Ein Artikel darüber, dass sich die Re-Kolonialisierung der sog. Dritten Welt zu einem prägenden Merkmal des Imperialismus im 21. Jahrhundert entwickelt.
Spätestens mit der 1960 von der UNO-Generalversammlung verabschiedeten Resolution 1514 und ihrer Forderung, "den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und bedingungslos zu beenden", schien dieser endgültig auf dem Scheiterhaufen der Geschichte gelandet zu sein. Die Resolution sicherte allen Mitgliedern des internationalen Systems - zumindest auf dem Papier - die volle und uneingeschränkte Souveränität zu, jegliche formelle Einschränkung staatlicher Selbstbestimmung und Unabhängigkeit war fortan lange Zeit undenkbar geworden. Den eigentlichen Startschuss für das (vorläufige) Ende der Kolonialzeit stellte die Konferenz von Bandung im April 1955 dar: "Bandung war das Symbol für eine neue Epoche, für das Zeitalter der Entkolonialisierung, für das Zurückdrängen der Großmächte durch andere Methoden als den totalen Krieg, für die Möglichkeit einer Neugestaltung der Welt."[1]
Trotz dieser Hoffnungen und obwohl man durchaus davon sprechen kann, dass es im Zuge der Entkolonialisierung zu einer gewissen Emanzipation der so genannten Drittweltländer kam, konnten die reichen Industrienationen mit dieser Entwicklung im Großen und Ganzen sehr gut leben. Denn der Imperialismus, also die Ausbeutung der Peripherie durch das Zentrum, erwies sich als eine Konstante des kapitalistischen Systems und bestand ungebrochen fort, er nahm fortan nur eine subtilere, informellere Gestalt an. Die Ausplünderung der Dritten Welt konnte zumeist - gelegentliche Strafaktionen nicht ausgeschlossen - ohne die Anwendung militärischer Gewalt und unter formeller Wahrung der staatlichen Souveränität gewährleistet werden. Anfang der 90er schien sich alles immer prächtiger für die kapitalistischen Führungsmächte zu entwickeln: Die Sowjetunion war besiegt und damit nach eigener Deutung das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama), der ultimative Siegeszug des neoliberalen Weltwirtschaftssystems als einzig zulässigem Ordnungsmodell, eingeläutet.
Diese Hochphase des informell vor allem über das Weltwirtschaftssystem agierenden "Imperialismus ohne Kolonien" (Harry Magdoff) neigt sich offensichtlich dem Ende zu, wofür es zwei klare Anzeichen gibt: einerseits die dramatisch steigende Zahl westlicher Militärinterventionen. Auf der anderen Seite werden im Anschluss an westliche Kriegseinsätze immer häufiger unter den Deckmänteln des "Stabilitätsexports" und des "Nation Building" zeitlich unbegrenzte Besatzungsregime etabliert, die sich von klassischen Kolonien allenfalls dem Namen nach unterscheiden: "Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gibt es einen neuen Typus von quasikolonialen Unternehmungen. Afghanistan, Irak, zuletzt Liberia, der fast schon zum Gewohnheitsprotektorat gewordene Balkan - lauter verschiedene Fälle, von der humanitären Intervention bis zum militärischen Besatzungsregime, doch allesamt unter fremder, äußerer Vormundschaft."[2] Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung von erheblicher Tragweite, da sie auf eine grundlegende Veränderung der Praxis westlicher Ausbeutungspolitik hindeutet, die immer rücksichtslosere und militaristischere Formen annimmt. Der informelle Imperialismus wird durch ein neues ideologisches Leitbild abgelöst, das derzeit ins Zentrum der transatlantischen Strategie- und Streitkräfteplanung rückt und auf das sämtliche Kapazitäten ausgerichtet werden: die "Rekolonialisierung schwacher und in Misswirtschaft versakkender Staaten."[3]
Um dies zu belegen, sollen in diesem Artikel zunächst die Triebfedern dieser Entwicklung herausgearbeitet werden. Hierbei wird argumentiert, dass die neoliberale Weltwirtschaftsordnung zunehmende Konflikte in und mit den Ländern der Peripherie verursacht, die zur Aufrechterhaltung der systemimmanenten Ausbeutungs- und Hierarchiestrukturen immer häufiger militärisch "befriedet" werden müssen (Kapitel 1). Anschließend wird beschrieben, wie aus einer verqueren Rechtfertigungsideologie, der Theorie der "Neuen Kriege", ein moralisch-sicherheitspolitisches Legitimationskonstrukt zur langfristigen Besetzung von Staaten der Dritten Welt abgeleitet wird. Da dieses Konstrukt inzwischen die westliche Strategieplanung dominiert, wird immer offener gefordert, nicht nur an imperialistische, sondern an koloniale Traditionen anzuknüpfen (Kapitel 2). Weil aber Kolonialbesatzungen grundlegend neue Kapazitäten erfordern, wird derzeit die westliche Kriegsführung in atemberaubendem Tempo radikal für diesen Bedarf umstrukturiert, insbesondere indem zivile Instrumente der Logik militärischer Interessensdurchsetzung untergeordnet werden (Kapitel 3). Obwohl diese Entwicklung erst am Anfang steht, manifestiert sich der Neoliberale Kolonialismus bereits heute in zahlreichen Besatzungsregimen, bei denen die staatliche Souveränität faktisch auf die jeweils involvierten westlichen Staaten übergegangen ist. Im Zuge dessen werden die jeweiligen Gesellschaftsordnungen neoliberal zugerichtet (Kapitel 4).
Abschließend soll dargelegt werden, dass der Versuch, die von der Weltwirtschaftsordnung verursachten Armutskonflikte mit der Etablierung von Kolonialverwaltungen zu "stabilisieren", diese Konflikte noch weiter verschärft, zunehmende gewaltsame Auseinandersetzungen hervorruft und sich nicht zuletzt als Rekrutierungshilfe für terroristische Organisationen erweist. Anstatt aber grundsätzlich umzusteuern, wurde faktisch ein zeitlich unbegrenzter globaler Kriegszustand erklärt, bei dem der Aufstandbekämpfung im Rahmen der Militärplanung immer größere Bedeutung zukommt. Zudem wird die wachsende Terrorgefahr zum Abbau von Bürgerrechten genutzt, womit u.a. immer repressiver gegen globalisierungskritische Proteste vorgegangen wird. So beängstigend diese Entwicklungen auch sind, sie sind die Reaktion auf die zunehmenden Krisentendenzen der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, die immer stärker unter Druck gerät.
1. Triebfedern des Neoliberalen Kolonialismus
Die Radikalisierung westlicher Ausbeutungspolitik ist ein historisch keineswegs präzedenzloser Vorgang, schon der klassischen Kolonialzeit ging eine Phase des Freihandelsimperialismus voraus, weshalb sich ein Vergleich anbietet. Zuvor gilt es jedoch noch, den Unterschied zwischen informellem Imperialismus und Kolonialismus zu klären.
1.1 Informeller Imperialismus und Kolonialismus
Wie bereits angedeutet, können informeller Imperialismus und seine als Kolonialismus bezeichnete formelle Variante nicht nach ihren Motiven voneinander unterschieden werden, beide zielen auf die Ausbeutung der armen peripheren Länder durch die reichen Zentrumsstaaten. Die entscheidende Frage ist, wie diese Absicht umgesetzt wird, eher indirekt über Stellvertreter und internationale Organisationen oder durch direkte Besatzung. Das zentrale Unterscheidungskriterium - wobei die Übergänge natürlich fließend sind - besteht also darin, ob die staatliche Souveränität auch formal außer Kraft gesetzt wird. Der Kolonialismus ist also die aggressivste und militaristischste Variante in diesem Spektrum, die "spektakulärste Erscheinungsform des Imperialismus", die auf restlose und unverblümte Unterwerfung setzt.[4]
1.2 Die Vergangenheit als Vorspiel
Nach einer häufigen Interpretation setzte die Phase kolonialer Expansion Ende des 19. Jhd. aufgrund der erodierenden britischen Hegemonialposition ein. Der Aufstieg anderer Großmächte führte zu heftigen Rivalitäten und einer wachsenden Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte, die das Bestreben zur Folge hatte, sich exklusiven Zugriff über die Errichtung formaler Kolonien zu verschaffen.[5] Gerade wenn man die extremen wirtschaftlichen Probleme der derzeitigen Hegemonialmacht USA und die sich offensichtlich verschärfenden Auseinandersetzungen um die Kontrolle der schwindenden Weltölvorkommen berücksichtigt, könnte die augenblicklich beobachtbare Rekolonisierung der Peripherie das Ergebnis derselben Dynamik sein.
