Soziale Demokraten ohne Gesellschaft

Anmerkung zur SPD-Programmdebatte

Programmdebatten in der SPD laufen häufig Gefahr, in idealistischer Manier sozialdemokratische Grundwerte zu beschwören.

Programmdebatten in der SPD laufen häufig Gefahr, in idealistischer Manier sozialdemokratische Grundwerte zu beschwören und daraus abgeleitet in leuchtenden Farben eine Welt zu zeichnen, wie sie sein sollte - der Weg dahin bleibt dann allerdings unklar. Der Ansatz des Papiers "Kraft der Erneue-rung. Soziale Gerechtigkeit für das 21. Jahrhundert" scheint ein anderer zu sein: Als Begründung, wa-rum die Partei SPD ein neues Grundsatzprogramm benötigt, wird die handlungsleitende Funktion ei-nes Grundsatzprogrammes genannt: "Die Orientierungen des Berliner Programms reichen als Kom-pass für unsere Praxis nicht mehr aus."
Die neue Arbeitsgesellschaft
Ein Kompass funktioniert aber nur, wenn er einen eindeutigen Bezugspunkt hat; vor allem an den Pas-sagen zur Arbeitsgesellschaft wird jedoch deutlich, woran die Leitsätze zur Programmdebatte leiden: Ihnen fehlen diese Bezugspunkte, so dass sie auch keine Position beziehen können. So können die Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit nicht verstanden werden, wenn die Existenz unterschiedlicher ökonomischer Interessen geleugnet wird. Man kann es auf eine knappe Formel bringen: In den Leitsätzen fehlt ein Verständnis von Gesellschaft. Es lohnt der Vergleich mit Passagen des ent-sprechenden Kapitels ("Die Zukunft der Arbeit und der freien Zeit") aus dem Berliner Programm, das zu den besten im noch gültigen Grundsatzprogramm gehört: "Wieviel Arbeit zu leisten ist, wie sie or-ganisiert, gestaltet und verteilt wird, ist abhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte, von gesell-schaftlichen Machtverhältnissen und kulturellen Traditionen." Wenn die Zentralität der Erwerbsarbeit positiv bestimmt und zum Ausgangspunkt des politischen Gestaltungswillen gemacht wird, so lassen sich hieraus nicht nur normative Erwartungen an eine humane Erwerbsarbeit ableiten, sondern auch qualitative Anforderungen an die Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Ansätze hier-zu finden sich in den Leitsätzen, doch bleiben sie unzureichend.
Blutleer bleiben die Leitsätze auch, wenn es darum geht, die bundesrepublikanische Gesellschaft zu beschreiben: Eine Sozialstruktur, die die gesellschaftlichen Teilhabechancen bestimmt oder zumindest beeinflußt, scheint es nicht zu geben; dass bei aller Ausdifferenzierung weiterhin soziale Milieus vor-handen sind, die nicht nur einen ähnlichen sozio-ökonomischen Status aufweisen, sondern auch ge-meinsame gesellschaftspolitische Orientierungen und Werthaltungen, ist keiner Erwähnung wert. Ein-zig die für die SPD zentrale Frage der späten 90er Jahre, nämlich die nach der Rolle der sogenannten "neuen Mitte", also der aufstiegsorientierten ‚Leistungsträger‘, wird kurz angerissen,
Nur bei der Frage der Bildungschancen wird anerkannt, dass hier die soziale oder ethnische Herkunft oder das Geschlecht ein Rolle spielen - aber natürlich eigentlich nicht dürfen sollen. Gesellschaftliche Integration oder Ausgrenzung wird nur im Zusammenhang mit Einwanderung diskutiert: "Ausschluss" oder "Selbst-Ausschluss" seien "ethnisch-kulturell" bestimmt. Im Kern wird damit eine moralische For-derung an die einzelnen Individuen gerichtet, doch eine gemeinsame Kultur mit gemeinsamen Wer-ten zu entwickeln - warum dies aber bislang nicht gelungen ist und was die SPD dazu beitragen könn-te, dass dies zukünftig besser gelingt, ist doch die spannende Frage.
Die Sozialdemokratie hat ihr politisches Subjekt verloren
Die Abstrahierung von gesellschaftlichen Gruppen in den Leitsätzen zur Programmdebatte ist dabei kein Versäumnis, wie sich in dem abschließenden Kapitel, in dem das Politikverständnis definiert wird, zeigt: Sowohl in der Analyse als auch in der Formulierung von politischen Positionen wird vermieden, die - positive oder negative - Betroffenheit einzelner gesellschaftlicher Gruppen zu erwähnen.
Der Verzicht auf eine genaue Beschreibung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bringt es mit sich, dass auch keine Akteure identifiziert werden, die es für die Unterstützung der als richtig angesehenen Politik zu gewinnen gilt - sieht man einmal von der "steuerzahlenden Mitte" (sic!) ab. Diese vermeint-lich positive Offenheit bei anstehenden Entscheidungen hat natürlich auch eine negative Kehrseite: Keine gesellschaftliche Gruppe wird sich der SPD in besonderem Maße verbunden fühlen.
Mehr oder weniger deutlich ausgesprochen steht die Positionsbildung zum Sozialstaat im Mittelpunkt der Programmdebatte. Auch hier rächt es sich, dass dieses Politikfeld isoliert betrachtet wird: Die ge-forderte vorsorgende Ausrichtung des Sozialstaates gelingt in den Leitsätzen nicht, weil der Sozial-staat auf ‚Sozialpolitik‘ reduziert wird, also auf soziale Dienstleistungen und Transferzahlungen. Der Sozialstaat basiert aber auf einem komplizierten Wechselverhältnis von unterschiedlichen gesell-schaftlichen Teilbereichen und Akteuren. Der Sozialstaat war erfolgreich, wenn er die intelligente Form einer regulierten Marktwirtschaft darstellte - und damit war Sozialpolitik nicht zu trennen von Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Tatsache gilt angesichts veränderter ökonomischer Rahmenbe-dingungen und nationaler Kompetenzen erst Recht: Der zukünftige "vorsorgende Sozialstaat" kann nur erfolgreich sein, wenn er die skizzierten Ansätze einer modernisierten Sozialpolitik in den Kontext eines neuen Leitbilds der ökonomischen Entwicklung stellt - hierzu finden sich in den Leitsätzen al-lerdings keinerlei Aussagen. Im Kern reduziert sich der "vorsorgende Sozialstaat" damit darauf, dass die Menschen durch ein erhöhtes Bildungsniveau dazu befähigt werden sollen, die sich verändernden Anforderungen im Erwerbsleben zu bewältigen: Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass das Ge-lingen der "innovativen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft" individualisiert wird - und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt des Gesellschaftsverständnisses in den Leitsätzen angelangt.
aus: spw 149 (Mai/Juni 2006)