Der Deutsche Werkbund ist stolz auf seine Geschichte. Schon bald nach seiner Gründung 1907, so kann man es auf den Internet-Seiten des Bundes lesen,
wurde er "während des 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Instanz zur Durchsetzung und Verbreitung technischer Neuerungen, sozialer Wertorientierungen und ästhetischer Normen". Durch Ausstellungen, zum Beispiel 1927 zur Stuttgarter Siedlung "Am Weißenhof", und zahlreiche Architektur- und Städtebau-Projekte wurde er, so erfährt man weiter, "wegweisend" für soziales Wohnen., besonders (wie Joan Campbell in ihrer Monographie "Der Deutsche Werkbund" formuliert) durch seinen "glanzvollen Sprößling", ein "Kind der Revolution von 1918", das Weimarer/Dessauer "Bauhaus", gegründet 1919 von dem Werkbund-Architekten Walter Gropius.
Viele bekannte Männer aus Kultur und Politik waren Mitglieder des Bundes: neben Gropius die Architekten Otto Bartning, Egon Eiermann (den man heute in Berlin vor allem als Neugestalter der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche kennt), Hannes Meyer, ein Marxist, der von 1928 bis 1930 Direktor des "Bauhauses" war, sein Nachfolger Ludwig Mies van der Rohe, Hans Poelzig, Hans Scharoun; die Maler Lyonel Feininger, Paul Klee, Oskar Schlemmer; die Politiker Walter Rathenau, Gustav Stresemann und vor allem Friedrich Naumann.
Erstaunlich, daß auf den aktuellen Internet-Seiten des Werkbundes der Name eines Mannes fehlt, der als studierter Kunsthistoriker und Volkswirtschaftler schon vor 1919 zum Werkbund kam und als Politiker von 1924 bis 1928 und noch einmal von 1930 bis 1933 dem Reichstag angehörte - der ideale Verbindungsmann zwischen Kunst und Politik. Mehrere Jahre wirkte er als Geschäftsführers und zugleich Vorstandsmitglied des Werkbundes und war dadurch "maßgeblich" (Campbell) an dessen Entwicklung beteiligt. Sein Name: Theodor Heuss.
Der spätere erste Bundespräsident schloß sich 1918 der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) seines Lehrers Friedrich Naumann an. Diese Partei bejahte anfangs uneingeschränkt die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik, an deren Verfassung Parteimitglieder wie Hugo Preuß entscheidend mitgearbeitet hatten. Mit nur kurzen Unterbrechungen 1927/28 war die DDP an allen Reichsregierungen beteiligt. In der Weltwirtschaftskrise verlor sie einen Großteil ihrer bürgerlichen Wählerschaft. Zum Zwecke des Machterhalts tat sich deshalb die rechte Mehrheit der Partei zur Reichstagswahl 1930 mit dem antibolschewistischen und antisemitischen "Jungdeutschen Orden" zusammen und konnte so, unter dem neuen Namen "Deutsche Staatspartei" (DStP), weiterhin Abgeordnete in den Reichstag schicken, nach der Märzwahl 1933 noch fünf. Drei von ihnen machten nach 1945 wiederum politische Karriere: Reinhold Maier (zeitweilig Bundesvorsitzender der FDP, Ministerpräsident von Württemberg-Baden), Ernst Lemmer (Berliner CDU-Politiker, zeitweilig Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen) und Theodor Heuss.
Über seine politische Tätigkeit im Jahre 1933 sprach Heuss später nur ungern; das hing mit seiner Zustimmung zum "Ermächtigungsgesetz" zusammen. Erst im Jahre seines Todes (1963) äußerte er sich ausführlich dazu: "Jeder von uns ... hat Dummheiten gemacht. Doch dieser Begriff ist zu schwach für die Zustimmung zu diesem Gesetz." Und dann bejammerte er sich selbst mit den Worten: "Ich wußte damals schon, daß ich dieses ›Ja‹ nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne." Schließlich aber sprach er sich mit einer erstaunlichen Erkenntnis, für die das Wort Dummheit wiederum viel zu schwach wäre, selbst Trost und Vergebung zu: "Denn, das ist nun meine feste Überzeugung, das ›Ermächtigungsgesetz‹ hat für den praktischen Weitergang der nationalsozialistischen Politik keinerlei Bedeutung gehabt."
