So wird "Das Erste" überflüssig

Dummheit ist für Dumme höchst unterhaltsam. Nicht nur die meisten Politiker, auch die TV-Programmdirektoren haben offenbar wenig Mühe, diese deprimierende Tatsache zu

akzeptieren und ihre Konsequenzen daraus zu ziehen.
Im Sommer vorigen Jahres beschloß die ARD-Programmkonferenz eine Änderung des Sendeschemas im Ersten Deutschen Fernsehen. Die Programm-Verantwortlichen der Sender WDR, SWR, NDR, BR, HR, SR, RBB, MDR, Radio Bremen und Deutsche Welle, präsidiert von ARD-Programmchef Günter Struwe, wollten dem Nachrichtenmagazin Tagesthemen (TT) "größeres Gewicht verleihen". Deshalb, beschlossen sie, solle diese (neben der Tagesschau) zweite Hauptnachrichtensendung um eine Viertelstunde vorverlegt werden, von 22.30 Uhr auf 22.15 Uhr.

Kleiner Eingriff, große Wirkung. Die vor TT platzierten politischen Magazine Monitor, Kontraste, Report (München und Mainz), Fakt und Panorama sollten je ein Drittel weniger Sendezeit bekommen, nur noch 30 statt der bisherigen 45 Minuten. Der Plan löste bei vielen Beobachtern Zweifel an seiner Zweckmäßigkeit aus wie auch an den Motiven seiner Initiatoren: Ging es nicht in Wirklichkeit darum, die kritischen Magazine Monitor und Kontraste zu kappen? Selbst wenn dabei Panorama, Fakt und Report (München) gleichfalls Sendezeit verloren, Magazine also, die eher Sprachrohr neokonservativer, marktradikaler Kräfte sind und oft gewerkschaftsfeindlich tönen?

Der Beschluß der ARD-Programmkonferenz wurde zum 1. Januar 2006 umgesetzt. Mehr als ein halbes Jahr danach ist zu fragen, ob die ARD ihr - vorgebliches oder tatsächliches - Ziel erreicht hat, das Gewicht der Tagesthemen merklich zu erhöhen. Lohnte sich der Schnitt ins Programmschema? Oder überwogen die Reichweitenverluste der politischen Magazine? Ich bat die ARD-Programm-direktion um Material für einen Halbjahresvergleich zwischen 2005 (altes Programmschema, TT um 22.30 Uhr) und 2006 (neues Schema, TT um 22.15 Uhr).
Nach einigen Einwänden (die Fußball-Weltmeisterschaft im Juni 2006 hatte Einfluß aufs Zuschauerverhalten) überließ mir die Abteilung Medienforschung der ARD-Programmdirektion statistische Daten aus den Zeiträumen jeweils vom 1. Januar bis 9. Juni (danach begann 2006 die Fußball-WM). Das Zahlenwerk war verpackt in die Behauptung, die ARD-Kalkulation habe sich bestätigt: "Im Jahr 2005 ... wurden die Tagesthemen durchschnittlich von 2,28 Millionen Zuschauern eingeschaltet, in diesem Jahr waren es 2,46 Millionen, also je Ausgabe ca. 180.000 Zuschauer mehr. Der Marktanteil blieb annähernd identisch, genaugenommen reduzierte er sich leicht von 10,9 Prozent (2005) auf 10,8 Prozent ..."

Mit dem Wort "Markt" wird die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit vor der Wunderlampe versammelten Zuschauer bezeichnet, mit "Marktanteil" ein Prozentsatz davon. Um 22.15 Uhr ist das TV-Publikum etwas zahlreicher als um 22.30 Uhr, aber der TT-Anteil daran ist geringer geworden. Die Tagesthemen haben also nicht, wie angeblich gewünscht, an Gewicht gewonnen.

