Seit Ende des Jahres 2005 wird innerhalb der Europäischen Union über ein Europäisches Sozialmodell diskutiert - wobei das Ergebnis recht bald feststand: es gibt kein einheitliches Europäisches ...
Sozialmodell, sondern recht unterschiedliche Konzeptionen.(1) Wenn man von einem Europäischen Sozialmodell sprechen will, müsste man zusätzlich die Unterschiede des Europäischen Modells zu außereuropäischen Konzepten der sozialen Integration aufzeigen. Und es ist alles andere als ausgemacht, ob die Unterschiede zwischen beispielsweise Schweden und Griechenland oder Frankreich und Rumänien nicht ähnlich groß sind wie diejenigen zwischen Kanada und den USA oder den USA und Deutschland. Das Europäische Sozialmodell gibt es nicht, schon gar nicht als einheitliches Modell. Andererseits gibt es in den Mitgliedstaaten der EU offensichtlich sozialstaatliche Traditionen und normative Verpflichtungen auf den Sozialstaat, die allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Es gibt auch sozialpolitische Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, die es aber (noch) nicht rechtfertigen, von einem Europäischen Sozialmodell zu sprechen. Das europäische Sozialmodell ist also eher ein normatives Gebot, denn politische Wirklichkeit, eine politische Konzeption, die es allerdings auszufüllen gilt.
Das Primärrecht der Union findet sich in den EU-Verträgen, die durch den Entwurf einer Europäischen Verfassung geändert werden sollten. Damit wurde anerkannt, dass die Union längst auf einer konstitutionellen Grundlage ruht, die die Bezeichnung Verfassung verdient. Mit dem Brüsseler Gipfel in Juni 2007 gingen die Regierungschefs wieder einen Schritt zurück und stuften das europäische Primärrecht wieder zum Vertrag herab. Das wurde als Reaktion auf die Bedenken in Frankreich und den Niederlanden verkauft, wo der Verfassungsentwurf in Volksabstimmungen abgelehnt wurde. Die Substanz der Verfassung, das wurde nach dem Gipfel vollmundig verkündet, sei aber nicht geändert worden, stehe nicht zur Disposition. Darum aber ging es den Initiatoren des Nein in den Volksabstimmungen, um die Substanz des Europäischen Primärrechts, die sich im geltenden EG-Vertrag von Nizza (EGV) ebenso findet wie im EU-Verfassungsentwurf (VerfE). Zu dieser Substanz gehört an zentraler Stelle auch die sozialstaatliche Ausrichtung der Gemeinschaft, d.h. die sozialpolitischen Bestimmungen und Kompetenzen. Um die Habenseite und Defizite in den konstitutionellen Grundlagen der Europäischen Union zu benennen, ist ein Vergleich der sozialpolitischen Vorschriften im Grundgesetz mit denen des europäischen Primärrechts ein erster Theoriebaustein für ein "Europäisches Sozialmodell".
Das "Sozialmodell" des Grundgesetzes
1. Sozialstaatsgebot
Das deutsche Grundgesetz ist im Bereich des Sozialstaates ebenso offen wie im Bereich der Wirtschaftspolitik; es kommt also auf - die sich ändernden - Interpretationen und die politisch-administrativen Ausführungen an.
Die sozialrechtlichen oder sozialstaatlichen Normen im Grundgesetz sind vergleichsweise schlicht und knapp. Es gibt mit Blick auf die Zielstellungen genau zwei Vorschriften. Art. 20 Abs. 1 GG lautet: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" und Art. 28 Abs. 1 GG: "Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen."