Dies liefert jedoch nur einen Teil der Erklärung, denn auf der anderen Seite legt die Tatsache, dass es im Laufe des 19. Jhds. immer häufiger zu Aufständen gegen den Freihandelsimperialismus kam, eine andere Interpretation nahe: "Das Problem einer eher auf ökonomische als militärische Überlegenheit gestützten Imperiumsbildung besteht freilich darin, dass sie bei der Sicherung der neu erschlossenen Wirtschaftsräume auf militärische Präsenz nicht verzichten kann. Solange hierfür der Einsatz kleinerer Kontingente ausreicht, bereitet das keine ernsten Schwierigkeiten. [...] Das ändert sich, wenn Aufstände ausbrechen und sich Unruhen ausbreiten, die eine langfristige Entsendung größerer Truppeneinheiten erforderlich machen."[6] Nicht nur innerimperialistische Auseinandersetzungen, sondern auch die wachsenden Konflikte in und mit den Staaten der Peripherie zwangen also zur Formalisierung der Herrschaft, da die Ausbeutung auf informellem Wege nicht mehr gewährleistet werden konnte. Gerade diese Dynamik, so soll hier dargelegt werden, ist auch heutzutage maßgeblich für den neuen Kolonialismus des Westens.
1.3 Neoliberaler Kolonialismus und die Krisentendenzen der Weltwirtschaftsordnung
Die Tatsache, dass die Globalisierung häufig wertfrei als zwangsläufiger Prozess zunehmender internationaler Verflechtung verstanden wird, verfehlt den tatsächlichen Gehalt dieser Entwicklung. Denn worum es wirklich geht, ist die gezielte politische Umsetzung einer Strategie, die auf eine maximale Durchsetzung der Marktkräfte setzt und damit nur als neoliberale Globalisierung zu beschreiben ist. Als wesentliche Mittel hierfür fungieren Privatisierung, Deregulierung, Abbau staatlicher Sozialleistungen, Öffnung der Märkte bzw. Freihandel, welche von den westlich dominierten Organisationen wie IWF, Weltbank und WTO durchgesetzt werden. Obwohl inzwischen wohl allgemein bekannt geworden sein dürfte, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen zu einer massiven Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung geführt hat, ist der Neoliberalismus weiterhin das ideologische Fundament amerikanischer wie auch europäischer Strategiepapiere, eben weil er ein geeignetes Mittel zur Ausbeutung der so genannten Dritten Welt darstellt.
Gleichzeitig ist aber gerade die hierdurch verursachte Verarmung die wichtigste Ursache für die gewaltsame Eskalation von Konflikten in den ausgebeuteten Ländern, wie selbst die Weltbank in einer bemerkenswerten Studie einräumt: "Empirisch ist das auffälligste Muster, dass sich Bürgerkriege besonders auf arme Staaten konzentrieren. Krieg verursacht Armut, aber wichtiger noch für diese Konzentration ist, dass Armut die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen erhöht. Somit kann unser zentrales Argument bündig zusammengefasst werden: die zentrale Konfliktursache (central root cause of conflict) ist das Scheitern ökonomischer Entwicklung."[7] Auch die ebenfalls linker Ambitionen unverdächtige Bertelsmann-Stiftung, kam in einer Ende 2006 veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass "die weitaus überwiegende Zahl von politischen Gewalttaten auf lokale Ursachen wie Hunger, Ungleichheit oder Entrechtung zurückzuführen" sind.[8]
Da das neoliberale System offensichtlich einige Gewinner und zahlreiche Verlierer produziert, muss es zwangsläufig auf zweierlei Ebenen militärisch gegen die "Verdammten dieser Erde" abgesichert werden. Auf der einen Seite eröffnet die neoliberale Globalisierung den westlichen Großkonzernen neue Profitmöglichkeiten, da die Realisierung dieser Gewinne aber von Krisen und Konflikten in der Peripherie gefährdet werden kann, müssen diese ggf. "befriedet" werden. Andererseits geht es aber auch ganz grundsätzlich darum, militärisch den Bestand der gegenwärtigen Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse zu garantieren und diese gegen jede Form von Bedrohung zu "verteidigen". Und in der Tat sieht sich die herrschende Ordnung mannigfaltigen "Angriffen" ausgesetzt, sei es von Seiten der globalisierungskritischen Bewegung, der sich emanzipierenden lateinamerikanischen Länder, von Schurkenstaaten oder von terroristischen Organisationen und nicht zuletzt durch die delegitimierende Wirkung der selbst verursachten Armutskonflikte. Diese Bündelung von Krisentendenzen macht den Übergang zu einer immer militaristischeren Politik aus Sicht der westlichen Strategen zwingend erforderlich, denn es steht einiges auf dem Spiel: Gelingt es nicht, den Dampfkessel der Globalisierungskonflikte mitsamt ihren verschiedensten Ausprägungen halbwegs unter Kontrolle zu halten, steht die Weltwirtschaftsordnung selbst mehr und mehr zur Disposition, wie zwei führende US-Demokraten, Michael O'Hanlon und Peter Singer, verdeutlichen: "In einer Welt, die im Wesentlichen von den Industriedemokratien am Laufen gehalten und dominiert wird, wird ein anhaltendes Versagen, solchen Konflikten zu begegnen, nicht nur ihre moralische Integrität schwächen, sondern ihre internationale Legitimität als globale Führer untergraben."[9] Folgerichtig plädieren die beiden für den Aufbau einer amerikanisch-europäischen "Stabilisierungstruppe" im Umfang von 600.000 Soldaten, eine Idee, die, wie im Folgenden gezeigt wird, immer mehr Anhänger findet.
Es sind diese Überlegungen, die sich hinter den Forderungen verbergen, "gescheiterten Staaten" (failed states) mittels westlichem Militär "Stabilität" und "Demokratie" zu verordnen. Da man sich aber über die wahren Hintergründe des Neoliberalen Kolonialismus lieber ausschweigt, bevorzugt man ein moralisch-sicherheitspolitisches Legitimationskonstrukt, um den Einsatz des Militärs zur Durchsetzung westlicher Interessen zu rechtfertigen.
2. Krieg als moralisch-sicherheitspolitischer Imperativ
Schon immer legitimiert sich der Kolonialismus durch "sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen."[10] Waren es früher "The White Man's Burden" und die "Mission Civilisatrice" basiert der heutige Kolonialismus im Wesentlichen auf der Theorie der Neuen Kriege, deren führende Vertreter Mary Kaldor und Herfried Münkler sind.
2.1 Die Neuen Kriege als koloniale Rechtfertigungsideologie
Trotz gravierender methodologischer und empirischer Mängel hat die Theorie der Neuen Kriege einen beeindruckenden Siegeszug im politisch-wissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre angetreten, gerade weil sie sich perfekt für die Zwecke westlicher Kriegspolitik instrumentalisieren lässt. Sie besagt im Kern, dass klassische zwischenstaatliche Kriege (weitgehend) der Vergangenheit angehören würden. An ihre Stelle sei aber eine rasant steigende Zahl innerstaatlicher Gewaltkonflikte getreten, die primär endemische Ursachen hätten. Regionalspezifische Umstände, seien es ethnische oder religiöse Rivalitäten, Stammesfehden o.Ä. seien ihre hauptsächlichen Triebfedern, die letztlich zur Erosion jeglicher Ordnung und damit zu gescheiterten Staaten führen.[11]
Mit diesem Konstrukt wird die Frage der Kriegsursachen bewusst von der Interessenspolitik der kapitalistischen Mächte abgekoppelt. Im Gegenteil, damit diese Staaten ihre angeblich selbstverschuldeten Konflikte dauerhaft beilegen können, seien sie "auf den Import von Staatlichkeit angewiesen", der Westen müsse bereit sein, so Münkler, "sich auf bewaffnete Pazifizierungen ganzer Regionen einzulassen."[12]
2.2 "Stabilitätsexport" und sein moralisch-sicherheitspolitisches Legitimationskonstrukt
Auf Grundlage dieser Argumentation sei es schon aus moralischen Erwägungen die Pflicht, dem Töten und Sterben in der Dritten Welt mittels militärischem "Stabilitätsexport" zu begegnen. Gerade Linksliberale haben sich diese Argumentation zu Eigen gemacht. Mary Kaldor etwa betont, dass angesichts der wachsenden Zahl von Bürgerkriegen die "Durchsetzung kosmopolitischer Normen erforderlich ist, also die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte."[13] Der Soziologe Ulrich Beck begeistert sich sogar für die im Entstehen befindliche "neuartige, postnationale Politik des militärischen Humanismus - des Einsatzes transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen."[14] Auf der anderen Seite betonen auch Neokonservative wie Fancis Fukuyama "nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, im Namen der Menschenrechte und der demokratischen Legitimität einzugreifen."[15]
Besonders zynisch ist dabei die Behauptung, ohne militärische Schützenhilfe seien Staaten der Dritten Welt nicht zu einer effektiven Armutsbekämpfung in der Lage, da "Stabilität" die Vorbedingung für eine "erfolgreiche" Integration in die Weltwirtschaft im Rahmen des "Nation Building" sei, eine Argumentationskette, die sich wie von Zauberhand mit den Forderungen nach Rechtssicherheit und Investitionsschutz seitens der Wirtschaft deckt. Somit postulieren die Vertreter der Neuen Kriege einen völlig anderen Kausalzusammenhang zwischen neoliberaler Weltwirtschaftsordnung, Verarmung und daraus resultierenden Kriegen und Konflikten, als den, den die oben erwähnten Studien von Weltbank und Bertelsmann-Stiftung nahe legen.
