚Maastricht-DebatteÂ’ anheizen - um so besser! Und bei Reformen des Flächentarifvertrages sollte darauf geachtet werden, dass die notwendige Bezugnahme auf makroökonomische Größen bestehen bleibt. Historisch hat der Flächentarifvertrag gute Dienste geleistet. Die europäischen Erfahrungen (z.B. in Irland oder den Niederlanden, teilweise sogar in Italien) zeigen, dass sogar eine Zentralisierung der Lohnfindung wirtschaftlich Sinn macht.
Interessierte LeserInnen finden weitere Analysen, Argumente und Politikempfehlungen zu diesen Themen - leider fast ausschließlich in englischer Sprache - hier:
http://www.etui-rehs.org/ collective_bargaining/researchers/watt_andrew
http://www.etui-rehs.org/ employment_and_economic_policies/books
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Andrew Watt ist tätig beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI-REHS) in Brüssel