Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts und wir Europäer

Aus: "Dialektik des Antikapitalismus", Das Argument 269/2007

Francisco Fernández Buey

Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts und wir Europäer

Vor einigen Jahren, als die Sowjetunion bereits verschwunden war, sah ich einen Dokumentarfilm, der mich an die Diskussionen erinnerte, die wir in Europa jahrelang über das Wesen des Sozialismus geführt hatten, abhängig davon, was wir über Russland, China, Kuba, Vietnam usw. zu wissen glaubten. In dem Film fragte ein - ich weiß nicht mehr, ob englischer oder deutscher - Journalist einen alten Bauern aus einem euroasiatischen Land, warum sie in seinem Dorf am Ende des Ersten Weltkriegs Kommunisten geworden waren. Er bekam diese Geschichte zu hören: "Ein paar Funktionäre aus dem entfernten Moskau kamen hier an und sagten uns, die Zeit des Kapitalismus sei vorbei und es beginne jetzt die Zeit des Sozialismus. Und wir, die wir wussten, dass sie dort das Zarenregime abgeschafft hatten, fragten sie: Und was soll das sein, Sozialismus? Einer der Funktionäre erklärte es uns: Sozialismus, das heißt gemeinschaftlich leben, das Land gemeinsam bestellen, gemeinsam produzieren und gerecht verteilen, was man zusammen produziert hat. Der Sozialismus ist all das und, fügte er hinzu, das Land mit Traktoren bearbeiten zu können, die wir euch bringen werden, damit es für euch weniger anstrengend ist." Der alte Bauer schloss: "Wir wurden auf der Stelle Sozialisten, weil erstens, das Land gemeinschaftlich zu bestellen, das hatten wir schon immer getan, und es war gut und richtig, das weiterhin zu tun; das zweite schien uns noch besser: Sie brachten uns Traktoren, die wir brauchen würden, um das Land zu bestellen und mehr zu produzieren."
Der alte Bauer hatte noch nicht von den Auseinandersetzungen gehört, die in jenen Zeiten die Mitglieder des bolschewistischen Führungskerns entzweiten. Er wusste kaum etwas über den Meinungszwist, wie man das in der UdSSR ablaufende Geschehen bezeichnen sollte, ob Sozialismus, Protosozialismus oder von der Arbeiterklasse geführten Staatskapitalismus. Damals hatten - fast - alle des Lesens und Schreibens unkundige Bauern einen ebenso elementaren wie soliden Begriff von Sozialismus; für sie waren es die folgenden drei Dinge: Brot, Frieden und Räte. Kapitalismus dagegen war für sie das, was sie in der letzten Zeit gelitten hatten: Hunger, Krieg und fortschreitende Auflösung der Dorfgemeinschaft.
Diese Sicht des Sozialismus, die der Mehrheit der Europäer heute primitiv vorkommen wird, gleicht stark derjenigen des ›Dorf-Kommunismus‹ von Unterwegs nach Tschewengur, Platonows fabelhaftem Roman, der in der stalinistischen Sowjetunion nicht publiziert werden konnte. Und sie gleicht stark der Sozialismusvorstellung der ersten russischen ›Narodniki‹ oder ›Volkstümler‹, die man später revolutionäre Sozialisten genannt hat. Mit derjenigen in den Werken von Marx und Engels hat sie wenig zu tun. Kaum ein Berührungspunkt: die gefühlvolle Verteidigung der Werte der Dorfgemeinschaft (vor ihrer Auflösung) und andererseits die Hoffnung, dass die selbstbewusste industrielle Arbeiterklasse, die eine andere Gemeinschaft aufbaute, rechtzeitig käme, um das ländliche Gemeinwesen vor dem Niedergang zu retten. Daher erklärte die Mehrheit der europäischen ›Lumpen mit steifem Kragen‹ um 1919, dass das, was die euroasiatischen Bauern sagten und taten, nichts mit dem Sozialismus zu tun habe. Sie hielten es mit dem Begriff, nicht mit den Menschen, dem von ihnen Gesagten und Getanen. Eben deshalb schrieb einer der wenigen europäischen Marxisten, der kein "Lump mit steifem Kragen" (Gramsci an Julia Schucht, 6.3.1924) sein wollte, dass die russische Revolution in Wirklichkeit eine "Revolution gegen Das Kapital" war, um sodann darzutun, dass er die Revolution dem Kapital vorzog.