Um aber sicherzugehen und diesem moralischen Legitimationskonstrukt zusätzliche Durchschlagskraft zu verschaffen, wird zudem postuliert, der "Stabilitätsexport" sei die einzig effektive Maßnahme zur Terrorbekämpfung. Kurz zusammengefasst wird dabei argumentiert, dass eine mangelnde Integration in die Weltwirtschaftsordnung Armut, Bürgerkriege und damit gescheiterte Staaten verursache, von denen wiederum als "Brutstätten des Terrors" eine nicht tolerierbare Gefahr ausginge. So gibt Herfried Münkler an, dass die "Ausbildungslager und Rückzugsgebiete [von Terroristen] vorzugsweise dort liegen, wo im Verlauf eines innergesellschaftlichen Krieges die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind. [Weshalb] es in einer globalisierten Welt keine Regionen mehr gibt, in denen die staatlichen Strukturen zusammenbrechen können, ohne dass dies schwer wiegende Folgen für die weltpolitische wie weltwirtschaftliche Ordnung hätte."[16] Auch Fukuyama betont, dass "gescheiterte Regierungen ein nicht hinnehmbares Sicherheitsrisiko in Form von Terroristen mit Massenvernichtungswaffen darstellen können."[17] Dieses moralisch-sicherheitspolitische Legitimationskonstrukt wurde inzwischen komplett in die westliche Strategieplanung übernommen.
2.3 Die militärische Absicherung der Globalisierung I: Vereinigte Staaten
Der derzeit mit Abstand wichtigste Vordenker des Neoliberalen Kolonialismus ist der US-Stratege Thomas P. Barnett, dessen Einfluss auf den US-amerikanischen Sicherheitsdiskurs bis hin zur konkreten Streitkräfteplanung schwerlich zu überschätzen ist. Sein Konstrukt basiert wie die Neuen Kriege auf der Annahme, dass überall dort, wo die - neoliberalen, wie der US-Stratege unmissverständlich deutlich macht - "Spielregeln der globalen Ökonomie" nicht beachtet würden, er nennt diese Regionen die sich "nicht-integrierende Lücke", gescheiterte Staaten entstünden, von denen eine erhebliche terroristische Bedrohung ausgehe. Hierdurch wird der "Stabilitätsexport" zur Eingliederung von Staaten in die neoliberale Weltwirtschaftsordnung zu einem "sicherheitspolitischen Imperativ" und damit eine militärisch zu bewerkstelligende Aufgabe, weshalb das Pentagon die Rolle als "Systemadministrator" oder "Bodyguard der Globalisierung" übernehmen müsse.[18]
Um diese Argumentationskette zu untermauern, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Studien erstellt. Unter anderem kam das wichtigste wissenschaftliche Beratungsgremium des Pentagon, das Defense Science Board, hinsichtlich der Frage, ob von gescheiterten Staaten eine direkte Gefahr für die Vereinigten Staaten ausgehe, zu folgendem absehbaren Ergebnis: "Berücksichtigt man die jüngste Geschichte, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die USA in Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen involviert werden. [Â…] Gescheiterte und scheiternde Staaten sind ideale Brutstätten und Trainingsorte für Terroristen. [...] Somit haben die USA ein großes Interesse - moralisch wie sicherheitspolitisch - sich um scheiternde und gescheiterte Staaten zu kümmern."[19] Auf dieser Grundlage propagiert bspws. auch der einflussreiche Council on Foreign Relations ungeschminkt das Überstülpen des neoliberalen Ordnungsmodells - Demokratie und freie Märkte - als vorrangigste Maßnahme zur effektiven Terrorismusbekämpfung: "Das ultimative Ziel der amerikanischen Außenpolitik ist es, unsere Macht, allein falls nötig, dafür zu nutzen, Demokratien mit freier Marktwirtschaft auf dem ganzen Globus auszudehnen. Dies ist der einzige Weg, wie die Vereinigten Staaten den langfristigen Ursachen des Terrorismus begegnen können."[20]
Diese Überlegungen flossen eins zu eins in die Neufassung der Nationalen Sicherheitsstrategie vom März 2006 ein und bilden eines ihrer Kernelemente: "Weil Demokratien die verantwortungsvollsten Mitglieder des internationalen Systems sind, ist die Förderung der Demokratie die effektivste langfristige Maßnahme zur [...] Bekämpfung des Terrorismus."[21] Dabei wird aber Demokratie im Wesentlichen auf die Akzeptanz der freien Marktwirtschaft und die Integration in die neoliberale Weltwirtschaftsordnung reduziert: "Ökonomische Freiheit ist ein moralischer Imperativ. Die Freiheit, Eigentum zu schaffen, zu kaufen oder zu verkaufen und zu besitzen ist ein fundamentales Element der menschlichen Natur und die Grundlage für eine freie Gesellschaft. [...] Amerikas nationale Interessen und seine moralischen Werte drängen uns in dieselbe Richtung: den Armen der Welt dabei zu helfen sich in die globale Ökonomie zu integrieren."[22]
2.4 Die militärische Absicherung der Globalisierung II: Europäische Union
Barnetts kongenialer Partner auf der anderen Seite des Atlantiks ist Robert Cooper, der Büroleiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana. Er droht Staaten, die sich nicht an den "freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie" halten, offen mit den "raueren Methoden einer vergangenen Ära - Gewalt, präventiven Angriffen, Irreführung."[23] Als Begründung hierfür dient wiederum das von den Neuen Kriegen propagierte moralisch-sicherheitspolitische Legitimationskonstrukt. Es findet sich auch in der Europäischen Sicherheitsstrategie, was nicht weiter verwunderlich ist, da sie im Wesentlichen von Cooper verfasst wurde, als auch im Weißbuch der Bundeswehr, das am 25. Oktober vom Kabinett verabschiedet wurde: "Die Erosion staatlicher Strukturen, der Zerfall ganzer Staaten und damit oft einhergehende Bürgerkriege ebenso wie das Entstehen von Gebieten, die sich außerhalb der internationalen Ordnung stellen, eröffnen Aktionsräume sowie Rückzugsgebiete für bewaffnete Gruppen und terroristische Organisationen." Hieraus leitet sich schließlich wiederum der beschriebe moralisch-sicherheitspolitische Imperativ zur Durchführung von "Stabilisierungseinsätzen" und "Nation Building" ab: "Staatsversagen sowie eine unkontrollierte Migration können zur Destabilisierung ganzer Regionen beitragen und die internationale Sicherheit nachhaltig beeinträchtigen. Neben der moralischen Verpflichtung zur Hilfe steht dabei die Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes."[24] Da solche "Stabilisierungseinsätze" aber bei den betroffenen Staaten in den seltensten Fällen auf Gegenliebe stoßen, geht hiermit nicht von ungefähr eine Renaissance des Kolonialismus als Praxis westlicher Interessenspolitik einher.
2.5 Der Westen auf dem Weg zur Rekolonisierung der Welt
Auffällig ist, wie offen derzeit nicht nur an imperialistische, sondern auch an koloniale Traditionen angeknüpft wird, wie etwa von dem einflussreichen Neokonservativen Max Boot: "Afghanistan und andere unruhige Gebiete schreien heute nach der Art aufgeklärter ausländischer Verwaltung, die einstmals von selbstbewussten Engländern in Reiterhosen und Tropenhelmen bereitgestellt wurde."[25] Auch Francis Fukuyama betont: "Angesichts der Tatsache, dass es in vielen gescheiterten Ländern nur ein niedriges Niveau oder gar keine Staatlichkeit gibt, ist nicht klar, ob es eine wirkliche Alternative für ein quasi permanentes, quasi-koloniales Verhältnis zwischen der internationalen Gemeinschaft und den 'begünstigten' Ländern gibt."[26] Am deutlichsten sind die Aussagen des US-Politikprofessors Stephen Krasner: "Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten funktioniert nicht mehr. [...] Mächtige Staaten können das Phänomen prekärer Staaten nicht ignorieren, denn deren Sicherheits- und wirtschaftliche Interessen sind durch diese Staaten gefährdet. [Weshalb] die beste Lösung in der Einrichtung einer De-facto-Treuhandschaft oder eines Protektorats besteht."[27] Dass Krasner im Jahr 2005 zum Leiter der wichtigen Politischen Planungsabteilung im US-Außenministerium ernannt wurde, veranschaulicht überdeutlich, dass die Weichen voll in Richtung einer Rekolonialisierung der Peripherie gestellt werden. Folgerichtig attestieren zwei Stanford-Professoren der Bush-Administration wohlwollend, sie bewege sich in Richtung "einer neuen Form internationaler Herrschaftsausübung, die als Neo-Treuhandschaft, oder provokanter, als postmoderner Imperialismus, bezeichnet werden könnte."[28]
Auch innerhalb der Europäischen Union wird inzwischen offen gefordert, Staaten solange unter quasi-koloniale Kontrolle zu stellen, bis sie wie gewünscht "funktionieren", wie der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel bestätigt: "Im Falle der 'Failed States' kann die Einrichtung von 'liberalen Protektoraten' erforderlich sein, um treuhänderisch das Gewaltmonopol herzustellen."[29] Fast genauso klingt Mary Kaldor: "Wo noch keine legitimen örtlichen Behörden existieren, können treuhänderisch Mandate oder Protektorate in Erwägung gezogen werden."[30] Mit der Reaktivierung des in die Kolonialzeit zurückreichenden Treuhandprinzips wird also völlig unverfroren gefordert, Ländern und ihrer Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung abzuerkennen und das im Souveränitätsrecht verankerte staatliche Gleichheitsprinzip endgültig ad acta zu legen: "Was die Wiederbelebung des Treuhandkonzeptes bedeutet, ist die Rückkehr zu einer hierarchischen Weltordnung."[31]
3. Die zivil-militärischen Streitkräfte des Neoliberalen Kolonialismus
Tatsächlich werden derzeit enorme Kapazitäten sowohl innerhalb der Vereinigten Staaten als auch der Europäischen Union und der NATO in atemberaubender Geschwindigkeit auf die Rekolonialisierung der Peripherie ausgerichtet, insbesondere im Rahmen der Zivil-militärischen Zusammenarbeit.