Der soziale Bundesstaat in Art. 20 GG bezieht sich direkt auf die Ordnung der Bundes und wird meist unter der Überschrift Staatsstrukturprinzipien geführt. Der soziale Rechtsstaat in Art. 28 GG normiert auf den ersten Blick "nur" die staatliche Ordnung in den Ländern. Er wird als Homogenitätsklausel (2) verstanden, d. h. die staatliche Ordnung in den Ländern darf von den Ländern selbst gestaltet werden, muss aber mit Blick auf die wesentlichen Prinzipien der Ordnung des Bundes entsprechen. Die Länder müssen also ebenfalls republikanisch sein, d. h. sie dürfen sich also zumindest nicht als Monarchie organisieren. Unter Republik kann man bei einer nicht nur negativen Abgrenzung auch mehr verstehen (3), was hier aber nicht diskutiert werden muss. Daraus kann man dann folgern, dass auch der Bund den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates folgen muss, weil in dieser Beziehung Homogenität hergestellt werden soll und weil auch Art. 20 die Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetz als wesentliches Element des Rechtsstaates (4) normiert. Was ein sozialer Rechtsstaat oder sozialer Bundesstaat ist - darüber kann man dann heftig streiten und darüber ist natürlich gestritten worden. Der Streit ist aber nur im Kontext der auch wirtschaftspolitischen und eigentumspolitischen Bestimmungen des Grundgesetzes zu verstehen.
2. Wirtschaftspolitische Neutralität
Wichtig für die Ausgestaltung des homogenen sozialen Rechtsstaates sind dann entsprechende Kompetenzregelungen, also eine Kompetenz, sozialpolitische Gesetze zu verabschieden. Diese Kompetenzregelung ist im Grundgesetz ebenso schlicht, sie lautet: Art. 74 Abs. 1 GG: "Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: Nr. 12. das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung sowie die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung."
Will sagen: in den genannten Bereichen darf der Bundesgesetzgeber aktiv werden, wird er dies nicht, dürfen die Länder eigene Regelungen treffen. Die verfassungsrechtliche Konstruktion ist allerdings umgekehrt: eigentlich sind die Länder grundsätzlich zuständig, nur in den Bereichen die dem Bund zugewiesen werden, darf er Gesetze verabschieden, so im Bereich der Arbeits- und Sozialgesetzgebung. (5) Etwas schärfer gilt das Prinzip auch zwischen Mitgliedstaaten und EU - nur wenn der Gemeinschaft ausdrücklich eine Kompetenz zugewiesen ist, kann sie Rechtsvorschriften erlassen oder in anderer Weise politisch aktiv werden. (6) Der Bundesgesetzgeber hat von der arbeits- und sozialrechtlichen Kompetenz bekanntlich ausführlich Gebrauch gemacht. Erst durch die Gesetzgebung des Bundes hat sich möglicherweise eine bundesrepublikanisches Modell des Sozialstaates entwickelt, der im Grundgesetz nur in dürren Worten eingefordert wird.
Weil sich im Grundgesetz so wenige Vorschriften finden, muss noch eine weitere zitiert werden, die vorrangig die Verwaltungsorganisation betrifft. Art. 87 Abs. 2 GG lautet: "Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt." Die Vorschrift betrifft direkt nur die Organisation der Sozialversicherungsträger auf Bundesebene - allerdings hat das BVerfG aus dem Satz "Der Bund stellt Streitkräfte auf" (Art. 87a Abs.1 GG) abgeleitet, die Verfassung gebiete es, eine funktionsfähige Bundeswehr zu unterhalten, oder umgekehrt: die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr hat Verfassungsrang. (7) Ähnlich ließe sich auch mit Blick auf die Sozialversicherungsträger argumentieren - und das könnte schon bald höchst aktuell werden.
Sehen wir uns nun die Einbettung des Prinzips des "sozialen Rechtsstaates" in die wirtschaftspolitische Konzeption und die Eigentumsordnung der Verfassung an. Das Grundgesetz garantiert in Art. 14 das Recht auf Eigentum: "Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt." Art. 14 GG regelt aber gleichzeitig die Möglichkeit der Beschränkung und der Enteignung. Art. 15 GG bestimmt: "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend." Die Entschädigung soll unter Abwägung der Allgemeininteressen und mit den Interessen des Betroffenen erfolgen. Erst die Rechtsprechung der Zivilgerichte hat hier faktisch den Ersatz des Marktwertes als Entschädigung eingeführt. Das ist ein erstes Anzeichen für die Umdeutung der Verfassung, was allerdings nicht eindeutig ist, da theoretisch an der Abwägung festgehalten wird, praktisch aber Wertersatz gezahlt wird. (8)
In das Grundgesetz wurde 1967 eine Vorschrift aufgenommen, die heute - zumindest implizit - angegriffen wird, nämlich Art. 109 Abs. 3: Danach kann der Bund "für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung" aufstellen. Zusammen mit der Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, das sich in 109 Abs. 2 GG findet, sollte damit die Möglichkeit einer antizyklischen oder keynesianischen Wirtschaftspolitik geschaffen werden. Gegenwärtig wird diskutiert, dies rückgängig zu machen, indem man - ähnlich wie in der EU-Verfassung - ein Verbot, Schulden zu machen, für öffentliche Haushalte rechtlich festschreiben will.
