Byzantinische Politspiele

in (23.06.2006)

Im Unterschied zu Jelzin, der die politischen Spieler ziemlich oft zu wechseln pflegte, unterhält uns sein Nachfolger Putin äußerst selten mit spektakulären Rücktritten in seinem Apparat. Unser

jetziges Staatsoberhaupt ist vorsichtig. Eben deswegen wirkte die Suspendierung des Generalstaatsanwalts Wladimir Ustinow wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel.

Morgens um zehn Uhr kommt der Föderationsrat zu seiner Routinesitzung zusammen. Zur Überraschung der anwesenden Parlamentarier erklärt der Vorsitzende, Ustinow habe am Abend zuvor dem Präsidenten seine Rücktrittserklärung überreicht; nun möge die Kammer dazu ihren Segen geben. Nur ein einziger Abgeordneter fragt nach den Gründen.

Das Desinteresse der großen Mehrheit ist um so erstaunlicher, als der Föderationsrat erst einen Monat vorher einstimmig bei einer Stimmenthaltung Ustinow für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt hat. Die Antwort, die der Neugierige erhält, ist eine Zurechtweisung: Das Rücktrittsgesuch liege im Büro des Kammervorsitzenden, jeder könne das Papier dort zu lesen bekommen. Und Schluß damit. Keiner wagt weiter zu fragen. Niemand besteht darauf, Ustinow vorzuladen und Aufklärung zu verlangen. Stumm geben die Parlamentarier ihre Stimmen ab. Ergebnis: einstimmig bei zwei Enthaltungen. Die ganze Prozedur hat fünf Minuten gedauert. Super.

Ustinow war nach Jelzins Machtantritt Ende 1991 schon der sechste Generalstaatsanwalt. Und der dienstälteste. Sechs Jahre lang bekleidete er sein Amt. Und konnte geschickt lavieren. Einer seiner Vorgänger, Kasannik, hatte nur 202 Tage amtiert. Jelzin feuerte ihn, weil er die Oppositionspolitiker, die im Oktober 1993 den Präsidenten von seinem Amt entbinden wollten und daraufhin verhaftet wurden, entsprechend einem Beschluß der Duma aus dem Gefängnis entlassen hatte. Ein anderer zeitweiliger Generalstaatsanwalt, Iljuschenko, landete ein Jahr nach der Ernennung hinter Gittern. Die Anklage lautete: Korruption und Machtmißbrauch. Später wurde die Untersuchung stillschweigend eingestellt, Iljuschenko erhielt einen Posten in der Moskauer Stadtverwaltung. Der Franzose Beaumarchais hatte schon Recht, als er behauptete: "Das Gesetz ist gegenüber den Starken sehr nachsichtig, aber unerbittlich gegen die Schwachen."

Die Auguren der Politszene, die von den Medien bei jeder Gelegenheit befragt werden und immer bereit sind, alles zu erklären, brauchten diesmal doch ein paar Tage zum Nachdenken. Dann aber überschütteten sie die Leser und Hörer mit ganz sicheren und - Hauptsache - glaubwürdigen Informationen. Hier sind einige analytische Schlußfolgerungen dieser Esoteriker:
Ustinow sei wegen seines plötzlich verschlechterten Gesundheitszustands zurückgetreten.

Noch nie habe Ustinow so gesund und munter gewirkt wie jetzt. Seine Suspendierung sei auf Hofintrigen zurückzuführen.

Der Generalstaatsanwalt habe einmal einen großen Fehler gemacht, als er öffentlich erklärt habe, sämtliche Machtstrukturen in Rußland seien durch und durch korrupt; das könne ihm der Kreml nicht verzeihen.

Ustinow habe zugegeben, daß die Korruption im Lande ausufere. Damit habe er sein totales Versagen und seine persönliche Schuld öffentlich zugegeben. Seine Laschheit habe den Kreml geärgert.

Er habe endlich scharf gegen die Vetternwirtschaft vorgehen wollen. Das habe viele hohe Amtsträger erschreckt. Und die hätten Putin überzeugt, den Mann in den Ruhestand zu schicken.

Mit Ustinows Rücktritt mache der Präsident den Platz für seinen eigenen Amtsnachfolger frei.
Was sich da abspiele, sei ein Machtkampf unter den Clans. Putin lasse seine Mitstreiter einander bekriegen, um selbst über den Kampf zu stehen.

Sind Sie schlauer geworden? Dann haben Sie mehr Glück als ich.