3.1 Die Transformation der westlichen Kriegsführung I: Vereinigte Staaten
Da mit wachsenden Konflikten sowohl im Innern als auch mit Staaten der Peripherie gerechnet wird, die es gegebenenfalls schnellstmöglich zu "befrieden" gilt, verläuft die gegenwärtige Transformation der US-Streitkräfte in zwei Richtungen. Zum einen orientiert sie sich an dem Bedarf, jederzeit schnell und durchsetzungsfähig militärisch auf Krisen in der sich nicht-integrierenden Lücke reagieren zu können. Zu diesem Zweck werden u.a. derzeit zahlreiche kleinere Militärbasen ("lily pads") auf der ganzen Welt eingerichtet, die über eine geringe Besetzung, aber ausreichend Kapazitäten für einen schnellen Ausbau im Bedarfsfall verfügen.
Diese eher traditionelle Aufgabe des Militärs wird derzeit, wie von Thomas Barnett nachdrücklich gefordert, um einen zweiten Aspekt ergänzt, der sich direkt aus der Erkenntnis ableitet, dass künftig der dauerhaften "Stabilisierung" (Kontrolle) eine ebenso große Bedeutung zukommt, wie dem eigentlichen militärischen Sieg. Dies erfordert jedoch grundlegend neue Kapazitäten, insbesondere eine enge zivil-militärische Verzahnung, denn man benötigt Juristen, Ingenieure, Militärpolizei bzw. Polizeisoldaten, die in Aufstandsbekämpfung geschult sind, etc., eben alles, was schon für eine klassische Kolonialverwaltung erforderlich war: "Der Leviathan (Flugzeuge, intelligente Bomben) wird Angst und Entsetzen verbreiten, wie er es in Afghanistan und im Irak getan hat. Darauf wird die Systemadministrationstruppe (Militärpolizei, humanitäre Hilfe etc.) folgen, die das tun wird, worin wir im Irak versagt haben."[32] Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Max Boot: "Das US-Militär ist hervorragend, wenn es um den Sieg über konventionelle Truppen geht - wie der dreiwöchige Blitzkrieg von Kuwait nach Bagdad im Sommer 2003 gezeigt hat - aber es ist nicht annähernd so gut hinsichtlich der Bekämpfung von Guerillatruppen. [...] Die Bekämpfung des Terrorismus, wie Washington aus den Erfahrungen in Afghanistan gelernt hat, erfordert Bodentruppen und das Engagement für Nation Building."[33] Das Defense Science Board stellte deshalb konsequenterweise im Einklang mit zahlreichen weiteren Studien folgende Forderung auf: "Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen müssen zu einer Kernkompetenz, sowohl des Verteidigungs- als auch des Außenministeriums werden."[34]
Dieser Vorschlag wurde nun vom Pentagon mit der Direktive 3000.05 vom 28. November 2005 offiziell übernommen, die auf eine enge zivil-militärische Verzahnung setzt und die bisherige Aufgabenhierarchie radikal verändert: "Stabilitätsoperationen sind ein Kernbestandteil der amerikanischen militärischen Aufgaben. [Â…] Ihnen sollte eine vergleichbare Priorität wie Kampfoperationen eingeräumt werden."[35] Die Reichweite dieser Direktive wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dies eine vollständige Reorganisation des Pentagons, seiner Trainingsmethoden, Ausbildungslehrgänge und nicht zu vergessen der Karriereleitern erfordert.[36] Kein Wunder, dass Barnett das Dokument begeistert als die "neue Pentagon-Systemadministrationsrichtlinie" bezeichnet.[37]
Aber nicht nur im Verteidigungsministerium werden derzeit nahezu sämtliche Kapazitäten der kolonialen Logik barnettscher Prägung angepasst. Im Rahmen einer grundlegenden Neuordnung der US-Entwicklungshilfe sollen Gelder künftig nur noch im Dienste dessen vergeben werden, was US-Außenministerin Condoleezza Rice in einer Grundsatzrede Anfang 2006 als "umgestaltende Diplomatie" (Transformational Diplomacy) bezeichnete. Hierfür richtete Rice gleichzeitig den Posten eines Director for Foreign Assistance (DFA) ein, der im Außenministerium ansässig ist. Da der DFA aber gleichzeitig auch Direktor von USAID ist, wurde hierdurch die bislang wenigstens formal unabhängige US-Entwicklungshilfebehörde de facto endgültig dem Außenministerium unterstellt. Schon zuvor prägte USAID in seiner "Strategie zum Umgang mit gescheiterten Staaten" auch gleich den Begriff der "umgestaltenden Entwicklungshilfe" und eröffnete ein "Büro für Militärische Angelegenheiten", um in enger Abstimmung mit dem militärischen Arm die besetzten Länder neoliberal zuzurichten.[38] Darüber hinaus wurde eigens ein Büro für Wiederaufbau und Stabilisierung eingerichtet, das laut Rice die Aufgabe hat, "einem gescheiterten Staat dabei zu helfen, verantwortungsvolle Souveränität auszuüben."[39] Dazu gehört nach Selbstbeschreibung der von Befürwortern bereits treffend als "Kolonialbüro" titulierten Einrichtung, "Gesellschaften beim Übergang von Konflikten und Bürgerkriegen zu helfen, damit sie den nachhaltigen Weg hin zu Frieden, Demokratie und Marktwirtschaft einschlagen."[40]
Im Dezember 2005 untermauerte George W. Bush zudem mit der National Security Presidential Directive (NSDP) 44 diese Restrukturierung. Analog zur Pentagon-Richtlinie 3000.05 werden auch dort Stabilisierungsmissionen zu einer Kernaufgabe der US-Politik erhoben und Außenministerin Condoleezza Rice die Verantwortung für deren institutionsübergreifende Koordinierung überantwortet: "Der Außenminister soll die integrierten Bemühungen der US-Regierung für die Vorbereitung, Planung und Durchführung von Stabilisierungs- und Wiederaufbauaktivitäten koordinieren und leiten." Hierzu gehören insbesondere die "Â…Förderung von Frieden, Sicherheit, Entwicklung, demokratischen Praktiken, Marktwirtschaften und Rechtsstaatlichkeit. Dies zielt darauf, es ausländischen Regierungen zu ermöglichen, die Souveränität über ihr Land auszuüben und zu verhindern, dass ihr Gebiet als Operationsbasis oder sicherer Hafen für Extremisten, Terroristen, das organisierte Verbrechen oder andere Gruppen dient, die eine Gefahr für die amerikanische Außenpolitik, ihre Sicherheit oder ökonomischen Interessen darstellen."[41]
3.2 Die Transformation der westlichen Kriegsführung II: Europäische Union
Auch das Militär innerhalb der Europäischen Union respektive ihrer Einzelstaaten wird derzeit denselben Restrukturierungen unterzogen. Auf der einen Seite sollen die in kürzester Zeit einsetzbaren EU-Battlegroups dazu befähigen, militärisch eine Ausbreitung globalisierungsbedingter Armutskonflikte so rasch wie möglich wortwörtlich zu bekämpfen: "Das Battlegroups-Konzept ist die konzeptionelle und strukturelle Umsetzung des 'Out of Area'-Konzepts der EU. Es dient der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU in Krisen, die - ohne ein militärisches Engagement - drohen, sich auszuweiten oder außer Kontrolle zu geraten."[42] Auf der anderen Seite intensivieren sich aber auch analog zu den Abläufen in den USA die Bestrebungen, im großen Umfang zivil-militärische Besatzungstruppen aufzustellen. So wird in der Human Security Doctrine for Europe, einer u.a. von Mary Kaldor im Auftrag von Javier Solana verfassten Studie, für den Aufbau einer zivil-militärischen Besatzungstruppe aus 10.000 Soldaten und 5.000 Zivilisten plädiert. Während sich die Aufstellung dieser Truppe gegenwärtig noch im Diskussionsstadium befindet, wurde mit der Einrichtung einer Zivil-militärischen Zelle, die als Nukleus eines eigenständigen europäischen Hauptquartiers fungieren soll, bereits begonnen. Ein weiterer Bereich, in dem beabsichtigt wird, die Zivil-militärische Zusammenarbeit zu verstärken, ist der Katastrophenschutz. So schlug ein von Ex-EU-Kommissar Michel Barnier im Auftrag der österreichischen EU-Präsidentschaft erstellter Bericht die Gründung einer um militärische Komponenten ergänzten europaweiten Katastrophenschutztruppe (europe aid) vor, die aber u.a. auch in Bürgerkriegsszenarien zum Einsatz kommen soll.[43] Noch konkreter ist die Paramilitarisierung der EU-Außenpolitik bereits im Bereich der Polizeikräfte fortgeschritten: Anfang 2006 wurde die European Gendamerie Force in Dienst gestellt, die eine quasi-militärische Truppe darstellt, die primär zur Aufstandsbekämpfung (riot control) dienen soll (siehe den Beitrag von Claudia Haydt).