Der Art. 109 GG ermöglicht eine antizyklische Konjunkturpolitik, fordert sie aber nicht ein. Die wirtschaftspolitische Entscheidung muss von Regierung und Parlament getroffen werden. Dies ist gleichsam die herrschende Linie in Fragen der Wirtschaftspolitik. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach explizit festgestellt, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei (9), was es dem Gesetzgeber erlaube, die für zweckmäßig erachtete Wirtschaftspolitik zu verfolgen. In den frühen Entscheidungen hat das Gericht explizit festgestellt, dass auch eine andere Wirtschaftsordnung möglich ist. So führte es zur Verfassungskonformität der Investitionshilfe aus: "Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ›soziale Marktwirtschaft‹. Die ›wirtschaftspolitische Neutralität‹ des Grundgesetzes besteht lediglich darin, dass sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber, die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschaftsund sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann." (10)
Das Grundgesetz ist folglich nicht auf die Marktwirtschaft festgelegt. In späteren Entscheidungen wird an der grundsätzlichen Feststellung festgehalten, allerdings wird die Verpflichtung auf die Grundrechte stärker akzentuiert. Etwa in folgender Ausführung: "Die Aufgabe besteht infolgedessen darin, die grundsätzliche Freiheit wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Gestaltung, die dem Gesetzgeber gewahrt bleiben muss, mit dem Freiheitsschutz zu vereinen, auf den der einzelne Bürger gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat." (11) Die Freiheitsrechte, die hier als Grenze der Wirtschaftspolitik erscheinen, sind die Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht, die zusammen genommen dem Einzelnen ein Recht auf marktwirtschaftliche Betätigung (12) einräumen - zum Schwur ist es natürlich noch nicht gekommen. Die Rechtsprechung schwankt in diesem Rahmen hin und her.
3. Streit um das Sozialstaatsprinzip
Die Sozialpolitik, der normativ geforderte Sozialstaat, wird von der Wirtschaftspolitik abgekoppelt, scheint in keinem Zusammenhang mit ihr zu stehen. Wolfgang Abendroth hat in den Anfängen der Bundesrepublik versucht, eine integrierte Auslegung des "sozialen Rechtsstaates" und der oben genannten Eigentums- und Enteignungsvorschriften zu entwickeln. Der Sozialstaat könne nur entwickelt und als rechtsstaatliche Demokratie mit Substanz versehen werden, wenn die Eigentumsrechte rechtlich begrenzt werden und der Staat koordinierend für soziale Gerechtigkeit, verstanden als annähernde materielle Gleichheit, durch eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft Sorge trägt. Das Sozialstaatsprinzip ist für Abendroth "darauf angelegt, den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie, also vor allem den Gleichheitssatz mit dem Teilhabedenken im Selbstbestimmungsgedanken auf die Wirtschafts- und Sozialordnung auszudehnen und dadurch dem Sozialstaatsgedanken realen Inhalt zu verleihen." (13) Der konservative Staatsrechtslehrer Ernst Forsthoff vertrat dagegen die These: Sozialstaat und Rechtsstaat schließen sich aus. Daraus folgerte er, das Sozialstaatsgebot sei eher Verfassungslyrik und die Rechte des Staates zu wirtschaftlichen Interventionen seien beschränkt. (14)
Beide haben sich nicht durchgesetzt, auch wenn die gegenwärtig herrschende Auslegung des Sozialstaatsgebots eher an Forsthoff anknüpft. Das Sozialstaatsgebot in den Art. 20 und 28 GG wird meist als Staatszielbestimmung verstanden, d. h. es nimmt einen Rang unterhalb der Staatsstrukturprinzipien, wie Bundesstaat, Demokratie und Rechtsstaat, ein. (15) Folge ist, dass es dem Gesetzgeber mehr oder weniger freigestellt wird, in welchem Umfang und auf welche Weise der Sozialstaat verwirklicht wird. Eine ähnliche Freiheit hat der Gesetzgeber nur noch bei seiner "Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen ". Das Soziale wird von der Wirtschaft entkoppelt und wird zur Wohlfahrtsleistung, zur staatlichen Fürsorge, wo der Markt versagt.