Von Gramsci sagten damals fast alle seine Mitstreiter, er sei kein Marxist. Und von den euroasiatischen Bauern natürlich auch, obwohl die Kritik nicht zu ihnen drang. Viel Zeit musste vergehen bis ein anderer, der auch kein "Lump mit steifem Kragen" sein wollte, der Dichter und Schriftsteller John Berger, in SauErde eine Geschichte widerständiger Bauern erzählte, in der Menschen und Begriff sich wieder einander annähern. Die Rede war von den Bauern in Westeuropa. Die Geschichte der alten Geschichte war so neu, dass John Berger es für nötig hielt, seiner Erzählung ein höchst interessantes Aufsätzchen mitzugeben, um Überleben und Widerstand jener menschlichen Wesen zu erklären, die bereits verschwunden zu sein schienen, verschlungen von der Industrie und den Riesenstädten. SauErde war eine Art Paukenschlag, nicht deshalb, weil der Roman eine in Auflösung begriffene Welt mit Blumen überhäuft hätte, sondern weil er, ohne Blumen, vielen die Augen dafür öffnete, dass jene bäuerliche Welt keineswegs gestorben war und dass die menschlichen Wesen, die sie bevölkerten, sehr viel weniger primitiv waren, als die Mehrheit der akademischen Marxisten geglaubt hatte.
Seit damals, und inzwischen sind einige Jahrzehnte vergangen, denken doch einige - John Berger und Pier Paolo Pasolini gaben den Anstoß -, dass die Glühwürmchen noch keineswegs überall ausgestorben sind; dort, auf der anderen Seite der Medienwelt, kommen sie noch vor und stehen für das, was - in einem geographischen Kontext, der die Gebirgskette der Anden, den Titicaca-See, den Monte Ávila und das Amazonasgebiet umschließt - die humanistischen Philosophen und europäischen Städtebewohner ›Aufklärung‹ zu nennen pflegen. Mir wurde das bewusst, als ich einmal im Freien übernachtete und den Himmel im Pantanal, im brasilianischen Mato Grosso, betrachtete. Jetzt denke ich es wieder, am Fuße des Monte Ávila, während ich dem Dichter und Umweltschützer Thiago de Melo zuhöre. Und wenn der Sozialismus, von dem man jetzt in Venezuela spricht und dessen Echo bis nach La Paz, Guayaquil, Lima und El Pantanal dringt, mehr mit den hier sich ungeheuer vermehrenden Glühwürmchen als mit der ›Aufklärung‹ zu tun hätte, deren Licht von den europäischen ›Lumpen mit steifem Kragen‹, die akademischen Marxisten inklusive, verbreitet wird?
Ich glaube nicht, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, von dem man in Caracas und La Paz, in einigen Dokumenten der brasilianischen Landlosenbewegung und in zahlreichen Papieren von Vía Campesina spricht, viel zu tun haben wird mit der von uns in Europa ausgearbeiteten Sozialismusvorstellung. Schon Mariátegui ahnte es, der einige europäische Länder bereist und dann darüber nachgedacht hatte. Und ganz sicher auch Ché Guevara bei seinem bolivianischen Abenteuer, das ihm den Tod brachte. Doch heute liegen die Dinge klarer. Und deshalb hat die Geschichte des alten euroasiatischen Bauern damit zu tun. Diese Geschichte verbindet den Anfang des ›kurzen Jahrhunderts‹ (die sozialistische Illusion) mit seinem Ende (die Krise des Neoliberalismus und die Wiederkehr des sozialistischen Ideals). Wenn man die Sozialismusvorstellung erneuern will, wird man hier beginnen.