Auch die Entwicklungshilfe wird immer stärker für die Erfordernisse europäischer Kriegslogik instrumentalisiert. Verstärkt werden EU-Entwicklungshilfegelder für sicherheitsrelevante Bereiche verwendet und so der Armutsbekämpfung entzogen. Beispielsweise stammen die Gelder zur so genannten Sicherheitssektorreform im Kongo oder der logistischen Unterstützung der AMIS-Mission im Sudan teilweise aus dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds. Die dahinter stehende perfide Logik brachte der CDU-Haushaltspolitiker Ole Schröder auf den Punkt: "Missionen wie zum Beispiel in Nordafghanistan und im Kongo sind eindeutig Entwicklungshilfe", durch eine Finanzierung solcher Kriegseinsätze aus dem Entwicklungshilfe-Etat wäre der Rüstungshaushalt "in Millionenhöhe entlastet."[44] Endgültig den Vogel abgeschossen hat jedoch das einflussreiche Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), das unter Bezugnahme auf Stephen Krasners Arbeiten forderte, die Vergabe von Entwicklungshilfe künftig an die "freiwillige" Abgabe der Souveränität zu koppeln: "Wie realistisch ist es, von einem schwachen und oft korrupten Staat zu erwarten, Teile seiner Souveränität aufzugeben? Eine mögliche Lösung könnte es sein, internationale Hilfe für bestimmte Staaten von der Einsetzung einer Vereinbarung für geteilte Souveränität abhängig zu machen."[45] Immer offener wird inzwischen gefordert, die Entwicklungshilfe zur Durchsetzung staatlicher Interessen einzusetzen, wie etwa von den beiden Bundestagsabgeordneten Christian Schmidt und Christian Ruck: "In grundlegende politische Entscheidungen zu Fragen auswärtiger Politik sollten stets unsere nationalen Interessen einfließen. Dies gilt nicht nur für militärische Einsätze, sondern sollte auch auf unser entwicklungspolitisches Engagement ausgedehnt werden." Die Entwicklungshilfe solle demzufolge einen Beitrag leisten "für den Zugang zu den für unsere Wirtschaft unverzichtbaren Auslandsmärkten und Rohstoffen [...] und für die Sicherung unserer Energieversorgung."[46]
3.3 Die Transformation der westlichen Kriegsführung III: NATO
Offensichtlich richten sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Europäische Union tatsächlich sämtliche Kapazitäten auf die Rekolonialisierung der Peripherie aus, weshalb es nicht verwundert, dass die NATO denselben Kurs einschlägt. So wurde auf dem Prager Gipfel Ende 2002 die Aufstellung einer kurzfristig einsetzbaren NATO Response Force (NRF) mit inzwischen ca. 25.000 Soldaten zur weltweiten Durchführung von Präventivkriegen beschlossen und Ende 2006 für einsatzbereit erklärt. Die Ziele dieser Truppe liegen wiederum auf der Hand: "Die NRF ist der sichtbare Ausdruck der neuen Doktrin des Interventionismus der reichen westlichen Staaten gegen den Rest der Welt. Sie ist mit den Worten des NATO-Oberbefehlshabers James Jones, 'die ultimative und permanente Koalition der Willigen.'"[47]
Darüber hinaus sind auch innerhalb der NATO die Planungen zum Aufbau zivil-militärischer Besatzungstruppen in vollem Gange, die es auf Ad-hoc-Basis bereits gibt, nämlich in Form der in Afghanistan operierenden Regionale Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRTs), die inzwischen auch im Irak eingesetzt werden. Dennoch werden die Forderungen nach stehenden und umfangreicheren Besatzungskapazitäten immer lauter. Beispielsweise machte sich James Dobbins, der von Bush kurzzeitig mit dem "Wiederaufbau" Afghanistans betraut wurde, im Hausblatt der Allianz, dem NATO-Review, für den Aufbau bündniseigener "Stabilisierungs- und Wiederaufbautruppen" stark. Der vielsagende Titel lautet: "Die Rolle der NATO beim Aufbau von Staatswesen". In dieselbe Kerbe schlägt Christoph Bertram, der in derselben Zeitschrift die Allianz dazu aufforderte, "dass sie Stabilisierungsaufgaben zu ihrem Hauptauftrag erklärt."[48] Konsequenterweise verlangte dann auch der im Februar 2006 erschienene Quadrennial Defense Review Report (QDR) des Pentagon den "Aufbau von NATO-Stabilisierungs- und Wiederaufbaukapazitäten."[49] Bereits im September 2006 wurde ein Zivil-militärisches Zentrum in Budel (Niederlande) eingerichtet. Drei Monate später wurde auf dem NATO-Gipfel in Riga die Comprehensive Political Guidance (CPG) verabschiedet, ein Planungsdokument, das die Richtlinien für die auf 2009 terminierte Neufassung des Strategischen Konzeptes der NATO vorgibt. Die CPG betont die "wachsende Bedeutung von Stabilisierungsoperationen und die militärische Unterstützung von Wiederaufbaubemühungen im Anschluss an einen Konflikt." (Absatz 2,6)
Ungeachtet aller - sicherlich gravierender - innerimperialistischer Spannungen, dominiert also (derzeit noch) das gemeinsame Interesse an einer Ausbeutung des Südens. Es bestimmt sowohl die Strategie- als auch die konkrete Militärplanung auf beiden Seiten des Atlantiks. Hierfür sprechen auch Forderungen, die NATO zu einer "Allianz der Demokratien" auszubauen. So spricht sich etwa eine Studie, die unter der Leitung des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Maria Aznar entstand, dafür aus, Länder wie Australien, Israel und Japan in das Bündnis aufzunehmen. Darüber hinaus wird dort dafür plädiert, den Demokratieexport zur obersten Priorität zu erklären und hierfür ein eigenes neues strategisches NATO-Oberkommando zu schaffen, das für die Leitung zivil-militärischer Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen zuständig sein soll.[50] Obwohl sich also die erforderlichen Kapazitäten derzeit erst im Aufbau befinden, wurde mit der Rekolonialisierung der Peripherie de facto bereits massiv begonnen.