Das allerdings ist gegenwärtig schon etwas und steht selbst in dieser reduzierten Form unter Beschuss. Noch hält die Rechtsprechung allerdings an einer Auslegung des Sozialstaatsprinzips fest, die dem Einzelnen ein Recht auf die Sicherung des Existenzminimums, genauer eines soziokulturellen Existenzminimums einräumt. Lapidar formuliert das BVerfG: "Gewiss gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates." (16) Das BVerwG hat dies konkretisiert zum Recht auf ein "soziokulturelles Existenzminimum, das den Leistungsberechtigten nicht nur das zum Lebensunterhalt Unerlässliche gewährt, sondern sie in die Lage versetzen soll, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie Personen mit geringem Einkommen leben zu können."
Das "Sozialmodell" der Europäischen Union
1. Sozialpolitische Zielbestimmungen
Die Europäischen Grundlagenverträge beschwören zwar den sozialen Fortschritt, soziale Sicherheit usw., aber die Kompetenzen sind - mehr oder weniger - beschränkt auf Antidiskriminierung und etwas Arbeitsschutz. In diesen Bereichen findet man dann auch die meisten Regelungen des europäischen Sekundärrechts.
Der geltende EGV, der Verfassungsentwurf und auch die neuen Grundlagenverträge funktionieren nach Brechts berühmtem Aphorismus: "Wenn die Oberen vom Frieden reden, weiß das gemeine Volk, dass es Krieg gibt." Das gilt nicht nur für den Frieden, sondern mindestens ebenso für den Sozialstaat. Man findet ihn ausführlich in den Zielbeschreibungen und den allgemeinen Aufgabenstellungen, aber es fehlen die Instrumente, diese Ziele dann auch erreichen zu können. (17)
In der Präambel zur EU-Verfassung, die wohl Geschichte ist, fand man folgende schöne Formulierung: "In der Überzeugung, dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, Â…" Noch schöner formulierte es Art. I 3 (3) EU-Verfassungsentwurf: "Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten." Zu befürchten ist, dass selbst die vollmundigen, aber unbestimmten Zielbestimmungen der Genialität der Merkelschen Konsensfindung zum Opfer fallen werden.
2. Soziale Grundrechte
Wohlstand und sozialer Fortschritt für alle, soziale Gerechtigkeit, sozialer Schutz und Kampf gegen soziale Ausgrenzung und das ganze bei Vollbeschäftigung - das hört sich gut an. Diese Zielbestimmung fand man im ersten Teil des Verfassungsentwurfs. Die Grundrechte in Teil II des Verfassungsentwurfes kannten - anders als das Grundgesetz - soziale Grundrechte. Die Grundrechtecharta, so lautet der Brüsseler Kompromiss, wird aus dem neuen Grundlagenvertrag heraus genommen, aber in einer Fußnote wird auf die schon existierende Grundrechtecharta verwiesen. Auch hier betreibt der Gipfel nur Symbolik, die Charta nutzt der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen schon als Maßstab für die Europäische Rechtspraxis.
So besteht mit einer Grundrechtecharta die "Gefahr", dass einzelne Bürger sich auf sie berufen und auf sie gestützt Rechte geltend machen, auch wenn das Primärrecht keine direkten Klagerechte für die Bürger einräumt und auch in der Verfassung nicht einräumen wollte. Die Grundrechte wirken eben mittelbar, sind Maßstab für die Auslegung des Rechts in anderen Streitigkeiten. Deshalb findet man in der Charta typischerweise Schrankenregeln, wie sie etwa in Art. 34 Abs. 3 GR-Charta formuliert sind: "Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. " Das Recht auf soziale Unterstützung und ein menschenwürdiges Dasein steht unter dem Vorbehalt der europäischen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften - anders gesagt, es besteht nur, soweit es durch die Sozialgesetzgebung anerkannt wurde und soll keineswegs Maßstab für diese sein.