Im Jahre 2001 geht der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seiner Dankesrede zur Verleihung des "Theodor-Heuss-Preises" ausdrücklich auf jene Vorgänge im März 1933 ein. Er weiß, daß "Heuss bis zu seinem Lebensende schwer an diesem Irrtum trug"; er weiß auch von dessen späterer "tätigen Reue", von dessen "demokratischer Gesinnung" und "Lernfähigkeit", so daß er zu dem Urteil kommt: "Heuss ist ein Vorbild für alle Demokraten!" Das Gegenteil dürfte richtig sein.
Denn: Eine Dummheit kommt selten allein, und viele Mehr-als-Dummheiten können schnell aus einem vorbildlichen Ehrenmann ein moralisches Wrack machen.
Auch als Geschäftsführer und Vorstandmitglied des Werkbundes war Heuss im Jahre 1933 an unauslöschlichen lebensgeschichtlichen Entscheidungen - für viele Menschen schicksalhaften Entscheidungen - beteiligt. Nachdem der "rechte Flügel", der auf Zusammenarbeit mit der NS-Bewegung setzte, längst die Mehrheit erlangt hatte, jubelte der Werkbund kurz nach Hitlers Machtübernahme: "Die große Zeit des Werkbundgedankens, die schöpferische Stunde der nationalen, die Welt gewinnenden Form hebt erst an." Im Sommer wurde dann auch hier die Machtübergabe an die Nazi-Schergen vollzogen, alles ganz "legal" und der Satzung gemäß und immer mit der Stimme des Vorstandsmitgliedes Heuss; als Geschäftsführer des Bundes leistete er "wirksame Zuarbeit" (so Hans Prolingheuer: "Hitlers fromme Bilderstürmer"). Die entscheidende Abstimmung ergab am 10. Juni 1933 bei 27 Ja- nur drei Nein-Stimmen (Martin Wagner, Walter Gropius, Wilhelm Wagenfeld). Es folgte der Beschluß für einen Fragebogen, der helfen sollte, alle "Nichtarier" aus dem Bund auszuschließen; damit wurde "der Werkbund zu einer der ersten kulturellen Organisationen in Deutschland, die Nichtarier in aller Form ausschloß" (Campbell) - alles mit Hilfe des vorbildlichen Demokraten Heuss. Schließlich wurde eine neue Satzung mit dem "Führerprinzip" erarbeitet, die auf einer Jahresmitgliederversammlung einstimmig angenommen wurde. Theodor Heuss, der danach vereinbarungsgemäß seinen Posten als Geschäftsführer und Vorstandsmitglied aufgab, rechtfertigte am 6.Oktober 1933 in der Vossischen Zeitung den "Einbau des Führerprinzips in die neue Werkbund-Satzung" damit, daß "das mit der Tradition des Werkbundes in Einklang stehe und nur die bestehende Praxis formuliere".
Der Deutsche Werkbund ist stolz auf seine hundertjährige Geschichte. Deshalb tritt er in diesem Jahr mit vielen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit, zum Beispiel im Dezember in Karlsruhe. Wird er da auch das Jahr 1933 hinreichend dokumentieren und jenen Berliner Stadtbaurat Martin Wagner angemessen würdigen, der in der erwähnten Vorstandssitzung am 10. Juni 1933 engagiert gegen Gleichschaltung, gegen "Arisierung" und gegen das "Führerprinzip" aufgetreten war? Dieser Mann, ein echtes Vorbild für alle Demokraten, hatte schon im Februar 1933 seinen Berliner Posten verloren, nachdem er in der Preußischen Akademie der Künste für Heinrich Mann und Käthe Kollwitz eingetreten war, deren Ausschluß aus politischen Gründen er nicht hinnehmen wollte. Doch eine solche Würdigung würde auch bedeuten, gleichzeitig die weithin unbekannten "Dummheiten" des Theodor Heuss ans Tageslicht zu bringen, der 1933 geflissentlich mithalf, den Werkbund in erbärmlicher Weise dem Nazi-Regime auszuliefern.