4. Koloniale Besatzungen und neoliberale Zurichtung
Immer häufiger übernehmen westliche Staaten im Anschluss an eine militärische Intervention zumeist unter dem Deckmantel eines UN-Mandates exekutive Funktionen und üben damit tendenziell oder praktisch die vollständige staatliche Souveränität in einer Krisenregion aus. Selbstredend wird im Zuge dessen das komplette neoliberale Programm durchgezogen: Verschleuderung des Staatseigentums durch umfassende Privatisierungen, Öffnung für ausländische Investoren und Handel, etc. Was sich hier abspielt sind "umgestaltende Besetzungen" ("transformational occupations"[51]), die auf die vollständige neoliberale Zurichtung der jeweiligen Kolonien hinauslaufen. Trotz aller Versuche, diese Besatzungen als völkerrechtskonform hinzustellen, sie sind es nicht: "Die Befugnis zur Änderung des institutionellen Gefüges, zur Revolutionierung der Verfassungsordnung gewährt das klassische Recht der militärischen Besetzung nicht - im Gegenteil, es schließt eine derartige Umgestaltung eigentlich bewusst aus. [...] Letzten Endes gibt keiner der klassischen Interventionstitel eine Folgebefugnis zur Transformation der staatlichen Ordnung her."[52] (siehe auch den Beitrag von Gregor Schirmer)
4.1 Pilotprojekte internationaler Ordnungspolitik I: Bosnien und Kosovo
Den Anfang nahm diese Entwicklung zu Beginn der 90er, als mit der UN-Resolution 745 der UN-Institution UNTAC zwischenzeitlich u.a. die Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolitik Kambodschas übertragen wurde. Den eigentlichen "Wendepunkt internationaler Ordnungspolitik" stellte aber das Dayton-Abkommen im Jahr 1995 dar, das u.a. die Einsetzung eines Hohen Repräsentanten mit umfangreichsten Vollmachten beinhaltete. So hat dieser Prokonsul etwa das Recht, Gesetzesakte zu erlassen und - demokratisch gewählte - Amtsträger zu entlassen, was wiederholt geschehen ist. Von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist das Land somit meilenweit entfernt: "In Bosnien übt die internationale Gemeinschaft de facto die Funktionen eines Souveräns aus."[53]
Noch weiter ging die "internationale Gemeinschaft" im Falle des Kosovo. Zwar enthielt die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 noch ein Bekenntnis zur Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens, wobei es sich aber offensichtlich um ein Lippenbekenntnis gehandelt hat. Denn dort wurde ebenfalls die Einsetzung eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs beschlossen und die Zivilverwaltung der UN-Behörde UNMIK unterstellt (der militärische Arm wird von der NATO-Truppe KFOR gestellt). Gleich mit ihrer ersten bindenden Anordnung (Regulation) 1999/1 erließ sie eine Art Selbstermächtigungsgesetz: "alle legislativen und exekutiven Autoritäten mit Blick auf den Kosovo inklusive der Justizverwaltung vereinigt sich auf die UNMIK und wird vom Hohen Repräsentanten ausgeübt." Hiermit endete die Souveränität Jugoslawiens über das Kosovo, sie wurde jedoch nicht auf die dortige Bevölkerung, sondern auf die UNMIK übertragen. In Anordnung 1999/2 wurde anschließend die vormals gültige Rechtsprechung außer Kraft gesetzt, falls sie den Besatzern gegen den Strich gehen sollte: "Die Gesetze für das Gebiet des Kosovo, die vor den 24. März 1999 datieren gelten weiter, wenn sie nicht mit [den] augenblicklichen oder künftigen Regulierungen der UNMIK" kollidieren. In Anordnung 2000/42 gönnte sich die UNMIK das Recht, Verträge mit Nachbarn abzuschließen und Niederlassungen mit Botschaftscharakter einzurichten. Anordnung 2000/47 erklärte das UNMIK- und KFOR-Personal "immun gegenüber der Rechtsprechung von Gerichten im Kosovo" sowie "immun gegenüber jeder Form von Festnahme und Haft" durch einheimische Justizorgane.[54]
Darüber hinaus wurde der Bevölkerung im Jahr 2001 eine Verfassung oktroyiert, die u.a. nochmalig bestätigt, dass der UN-Sonderbeauftragte für die Geld- und Wirtschaftspolitik zuständig ist und diese generell auf die Einführung der "freien Marktwirtschaft" abzielen müsse. In der Praxis läuft dies auf eine groß angelegte Verschleuderung vormals staatseigener Betriebe hinaus, die notfalls auch militärisch gegen den Protest der Bevölkerung bzw. der betroffenen Arbeiterschaft durchgesetzt wird. Das drastischste Beispiel hierfür war sicherlich die auf Anordnung des damaligen UNMIK-Chefs Bernard Kouchner im Jahr 2000 erfolgte Besetzung von Teilen der Trepca-Mine durch 800 KFOR-Soldaten. Sie erfolgte gegen den Widerstand der 250 Beschäftigten, die sich gegen die bevorstehende Privatisierung der auf einen Gesamtwert von fünf Milliarden Dollar taxierten Mine zur Wehr setzten. Die Enteignung staatlichen Eigentums wird über die Kosovo-Treuhand-Agentur (KTA) abgewickelt, die im Oktober 2006 die nunmehr 19! Privatisierungsrunde ausrief und lange vom deutschen Joachim Rücker geleitet wurde. Der ehemalige Sindelfinger OB wurde für seine Leistungen belohnt, indem man ihn Ende 2006 zum Leiter der UNMIK beförderte. Rücker trat als rücksichtsloser Privatisierer in Erscheinung, der u.a. im Jahr 2005 den Industriegiganten Ferronikel an die Firma Alferon, an der u.a. Thyssen-Krupp beteiligt ist, zu einem Spottpreis gegen den Widerstand der Belegschaft verschleuderte.[55]
Wenn Rücker selbstzufrieden angibt, er habe die Grundlagen "für eine funktionierende Marktwirtschaft geschaffen"[56], ist das der blanke Hohn. Nach einer Studie der Weltbank leben 50% der Menschen im Kosovo in Armut, sowie 11% in extremer Armut mit weniger als einem Dollar pro Tag, die Arbeitslosenrate bewegt sich zwischen 49 und 57 Prozent. Obwohl also die Realität die katastrophalen Ergebnisse der neoliberalen Orthodoxie mehr als eindeutig belegt, sprach sich die Weltbank dennoch für eine - intensivierte - Fortführung des Privatisierungsprozesses aus, dem gegenüber sozialer Grundsicherung Priorität eingeräumt werden müsse, weshalb auch der Widerstand selbst derjenigen zunimmt, die ursprünglich für die Intervention der Westmächte plädiert hatten.[57] Dass der Kosovo de facto zu einer westlichen Kolonie geworden ist, wird teilweise unumwunden zugegeben, bspws. in einem von der FDP-Fraktion im März 2004 eingebrachten Bundestags-Antrag, der seinerzeit auch von der CDU/CSU unterstützt wurde. Er plädierte "für einen Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet. Dabei übernimmt die Europäische Union die Kompetenzen für Außenvertretung und Verteidigung, während die Kosovaren mittelfristig schrittweise die Verantwortung für die gesamte innere Verwaltung übernehmen. Die Souveränität des Kosovo geht damit auf die EU über."[58]
4.2 Pilotprojekte internationaler Ordnungspolitik II: Irak und Afghanistan
Wer sich trotz der Entwicklungen auf dem Balkan noch Illusionen über den altruistischen Charakter der westlichen Kolonien hingegeben hatte, sollte diese Sichtweise spätestens angesichts der Besatzungswirklichkeit in Afghanistan und im Irak aufgegeben haben. Bei den Betroffenen jedenfalls ist die Ernüchterung schon längst der Wut und zunehmend auch dem Hass auf diese ausbeuterische Politik gewichen. "Destroy and Profit", benennt Focus on the Global South die Strategie der US-Regierung im Irak: "Invasion. Dies war der erste Schritt für das, was seither zu dem ambitioniertesten, radikalsten und gewalttätigsten Projekt in der jüngsten Geschichte geworden ist, eine Ökonomie entlang neoliberaler Linien wiederaufzubauen. Seit der Invasion im Jahr 2003 haben die Vereinigten Staaten versucht nahezu sämtliche Sektoren der irakischen Wirtschaft für ausländische Investoren zu öffnen; das Land für den internationalen Handel aufzubrechen; ein massives Privatisierungsprogramm zum Verkauf von über 150 staatseigenen Betriebe zu starten; den Finanzmarkt zu liberalisieren; [...] und die Grundlagen für die endgültige Privatisierung des irakischen Öls zu legen."[59]
Nicht viel besser sieht es in Afghanistan aus, wo unter tatkräftiger deutscher Mithilfe fast derselbe Prozess abläuft (siehe auch den Beitrag von Martin Hantke). Auch das Land am Hindukusch ist de facto eine westliche Kolonie geworden, wie der afghanische Politikwissenschaftler Matin Baraki eindrucksvoll beschreibt: "Unter dem formalen Dach der UNO wurde das Land seit Petersberg zu einem Protektorat der 'internationalen Gemeinschaft' degradiert. Seit Beginn der neunziger Jahre wird das 'liberale Protektorat' und die 'Treuhandschaft' als eine Chance zu 'nation building' und zur Demokratisierung von außen propagiert. Die 'failing states' sollen für geraume Zeit unter internationale Verwaltung gestellt werden, und es wird einem 'neuen Interventionismus' der westlichen Mächte mit 'robustem' militärischem Mandat das Wort geredet. Die Vertreter dieser 'Theorie' sind die Emeriti, Ulrich Menzel und Franz Nuscheler. In Afghanistan wurde sie umgesetzt mit dem bekannten Ergebnis. [...] Als NATO-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft."[60]
5. Neoliberaler Kolonialismus und globaler Kriegszustand
Der unter dem Deckmantel des "Stabilitätsexports" betriebene Neoliberale Kolonialismus ist eine moralische wie auch sicherheitspolitische Bankrotterklärung. Er verschärft bestehende Armutskonflikte, führt zu immer gewalttätigeren Auseinandersetzungen und Aufstandsbewegungen und fördert nicht zuletzt den Terrorismus. Anstatt aber umzusteuern, haben sich die westlichen Staaten dazu entschlossen, den globalen Kriegszustand auszurufen.