Wir Europäer sind schlecht darauf vorbereitet. Noch sind wir geneigt, ›Sozialdemokratie‹ zu nennen (der erste Name des organisierten Sozialismus), was heute jegliches sozialistisches Projekt schlichtweg verneint. Noch lassen wir zu, dass Parteien sich ›sozialistisch‹ nennen, die schon vor Jahrzehnten alles verabschiedet haben, was mit Recht so genannt worden ist. Noch nennen wir ›kommunistisch‹ politische Parteien, die schon zufrieden wären, wenn sie tatsächlich ein sozialdemokratisches Programm hätten. Und noch immer schicken wir auf die andere Seite des Atlantiks Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, die wie selbstverständlich davon ausgehen, dass man in Europa weiß, was Sozialismus ist, und die auf dieser Grundlage (wobei die ökonomischen Interessen der ›Arbeitgeber‹ verschleiert werden), jegliche Maßnahme verwerfen, die sich in Richtung der Sozialismusvorstellung des alten euroasiatischen Bauern bewegt.
Brot, Frieden, Freiheit, Räte, Traktoren, Elektrizität, sagten die Armen von 1919, als sie vom Sozialismus sprachen in Gemeinden und Versammlungen, auf den Straßen und Plätzen. Ich sage nicht, dass die Bauern ohne Land, die von Vía Campesina, die Kokabauern, die in den Vorstädten der Ballungsgebiete zusammengepferchten Indigenas, diejenigen, die gestern noch Bauern waren und heute irgendwelche Arbeiter sind, diese Worte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wiederholen werden oder wiederholen müssen. Nicht im Zeitalter der Parabolantennen, der Roboter und des Internet. Natürlich nicht. Doch muss man, wie Juan de Mairena sagte, ernsthaft darüber sprechen, ›was auf der Straße passiert‹, und nicht darüber, welche ›Vorfälle sich auf der Straße ereignen‹; folglich muss der den Sozialismus liebende Europäer als erstes an diesen Orten nachfragen und versuchen, jene ›armen‹ Worte in die Sprache der Armen (und Proletarier von heute) zu übersetzen. Versuchen wir es.
Brot heißt heute für diejenigen, die in der sozialen Pyramide ganz unten stehen, Souveränität der Ernährung. Die materielle Basis des Sozialismus ist null Hunger. Um den Hunger auszurotten, ist Souveränität der Ernährung nötig. Und, wie man in allen verarmten Ländern sehen kann, braucht man dafür eine Souveränität im wahrsten Sinn des Wortes, d.h. die Unabhängigkeit, um die zur Verfügung stehenden Mittel gerecht zu verteilen.
Frieden heißt, für eben diese Leute, dasselbe wie gestern: Dass der neue Imperialismus in kapitalistischer Konkurrenz um rasche Profite keinen Krieg bringt oder uns mit Gewalt in einen solchen hineinzieht (und dabei, präventiv, Feinde erfindet, die doch nur der kulturellen Homogenisierung zu widerstehen suchen).
Freiheit ist weiterhin, heute wie gestern, Schlüsselwort eines jeden Sozialismus, der etwas auf sich hält. Eines Tages fragte jemand zu Recht: Freiheit für wen? Man sollte dabei aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und anerkennen, dass "die Freiheit [...] eine der köstlichsten Gaben [ist], die der Himmel dem Menschen verliehen" - ferner die Freiheit, wie einst der Klassiker, mit dem Kampf ums Brot verbinden, d.h. um die Souveränität der Ernährung: "Glücklich, wem der Himmel ein Stück Brot gegeben, ohne dass ihm die Verpflichtung obliegt, einem andern als dem Himmel selbst dafür zu danken." (Don Quijote, 2. Teil, 58. Kap.) Das heißt, da es im religiösen Sinn des Wortes keinen Himmel gibt, den Glühwürmchen von heute.
Räte meint heute partizipative Demokratie. Und, wie gestern, aufmerksam verfolgen, was die Geführten sagen und was die Führenden tun. Was im Viertel passiert, überall interessiert (barrio adentro y barrio atento). Rat war ein großes Wort des Sozialismus, und der Gehalt, den es zum Ausdruck bringt, muss bewahrt werden. Vielleicht muss die Sache anders genannt werden, weil der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, besonders in Lateinamerika, andere Sprachen und andere Kulturen als diejenige, in der ich schreibe, respektieren muss, doch was den Gehalt betrifft (beratschlagen und entscheiden von unten), ist sie der Schlüssel der sozialistischen Demokratie.