3. Sozialpolitische Kompetenzen und wirtschaftspolitische Einbettung
Im dritten Teil der Verfassung, in den der geltende EG-Vertrag übernommen wurde und der sicher fast unverändert auch im zukünftigen Grundlagenvertrag zu finden sein wird, wurde schon eher Tacheles geredet. Die Zielbestimmungen des Art. I 3 wurden in Art. III 117 VerfE - entspricht Art. 127 EGV - aufgenommen, aber doch zurechtgestutzt. An Stelle der Vollbeschäftigung war nur noch von der "Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus" als Ziel die Rede. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wurde in Art. III 209 VerfE und Art. 136 EGV abstrakt bestimmt, auf welchem Weg die EU soziale Rechte zu verwirklichen gedenkt. Es heißt im Verfassungsentwurf und wird im Grundlagenvertrag heißen: "Zu diesem Zweck tragen die Union und die Mitgliedstaaten bei ihrer Tätigkeit der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen, sowie der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung. Sie sind der Auffassung, dass sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Binnenmarktes als auch aus den in der Verfassung vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben wird."
Die Sozialpolitik steht unter dem Vorbehalt der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und ansonsten ergibt sich die Abstimmung der Sozialordnungen schon von selbst aus den Wirkungen des Binnenmarktes, wird also durch den Markt hergestellt - neoliberale Ideologie pur! Tatsächlich kann man die Abstimmung allenfalls als Angleichung nach unten beobachten, die mit den Konkurrenzmechanismen der globalisierten Wirtschaft oder eben der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gerechtfertigt wird. Die Gemeinschaft bleibt über die Dominanz der Marktfreiheiten bei der sog. "negativen Integration" stehen, (18) Wettbewerb wird der (auch nationalen) Sozialpolitik übergeordnet (19).
In Art. III 210 VerfE und Art. 137 EGV werden dann die sozialpolitischen Bereiche aufgezählt, für die die Union eine Gesetzgebungskompetenz hat. Die Liste ist ziemlich lang und umfasst wesentliche Bereiche der Sozialpolitik. Entscheidend ist, dass die Gesetzgebungskompetenz wiederum unter bestimmte Vorbehalte gestellt wird. Erstens heißt es in Abs. 2 a): Die Gesetzgebung erfolgt "unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten." Harmonisierung ist das zentrale Mittel über das die Warenverkehrsfreiheit der Union geregelt wird und heißt europäisch gesteuerte Angleichung der Rechtsvorschriften - bedeutet also eine starke Form der Vereinheitlichung oder Rechtsangleichung, (20) die hier ausgeschlossen wird.
In Buchstabe b) wird dann - und dies muss man zunächst positiv hervorheben - gefordert, dass durch europäische Gesetze Mindestvorschriften für die Sozialpolitik festgelegt werden. Aber es folgen wieder gleich die Einschränkungen, nämlich: unter Berücksichtigung der in den Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen; außerdem sollen die Mindestvorschriften "keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen. " Immerhin besagt die grundsätzliche Regelung, dass auch die Sozialgesetzgebung im nach der Verfassung "normalen" Verfahren der gleichwertigen Entscheidung von Parlament und Rat erfolgen soll, was auch bedeutet, dass im Rat die europäischen Mehrheiten ausreichen.
Dies wird in Art. 210 Abs. 3 VerfE und Art. 137 Abs. 2 EGV jedoch gleich zurückgenommen, wo es heißt: "Abweichend von Absatz 2 wird in den in Absatz 1 Buchstaben c, d, f und g genannten Bereichen das Europäische Gesetz oder Rahmengesetz vom Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig erlassen." Für welche Bereiche wird nun die Einstimmigkeit verlangt und das Parlament auf Anhörung reduziert? Dies gilt für Regelungen zur sozialen Sicherheit und zum sozialen Schutz der Arbeitnehmer, um das Kündigungsschutzrecht und das Mitbestimmungsrecht und schließlich das Arbeitsrecht für Ausländer aus Drittstaaten. Außerdem wird explizit festgehalten, dass die Grundprinzipien der Systeme sozialer Sicherheit in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben. Schließlich enthält Art. 210 Abs. 6 VerfE und Art. 137 Abs. 5 EGV folgende Bestimmung: "Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht." Damit auch ja keine Missverständnisse entstehen!