5.1 Verschärfung von Armutskonflikten und Fehlallokation von Ressourcen
Wer Hunderte von Milliarden in die Rüstung pumpt, um "Sicherheit" und "Staatlichkeit" herbeizubomben, nur um Länder anschließend so lange unter die Schirmherrschaft westlicher Protektorate zu stellen, bis sie neoliberalen Spielregeln gehorchen, perpetuiert damit lediglich den Teufelskreis aus Armut und Gewalt. Exakt dies ist aber die traurige Praxis, die sich hinter dem beschönigenden Begriff des "Stabilitätsexports" verbirgt.
Hierdurch wird gleichzeitig systematisch die Sicht auf die primäre Ursache so genannter Globalisierungskonflikte verstellt, die sozioökonomische Desintegration als Folge neoliberaler Politik. Dennoch zeigen weder die USA noch Europa auch nur die leiseste Bereitschaft, die neoliberalen Spielregeln der Globalisierung - inklusive der Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industriestaaten - zu ändern und verweigern damit bewusst einem Großteil der Weltbevölkerung ein menschenwürdiges Leben. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass zunehmend militärische Mittel benötigt werden, um die Folgen dieser Entscheidung in Form eskalierender Konflikte zu bekämpfen: "Die Mächte der kapitalistischen Ordnung versuchen die Unordnung, die in der Reproduktionsstruktur des globalen Systems vor allem durch die Ökonomie erzeugt und durch den Markt externalisiert wird, unter Einsatz politischer und militärischer Macht zu beseitigen."[61] Der wahre moralisch-sicherheitspolitische Imperativ unserer Zeit besteht somit in der Abkehr vom neoliberalen Projekt und einer umfassenden Abrüstung. Die so gesparten Ressourcen könnten in eine effektive Armutsbekämpfung umgeleitet und so ein wirklicher Beitrag zur Vorbeugung und Beilegung von Konflikten geleistet werden. Da genau das Gegenteil geschieht, begibt sich der Westen immer mehr auf Kollisionskurs mit dem Rest der Welt.
5.2 Globaler Widerstand - Globale Aufstandsbekämpfung
"Das naive, rein technokratische Überstülpen westlicher 'Blaupausen' von Rechtsstaat und Demokratie wird in den meisten dieser Gesellschaften zu erheblichen Verwerfungen und Abstoßungsreaktionen führen und letztlich zum Scheitern verurteilt sein."[62] Dies trifft umso mehr zu, wenn diese Besatzungen derart offensichtlich als Lizenz zum Plündern benutzt werden, wie es gegenwärtig der Fall ist, wie eine Studie des Carnegie Endowment for International Peace belegt: "Eine breit gestützte Akzeptanz des Nation Building von Ausländern ist nicht mehr aufrecht zu erhalten, wenn die lokale Bevölkerung den Eindruck gewinnt, dass die Besatzungsmacht nur die eigenen Interessen fördert."[63] In der Tat wird mehr und mehr Menschen in der Dritten Welt bewusst, dass sie es mit Okkupanten, nicht mit Wohltätern zu tun haben, weshalb sie die Besatzer lieber heute als morgen aus ihrem Land jagen wollen. Dabei steigt auch der Anteil derjenigen, die bereit sind, sich gewaltsam gegen den zunehmend als ausbeuterisch wahrgenommenen Westen zur Wehr zu setzen, wie sich exemplarisch im Irak, aber auch in Afghanistans zeigt.
Die westlichen Staaten haben sich offensichtlich dazu entschlossen, das neoliberale System mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Da es sich hierbei um eine langfristige Konfrontation handelt, wurde der "Krieg gegen den Terror" nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich entgrenzt ("long war"). Gleichzeitig rückt die Aufstandbekämpfung im Rahmen der kolonialen Besatzungsregime ins Zentrum der Militärplanung. Nichts symbolisiert dies besser, als die Anfang 2007 verkündete Auswechslung des für den Irak zuständigen Generals George Casey durch Generalleutnant David Petraeus. Er ist der Verfasser des US-Handbuchs zur Aufstandsbekämpfung (Field Manual 3-24), das die "Geschichte von Aufständen gegen große Armeen untersucht, Erhebungen in früheren Kolonien der Europäer etwa, Vietnam, der Balkan, schließlich Irak."[64] Die Schlussfolgerung aus dieser Untersuchung liegt voll im Trend: "Detailliert wird im Handbuch das Zusammenspiel von militärischen, politischen und sozialen Eingriffen untersucht. Dabei müsse es Ziel der Militärs sein, mit Polizeikräften, Uno-Organisationen, staatlichen Hilfsorganisationen, privaten Unternehmen, aber auch nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) zusammenzuarbeiten. Alle Anstrengungen sollen dem Ziel der Aufstandsbekämpfung dienen."[65]
5.3 Rekrutierungshilfe für Terrororganisationen
Zynischerweise sind es gerade die im Namen des "Stabilitätsexports" errichteten Besatzungsregime, die Wasser auf die Mühlen des Terrorismus sind, wie von Robert Pape, einem der bekanntesten US-Politikwissenschaftler, bestätigt wird. Er fand in einer breit angelegten Studie heraus, dass praktisch sämtliche Selbstmordattentate "nicht einfach ein Ergebnis irrationaler Individuen oder fanatischen Hasses sind. Das vorrangige Ziel von Selbstmordattentaten ist es, [...] die Demokratien dazu zu zwingen, ihre Truppen aus dem Land, das die Terroristen als ihre Heimat betrachten, abzuziehen."[66] Ebenso nahe liegend ist die Überlegung, dass Terroranschläge sich nicht nur gegen die Truppen vor Ort, sondern auch gegen die Bevölkerung der Besatzatzungsstaaten richten werden, wie indirekt auch von BND-Chef Ernst Uhrlau bestätigt wird: "Deutschland rückte und rückt aufgrund seines markanten außen- und sicherheitspolitischen Profils verstärkt ins Zielspektrum terroristischer Anschläge."[67]
5.4 Wie der Neoliberale Kolonialismus den Krieg nach Hause bring
Gerade diese steigende Terrorgefahr wird wiederum zum Abbau von Bürgerrechten im Westen und selbst für den Einsatz des Militärs im Inland instrumentalisiert (siehe den Beitrag von Ulla Jelpke). Der "Krieg gegen den Terror" ist nichts anderes, als die militärische Offensive des Neoliberalismus, Widerstand gegen die herrschende Ordnung, egal in welcher Form, wird mit Terrorismus gleichgesetzt und immer repressiver unterdrückt. Am 6. Dezember 2001 beschlossen die EU-Justizminister eine Rahmenerklärung, in der es heißt, Terrorismus beinhalte auch Aktivitäten, die in der Absicht erfolgen, "öffentliche Körperschaften oder eine internationale Organisation unangemessenem Zwang auszusetzen, damit sie bestimmte Handlungen unternehmen oder unterlassen."[68]
Als es Ende 2003 in Florida zu Protesten gegen die gesamtamerikanische Freihandelszone kam, die von der Bush-Administration allen Ernstes als wichtige Maßnahme zur Terrorbekämpfung gefeiert wurde, wurde der globalisierungskritische Widerstand mit einem massiven Polizeiaufgebot wortwörtlich bekämpft. Der viel sagende Clou: Die Kosten für den damaligen Polizeieinsatz in Höhe von $8.5 Mio. wurden aus dem Topf für den "Kampf gegen den Terror" bezahlt.
Anmerkungen
[1] Lacouture, Jean: "Neige nicht länger dein Haupt, mein Bruder", Le Monde diplomatique 4/2005.
[2] Ross, Jan: Der neue Imperialismus, Die Zeit, 36/2003.
[3] Ansprenger, Franz: Entkolonialisierung, in: Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch Internationale Politik, Bonn 82000, S. 63-68, S. 68.
[4] Unger, Frank: Freihandels-Imperialismus, in: Blätter 10/2004, S. 1186-1196.
[5] Vgl. bspws. Bergesen, Albert/Schoenberg, Ronald: Long Waves of Colonial Expansion and Contraction, 1415 - 1969, in: Bergesen, Albert (ed.): Studies of the Modern World System, New York u.a., 1980, S. 231-277, S. 239.
[6] Münkler, Herfried: Imperien, Bonn 2005, S. 241.
[7] Collier, Paul: Breaking the conflict trap (World Bank Policy Research Report), 2003, S. 53.
[8] Croissant, Aurel/Hartmann, Hauke: Der Kampf der Kulturen findet nicht statt, Frankfurter Rundschau, 21.11. 2006; vgl. auch Bertelsmann Stiftung (Hg.): Political Violence, Extremism and Transformation, Gütersloh 2006.
[9] O'Hanlon, Michael/Singer, Peter: The Humanitarian Transformation, in: Survival, Vol. 46, Issue 1, (Spring 2004), S. 77f.
[10] Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München ²1997, S. 20.