Und was hat es mit den Traktoren und der Elektrizität des alten Bauern auf sich? Hundert Jahre danach reicht das nicht. Nicht nur deshalb, weil der soziale Umweltschutz der Verarmten heute das alte Loblied auf den alten Produktivismus ablehnt. Sondern wegen etwas anderem, das wesentlich ist und das die Bauern ohne Land, diejenigen der Vía Campesina, die Kokabauern, die in den Vorstädten der Ballungsgebiete zusammengepferchten Indigenas, die Gestern-noch-Bauern-und-heute-Proletarier von dem alten Bauern aus den Gebieten zwischen Europa und Asien unterscheidet: Keiner in der Welt der Anden, der Karibik oder des Amazonas wartet mehr darauf, dass ›die Funktionäre aus Moskau‹ kommen, um die Gemeinde zu retten. Das hatte seine Zeit, und nichts ist passiert.
Der Erziehungsstaat kann die Grundlagen des Sozialismus legen mittels Mikrokrediten für arme Frauen, indem Kooperativen und Sozialmissionen in den Randgebieten der Städte und auf dem Land auf die Beine gestellt werden, wie er es in Venezuela bereits tut. In ihnen, in den Kooperativen, den Missionen, den Vierteln werden die Entscheidungen hinsichtlich der neuen Technologien getroffen (die dem alten Traktor und der Elektrizität entsprechen), die umweltverträglich und gegebenenfalls auf alternative Weise verwendet werden sollen. Sozialismus heißt auch gesellschaftliche und individuelle Verantwortung. Die Verantwortung kann von oben gefördert werden. Dafür braucht man Beispiele. Sie wird Wirklichkeit von unten, wenn die Führenden ein gutes Beispiel geben. Jede Vorstellung von Verantwortung geht verloren, wenn Bürokratie und Korruption Sozialismus genannt werden.
Ich komme auf das Sinnbild des alten euroasiatischen Bauern zurück. Wenn man heute die Bewohner jener Orte fragt, die von den Sozialmissionen, der Schaffung von Kooperativen, den Mikrokrediten und den vom Staat subventionierten alternativen Märkten profitiert haben, dann sagen auch sie vielleicht, dass genau das Sozialismus ist. Wir den Sozialismus liebenden Europäer sollten sie verstehen, denn diejenigen, die so sprechen, haben in ihrem ganzen Leben noch nie einen Arzt gesehen, der sie mit Respekt behandelt hätte, kaum eine Schule, und sie hatten keinen Begriff von Kredit als den negativen der großen Banken, noch einen von Konsum, der nicht nur für die anderen, die Gutbetuchten, sondern auch für sie gewesen wäre. "Sozialismus", sagte einer der lateinamerikanischen, bis heute erniedrigten und beleidigten Armen, "das ist Jahre verbracht zu haben, ohne etwas von dem gesehen zu haben, was uns umgibt, und es jetzt zu sehen, dank einer einfachen, vom Staat finanzierten und von kubanischen Ärzten durchgeführten Operation des grauen Stars."
Marx würde antworten: Sozialismus ist sehr viel mehr als das. Hier fehlt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Hier fehlt die Verstaatlichung der großen Unternehmen. Hier fehlt die Abschaffung des Privateigentums. Hier fehlt eine polytechnische Erziehung auf der Höhe der Zeit. Hier fehlt es an Ansätzen zur Überwindung der alten gesellschaftlichen Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Stimmt, all das fehlt. Aber auch wir brauchen eine Star-Operation, wenn wir den Überlegungen des alten euroasiatischen Bauern und des armen alten Lateinamerikaners, der ein Anhänger von Chávez geworden ist, nicht Rechnung tragen. Wenn der Sozialismus des 21. Jahrhunderts mit Marx im Gespräch bleiben will, muss auch ihm das erzählt werden. Wir wissen schon, dass er es weiß, doch nicht in dieser Fassung.

Aus dem Spanischen von Peter Jehle

Aus: Das Argument 269, 49. Jg., 2007, H. 1, S. 85-89