Sozialrechtliche Kompetenzen, die nicht einstimmig entschieden werden müssen, hat die Europäische Union dann im Bereich des Arbeitsschutzes, der Antidiskriminierung einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter. Und in diesem Bereich hat die EU jedenfalls für Deutschland wichtige Maßstäbe gesetzt, etwa mit der Anerkennung der mittelbaren Diskriminierung der Geschlechter (21) oder der Antidiskriminierungsrichtlinie (22), deren Umsetzung der deutschen Politik so schwer fiel.
Gleichzeitig ist die Sozialpolitik nicht Teil einer wirtschaftspolitisch offenen Verfassung. Anders als das Grundgesetz ist die EUVerfassung wirtschaftspolitisch festgelegt, nämlich auf eine offene Marktwirtschaft. Dazu heißt es in Art. III 177: "Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union im Sinne des Artikels I-3 umfasst nach Maßgabe der Verfassung die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist." Diese Formulierung ist identisch mit derjenigen des Art. 4 EGV. Und diese Festlegung auf die offene Marktwirtschaft wird in unterschiedlichen Artikeln explizit und implizit - wie auch am Beispiel der Sozialpolitik zu sehen war - ausgeformt. Das stand in der Verfassung in einem unaufgelösten Widerspruch zur Verpflichtung auf die soziale Marktwirtschaft, wie sie in Art. 3 VerfE normiert wurde, dessen Zukunft allerdings ungewiss ist. Wichtiger ist, dass diese wirtschaftspolitische Orientierung sich deutlich von der Neutralität des Grundgesetzes unterscheidet, sie schließt nämlich sozialpolitische Politiken aus, die der offenen Marktwirtschaft widersprechen, also beispielsweise eine integrierte Sozial- und Wirtschaftspolitik, wie sie Wolfgang Abendroth als grundgesetzliche Verpflichtung postulierte. Die Ausfüllung eines Europäischen Sozialmodells, was eine sozialpolitische Integration Europas umfasst, ist auf dieser konstitutionellen Grundlage der Europäischen Union schwer vorstellbar. Der Gipfel in Brüssel hat keine Fortschritte erzielt und die Gründe zur Ablehnung der EU-Verfassung schlicht ignoriert - gerade deshalb gehören sie weiter auf die Tagesordnung.
Andreas Fisahn - Jg. 1960, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Ergebnisse der "Föderalismusreform", Heft 194 (Dezember 2006).
1 http://www.euractiv.com/de/soziales-europa/eu-berat-europaeischessozialmodell/article-146385.
2 Christoph Degenhart: Staatsrecht I, Heidelberg 2006, S. 7.
3 Vgl. Günter Frankenberg: Die Verfassung der Republik: Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt/M. 1997, passim.
4 Zur Bedeutung des allgemeinen Gesetzes und der Gesetzesbindung immer noch grundlegend: Franz L. Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes, Frankfurt/M. 1980, passim.
5 Das folgt aus der föderalistischen Struktur, die in Art.70 und 84 GG normiert ist und den Ländern die primäre Gesetzgebung- und Verwaltungszuständigkeit zuweist.
6 Für Europa wird das Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung" als Besonderheit, die die Gemeinschaft von einem Nationalstaat unterscheidet, angenommen. Gemeint ist damit, dass die Rechtssetzungsorgane der Gemeinschaft einer besonderen Kompetenzzuweisung bedürfen (Rudolf Streinz: Europarecht, Heidelberg 2003, S. 190 f.) - was allerdings für die Rechtssetzungskompetenz des Bundes nicht grundsätzlich anders, nur umfangreicher gilt.
7 BVerfGE 48, 127/159; 69, 1/21; 77, 170/221.
8 BGHZ 57, 359/368; 67, 190/192; das BVerfG orientierte sich allerdings an Art. 14 GG und hat mehrfach entschieden, dass die Entschädigung nicht notwendig zum Verkehrswert zu erfolgen habe, BVerfGE 24, 367/420 f.; 41, 126/161; 46, 268/284 ff.