[11] Für eine ausführliche Beschreibung und Kritik der Neuen Kriege vgl. Wagner, Jürgen: Intellektuelle Brandstifter: "Neue Kriege" als Wegbereiter des Euro-Imperialismus, in: Wissenschaft und Frieden 3/2006.
[12] Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 135, 221.
[13] Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege: organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000, S. 211.
[14] Beck, Ulrich: Über den postnationalen Krieg, in: Blätter 8/1999, S. 984-990, S. 987.
[15] Fukuyama, Francis: Staaten Bauen: Die neue Herausforderung der Internationalen Politik, Berlin 2006, S. 138.
[16] Münkler 2002, S. 227.
[17] Fukuyama 2006, S. 139.
[18] Zum Konzept von Thomas Barnett siehe ausführlich Wagner, Jürgen: Neoliberale Geopolitik, in: Tobias Pflüger/Jürgen Wagner (Hrsg.): Welt-Macht EUropa, Hamburg 2006, S. S. 56-80.
[19] Defense Science Board 2004 Summer Study on Transition To and From Hostilities, Supporting Papers, January 2005, S. 83. Vgl. auch Commission on Post Conflict Reconstruction, Playing to Win, Center for Strategic and International Studies/Association of the U.S. Army Report, January 2003; Center for Global Development, States on the Brink: the Commission on Weak States and National Security, Summer 2004; und ausführlich Logan, Justin/Preble, Christopher: Failed States and Flawed Logic, CATO Policy Analysis No. 560, January 11, 2006.
[20] Council on Foreign Relations, A New National Security Strategy in an Age of Terrorists, Tyrants, and Weapons of Mass Destruction, New York 2003, S. 6.
[21] National Security Strategy of the United States, March 2006, S. 3.
[22] Ebd., S. 27, 32.
[23] Cooper, Robert: The Post-Modern State, in: Leonard, Mark (ed.): Re-Ordering the World, London 2002, S. 11-20. Vgl. zu Robert Cooper ausführlich Wagner 2006.
[24] Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, S. 16f.
[25] Boot, Max: The Case for American Empire, The Weekly Standard, 15.10.2001.
[26] Fukuyama 2006, S. 147.
[27] Krasner, Stephen D.: Alternativen zur Souveränität, in: Internationale Politik (September 2005), S. 44-53, S. 44-46.
[28] Fearon, James D./Laitin, David D.: Neotrusteeship and the Problem of Weak States, in: International Security, Vol. 28, No. 4 (Spring 2004), S. 5-43, S. 7.
[29] Menzel, Ulrich: Wenn die Staaten verschwinden, taz, 30.8.2003.
[30] Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege: organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000, S. 211.
[31] Bain, William: The Political Theory of Trusteeship and the Twilight of International Equality, in: International Relations, Vol 17, No. 1 (2003), S. 59-77, S. 74.
[32] Zit. nach Barone, Michael: Thomas BarnettÂ’s Blueprint for Action, USNEWS, 15.11.2005.
[33] Boot, Max: The Struggle to Transform the Military, in: Foreign Affairs, March/April 2005, S. 103-118.
[34] Defense Science Board 2004 Summer Study on Transition To and From Hostilities, December 2004, S. vi; Vgl. auch Council on Foreign Relations, In the Wake of War: Improving US Post-Conflict Capabilities, Independent Task Force Report 55, July 2005; Hans Binnendijk/Stuart Johnson (eds.), Transforming for Stabilization and Reconstruction Operations, National Defense University Center for Technology and National Security Policy, April 2004; Brent Scowcroft/Samuel R. Berger: In the Wake of War Getting Serious about Nation-Building, in: The National Interest, No. 81, Fall 2005, S. 49-53.
[35] Department of Defense: Military Support for Stability, Security, Transition, and Reconstruction (SSTR) Operations, DIRECTIVE NUMBER 3000.05, November 28, 2005, S. 2.
[36] Vgl. Kaplan, Fred: Do As I Say, Not As I Do, Slate, 02.12.05; Boot 2005.
[37] Barnett, Thomas: The new DOD SysAdmin directive, URL: http://www.thomas pmbarnett.com/weblog/archives2/002754.html (eingesehen 10.4.06).
[38] USAID: Fragile States Strategy, January 2005 PD-ACA-999; Bullock, Todd: USAID Announces New Office of Military Affairs, Washington File, 24.10.2005.
[39] Rice, Condoleezza: Transformational Diplomacy, Washington, DC, January 18, 2006.
[40] Department of State: About S/CRS, URL: http: //www.state.gov/s/crs/c12936.htm (eingesehen 10.4.2006); Ignatius, David: The colossus ponders a Colonial Office, Daily Star, May 19, 2005.
[41] The White House, National Security Presidential Directive/NSDP-44, S. 1f.
[42] Kempin, Ronja: Frankreich und die EU-Battlegroups, Stiftung Wissenschaft und Politik, Diskussionspapier, Stand 17.5.2004.
[43] Barnier, Michel: Für eine europäische Katastrophenschutztruppe: europe aid, Mai 2006.
[44] CDU will Bundeswehr aus Entwicklungshilfe-Etat bezahlen, Spiegel-Online, 08. 09.2006.
[45] Klotzle, Kurt: International Strategies in Fragile States: Expanding the Toolbox?, CAP Policy-Analysis, No. 1 (March 2006), S. 14.
[46] Gemeinsames Thesenpapier von Christian Schmidt und Christian Ruck: Vertrauen - Zukunft - Sicherheit. Für eine strategische Orientierung und bessere Verzahnung der deutschen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, 08.02.2005.
[47] Haydt, Claudia: NATO Response Force - Die ultimative Koalition der Willigen, in: AUSDRUCK - Das IMI-Magazin (Februar 2004), S. 21.
[48] Dobbins, James: Die Rolle der NATO beim Aufbau von Staatswesen, in: NATO Review (Sommer 2005); Bertram, Christoph: Abschied vom Krieg, in: NATO Review (Frühjahr 2006); vgl. auch Binnendijk, Hans/Kugler, Richard: Needed - A NATO Stabilization and Reconstruction Force, Defense Horizons No. 45 (September 2004).
[49] QDR 2006, February 6, 2006, S. 83.
[50] NATO: An Alliance for Freedom, FAES 2005; vgl. auch Biscop, Sven: NATO, ESDP and The Riga Summit, Egmont Papers 11, May 2006.
[51] Vgl. Scheffer, David J.: Beyond Occupational Law, The American Journall of International Law, Vol. 97, No. 4 (October 2003), pp. 842-860.
[52] Oeter, Stefan: Post-Conflict Peacebuilding, in: Friedenswarte, Nr. 1-2/2005, S. 41-60, S. 43, 45.
[53] Michael Ehrke: Bosnien: Zur politischen Ökonomie erzwungenen Friedens, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, o.J., S. 3.
[54] Zimmermann, Andreas/Stahn, Carsten: Yugoslav Territory, United Nations Trusteeship or Sovereign State?, in: Nordic Journal of International Law, No. 70 (2001), S. 423-460.
[55] Brym, Max: Joachim Rücker Chef in Kosova/o, Linkezeitung.de, 31.01.2007.
[56] "Reif für die nächste Stufe", Deutschlandradio, 11.01.2007.
[57] Pugh, Michael: The political economy of peacebuilding: a critical theory perspective , in: International Journal of Peace Studies, vol. 10, no. 2 (autumn/winter 2005), S. 23-42; ders.: Crime and Capitalism in KosovoÂ’s Transformation, Paper presented at ISA Conference, Hawaii, March 2005.
[58] Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet, Bundestag-Drucksache 15/2860. Hervorhebung JW.
[59] Docena, Herbert: "Shock and Awe" Therapy, in: Focus on the Global South: Destroy and Profit, January 2006, S. 7-26, S. 8.
[60] Baraki, Matin: Zerfallendes Protektorat, Junge Welt, 11.11.2006.
[61] Mahnkopf 2004, S. 52.
[62] Stefan Oeter, Post-Conflict Peacebuilding - Völkerrechtliche Aspekte der Friedenskonsolidierung in Nachkriegsgesellschaften, in: Friedenswarte, Jg. 70, Nr. 1-2/2005, S. 41-60, S. 42.
[63] Pei, Minxin/Kasper, Sara: Lessons from the Past: The American Record on Nation Building, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Brief 24/May 2003.
[64] Heine, Roland: Irak: Krieg mit menschlichem Antlitz, Berliner Zeitung, 17.01.2007.
[65] Stern, Daniel: US-Militär: Bewaffnete Sozialarbeit, WoZ, 17.7.2006.
[66] Robert Pape, The Strategic Logic of Suicide Terrorism, American Political Science Review, Vol. 97, No. 3 (August 2003), S. 343-361, S. 345.
[67] "Trügerische Ruhe", FAZ.net, 20.11.2006.
[68] Paye, Jean-Claude: Ausnahmezustand in Permanenz, in: Blätter 9/2006, 1089-1096, S. 1093.