Die Medienforscher der ARD ließen sich dafür eine merkwürdige Erklärung einfallen: "... (Es) sollte berücksichtigt werden, daß sich im ersten Halbjahr die Zuschauerzahlen aller wichtigen Nachrichtensendungen (eine Ausnahme: Sat.1 News) gegenüber dem Vorjahr verringerten, und auch das Nachrichtenmagazin des ZDF, das heute journal, fand ein geringeres Publikum als noch vor Jahresfrist. ... offensichtlich war zumindest in den ersten Monaten des Jahres die ›Nachrichtenkonjunktur‹ etwas gebremst ..."

Gebremste Nachrichtenkonjunktur. Nur keine Aufregung, dem heute journal des ZDF erging es ja ebenso schlecht. Solche Rabulistik macht den Hinweis auf die Wechselwirkung zwischen Qualität und Zuschauerbeteiligung beinahe überflüssig. Und lädt dazu ein, das restliche Antwortschreiben zu zitieren:
"... Die Verlagerung der Tagesthemen hatte natürlich auch Auswirkungen auf den vorhergehenden Programmablauf ... Für die Magazine am Donnerstag war dies (die Kürzung der Sendezeit um ein Drittel; V.B.) die einzige Veränderung. Die politischen Magazine am Montag wechselten auch ihren Sendeplatz und beginnen nunmehr (analog zum Donnerstag) um 21:45 Uhr. Dies hatte Auswirkungen auf die Zuschauerakzeptanz, die jedoch nicht linear beurteilt werden kann, weil es - je nach Titel - einige Unterschiede zu konstatieren gilt. Nachfolgend ... die Zuschauerzahlen der Magazine am Montag und am Donnerstag jeweils im Vergleich zum Vorjahreszeitraum." Und hier das Ergebnis des Vergleichs:
Fakt: 0,34 Millionen Zuschauer weniger., 0,3 Prozent Marktanteil mehr; Report (München): +0,06 Millionen Zuschauer, +1.2 Prozent Marktanteil; Report (Mainz): -0,51 Millionen Zuschauer, -0,2 Prozent Marktanteil; Panorama: -0,34 Millionen Zuschauer, -2,0 Prozent Marktanteil; Monitor: -0,2 Millionen Zuschauer, -1,6 Prozent Marktanteil; Kontraste: +0,07 Millionen Zuschauer, -0,01 Prozent Marktanteil. Strich drunter: Die politischen Magazine haben im Vergleichszeitraum fast eine Million Zuschauer und mehr als zwei Prozent Marktanteil verloren. Die Änderung des Programmschemas war sowohl hinsichtlich TT als auch hinsichtlich der Magazine ein Flop.

Vor einem Vierteljahrhundert waren die Tagesthemen dank des damaligen Chefredakteurs Dieter Gütt und des Moderatorengespanns Barbara Dickmann / Hanns-Joachim Friedrichs eine journalistisch anspruchsvolle Sendung. Sie diente dem Zuschauer. Für Monitor, mit Abstrichen auch für die übrigen Magazine, gilt das heute noch. Zumindest gelegentlich liefern sie wichtige Beiträge zur politischen Willensbildung. Ein Drittel weniger Sendezeit für sie, das ist ein herber Verlust an Programmqualität. Die ARD hätte ihn nur mit erheblich verbesserten TT-Nachrichten ausgleichen können, beließ es jedoch bei Anne Wills und Ulrich Wickerts Readers-Digest-Geschwätz. Das kommt nun bloß allabendlich 15 Minuten früher als ehedem. Dass der Wechsel von Wickert zu Thomas Buhrow einen Qualitätssprung bringt, darf bezweifelt werden.

Die ARD-Programmkonferenz hat das Erste Deutsche Fernsehen dem Kommerz-TV immer ähnlicher gemacht. Nichts wurde damit gewonnen, viel verspielt. Vorschlag: Zurück zum Bewährten - damit "Das Erste" nicht allmählich überflüssig wird.
Volker Bräutigam war viele Jahre Tagesschau-Redakteur in Hamburg