9 Etwa BVerfGE 50, 290.
10 BVerfGE 4, 7.
11 BVerfGE 50, 290.
12 Die Grundrechtecharta, die als Teil II in den Verfassungsentwurf übernommen wurde, statuiert ein Recht auf unternehmerische Freiheit (Art II 76), das es in dieser Form im Grundgesetz allerdings nicht gibt.
13 Wolfgang Abendroth: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: Ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt 1975, S. 67.
14 Ernst Forsthoff: Verfassungsprobleme des Sozialstaates, in: Ders. (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 144; s. a. Ders.: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: Ders.: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 165 ff.
15 Degenhart, a. a. O.: S. 199; weiter gehend Helmut Ridder: Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960, S. 3 ff., aktuell: Ekkehard Stein/ Götz Frank: Staatsrecht, Tübingen 2002, S. 160 ff.
16 BVerfGE 40,121; vgl. auch BVerfGE 5, 85 [198]; 35, 202 [236].
17 BVerwGE 36, 258.
18 Karl-Jürgen Bieback: Europäischer Sozialstaat und soziale Grundrechte, in: Albrecht/Goldtschmidt/ Stuby: Die Welt zwischen Recht und Gewalt, Hamburg 2003, S. 91.
19 Frank Deppe: Europäische Integration, Sozialmodell und Gewerkschaften, in: Albrecht/ Goldtschmidt/ Stuby: a. a. O., S. 76; Fritz W. Scharpf: Was man von einer Europäischen Verfassung erwarten und nicht erwarten sollte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2003, S. 55; Hans- Jürgen Urban: Das neue europäische Sozialmodell und die Linke in Europa, in: Sozialismus 2/2003, S. 41.
20 Streinz, a. a. O., S. 408 f.
21 Damit gemeint sind Regelungen, die nicht direkt eine Gruppe, z. B. Frauen diskriminieren, also im Wortlaut der Regelung nicht an das Geschlecht anknüpfen, sondern an andere Merkmale, die aber überwiegend von Frauen erfüllt werden. Beispiel: Eine Betriebsrente gibt es nur für Vollzeitbeschäftigte. Da überwiegend Frauen teilzeitbeschäftigt sind, werden sie mit der Regelung mittelbar diskriminiert. (EuGH v. 13.5.1986 Slg. 1986, 1607; EuGHE 1986, 1607 Bilka-Urteil).
22 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
in: UTOPIE kreativ, H. 203 (September 2007), S. 869-877
aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay MATHIAS IVEN: Berlin - Rostock - Wien. Dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag; Gesellschaft - Analysen & Alternativen LOTHAR BISKY, JÜRGEN SCHEELE: Die digitale Spaltung der Gesellschaft; HARALD PÄTZOLT: Eine radikale programmatische Wende der Linken? Die Linke im 20. Jahrhundert FRITZ KLEIN: Schicksalsjahr 1917: Wilson oder Lenin. Weichenstellung der Weltgeschichte; PETER BRANDT: Vorbildliches Leben nach dem "Prinzip links". Hermann und Gerda Webers Erinnerungen; FRIEDRICH W. SIXEL: Die Zeit um 1968 in der BRD. Eine Erinnerung; Standorte ANDREAS FISAHN: Soziale Rechte - Normierungen im Grundgesetz und im Entwurf der EU-Verfassung; Konferenzen & Berichte MARTIN GÜNTHER, JOHANN STRESE: Sozioökonomische Probleme im Leben von Jugendlichen. Impression einer studentischen Konferenz vom 21.4. bis 26.4.2007 in Moskau; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Werner Fuchs-Heinritz, Alexandra König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung Boike Rehbein: Die Soziologie Pierre Bourdieus (NICO KOPPO); Achim Reichardt: Nie vergessen. Solidarität üben! (ULRICH VAN DER HEYDEN); Bernd Witte (Hrsg.): Benjamin und das Exil (GERHARD WAGNER); Christoph Jünke: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler - Leben und Werk (1907-1995) (JÜRGEN MEIER); Klaus Meier, Evelin Wittich (Hrsg.): Theoretische Grundlagen nachhaltiger Entwicklung - Beiträge und Diskussionen. Seminar des Gesprächskreises Nachhaltigkeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (SANDRA THIEME); Summaries